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Man muss sich das einmal vor Augen führen: hier die acht Leute (nach anderen Berechnungen sollen es 52 sein), angereist mit ihren Luxuskarossen selbstverständlich, und dort etwa dreieinhalb Milliarden Menschen, denen es am Nötigsten fehlt. In den angesichts der eklatanten Ungerechtigkeit viel zu leisen Protestschrei stimmen immerhin die Kirchen ein. Gibt die christliche Lehre eigentlich eine fundierte Grundlage für die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit her? Wir leben im Lutherjahr, deshalb schaue ich mal nach, wie der Begründer der dritten christlichen Kirche diesen Sachverhalt sah. Hat er sich überhaupt dazu geäußert? Ja, das hat er. »Von Kaufshandlung und Wucher« heißt seine Schrift von 1524. Mit der Kaufmannsregel »Ich mag meine Waar so theuer geben als ich kann« setzt er sich auseinander und fährt fort: »Das ist dem Geiz Raum gemacht und Höllen Thur und Fenster aufgetan«. Die Menschen sollen, findet er im Gegenteil, den anderen nicht übervorteilen, sie sollen auch im Wirtschaftsleben die Nächstenliebe walten lassen, so wie es die Evangelien verlangen, und Geiz, heute würden wir besser Gier sagen, lehnte er sowieso ab. Was ist denn Gier anderes als »ich frage nichts nach meinem Nähisten, hätt ich nur meinen Geiz und Gewinn voll, was gehet michs an, dass es zehnfachen Schaden thät meinem Nächsten auf einmal«. Luther war in diesen Punkten radikal, er verweigerte den Wucherern sogar die Sakramente und nannte sie »Stuhlräuber«. Ein merkwürdiges Wort, das an Deftigkeit gewinnt, wenn man erst mal weiß, was er damit gemeint hat: »Ein Wucherer ist ein schöner Dieb, der billig sollt am Galgen hangen, aber stattdessen auf einem Stuhl sitzt, daher man sie Stuhlräuber heisst.« Heute sollten wir sie Sesselräuber nennen. Ein Finanztrickser, ein Lügner in der Werbung, der zum Beispiel falsche Abgaswerte bei seinen Autos nennt, um seinen Gewinn zu steigern, wäre demnach ein Bürosesselräuber, der besser davongejagt gehörte, aber stattdessen satte Boni kassiert. Wie wäre es mit dieser Übertragung der Lutherworte? Und genau diesen würde Luther also die Taufe verweigern und das Abendmahl. Das wird sie nicht jucken, denkt man und täuscht sich darin gewaltig. Das Christentum ist immer noch in unserer Gesellschaft (in den USA sowieso) eine breit akzeptierte moralische Institution. Von ihr ausgeschlossen zu werden trifft auch die Reichen. Luther bezog sich in seiner Kritik an Gier also auf das Neue Testament mit seinem Gebot der Nächstenliebe. Das Alte Testament schildert sogar eine komplette alternative Sozialordnung, die leider viel zu selten zur Sprache kommt. »Es wird bei dir keine Armen geben, denn reichlich wird der Herr dich segnen in dem Land, das er dir geben wird«, lesen wir in 5. Mose 15,4. Das ist ein Satz, der wie gemeißelt vor uns steht. Wie kam es in Israel zu dieser unglaublichen Gewissheit von sozialer Gerechtigkeit, die so meilenweit von dem entfernt ist, was unsere heutige Gesellschaft ausmacht? Israel geht auf ein Nomadenvolk zurück, und Nomaden kennen keinen privaten Grundbesitz. Ihre Landschaft ist offen, und vor allem müssen jene Orte für alle verfügbar sein, die zum Überleben des Viehs unerlässlich sind, die Wasserstellen nämlich. Wer hier Privatbesitz beansprucht, zerstört das Leben der Gemeinschaft und vernichtet ganze Sippen. Wenn nun nomadisierende Stämme schrittweise sesshaft werden, können sie ja nicht hingehen und sagen: Dieses Land hier gehört mir und jenes dir. Vor allem dann nicht, wenn schon ein anderes Volk in dem Land lebt, die Kanaanäer nämlich. Die freilich wohnten in Städten und gaben Israel Platz auf den Feldern und Wiesen drum herum, die man sich nicht zu fruchtbar vorstellen darf, sondern die eher Halbwüsten glichen. Dieses Land wurde beim Ackerbau von Israel deshalb gleichmäßig verteilt, jeder bekam einen Anteil, welcher das war, bestimmte das Los. Und Losentscheid hieß immer Gottesurteil. Die Faustregel lautete: ein Sippenältester, ein Haus, ein Anteil an Boden. Nach sechs Jahren sollte das Land im siebten Jahre ruhen, das beugte einerseits einer Übersäuerung des Bodens vor, andererseits erinnerte es daran, wem das Land wirklich gehörte: Gott nämlich. Es wurde dann in diesem Sabbatjahr nur geerntet, was wild wuchs, jeder erntete da, wo er etwas fand. Nach sieben Sabbatjahren, also im fünfzigsten Jahr, gab es eine Einrichtung in Israel, die wohl einmalig in der Menschheitsgeschichte ist. Es folgte nämlich das Erlassjahr, auch Halljahr genannt, in dem jeder wieder zu einem gleichen Anteil an Boden kam. Halljahr hieß es deshalb, weil es mit Trompetenstößen eingeleitet wurde. Ein Nachklang dieser Einrichtung lebt übrigens weitgehend unbemerkt in unserer Sprache fort, denn die Trompetenstöße wurden mit dem Widderhorn, dem Jobel, ausgeführt, weshalb es auch Jobeljahr hieß. Aber mit diesem Begriff kann nur derjenige etwas anfangen, der die Hintergründe kennt, weshalb bei uns daraus das Jubeljahr wurde. Dies oder das, sagen manche bis heute, passiert nur alle Jubeljahre einmal. Irgendwie ist es auch schön, dass ein Instrument, das soziale Gleichheit herstellt, in einer Zeit der Spekulationen, der Finanztricksereien und Steuerhinterziehungen wenigstens noch in verballhornter Form weiterlebt. Nach fünfzig Jahren begann Israel also wieder einen Durchlauf mit sozial gleichgestellten Sippen, in dem jeder die gleichen Chancen hatte. Und weil das Land nicht den Menschen, sondern eben Gott gehörte, durfte es bei Verschuldung auch nicht verkauft werden. Nur die Anzahl der Ernten bis zum nächsten Halljahr konnte jemand, der verarmt war, veräußern, nicht das Land selber. Je länger der Zyklus dauerte, desto weniger Ernten standen ihm zu, desto geringer war der Kaufpreis. »Grund und Boden darf nicht für immer verkauft werden, denn das Land ist mein, und ihr seid Fremdlinge und Beisassen bei mir« (3. Mose 25,23). Pächter waren die Israeliten also, Pächter bei Gott, nicht Besitzer des Landes. Als sich auch in Israel durch die Einführung des Königtums ein scharfes soziales Gefälle entwickelte, traten Sozialkritiker auf, die Propheten nämlich, die in drastischen Worten die Missstände anprangerten. Mitte des achten Jahrhunderts war es zuerst der Prophet Amos, und seine Sozialkritik hat es wirklich in sich. In Samaria, der Hauptstadt des Nordreiches Israel, ist er aufgetreten. »Höret dieses Wort, ihr Basankühe auf dem Berge Samariens«, hat er gerufen, »die ihr die Geringen bedrückt und die Armen zermalmt und zu euren Männern: Schafft her, das wir saufen.« (Amos 4,1) Man muss sich dieses Wort auf der Zunge zergehen lassen. Basan war ein fruchtbarer Landstrich, die Rinder dort waren gut genährt. »Ihr fetten Kühe in euren Luxusvillen«, müsste man das frei übersetzen. Und dann erst mal die Drohung, die Amos mit seiner Sozialkritik verband! »Gott der Herr hat bei seiner Heiligkeit geschworen: Siehe, es werden Tage über euch kommen, da holt man euch heraus mit Haken und eure Brut mit Angeln.« (Amos 4,2) Wie man Schmarotzer hinter der Baumrinde hervorangelt, so sollen auch sie eines Tages aus ihren Häusern geholt werden. Ein ebenso drastischer wie unappetitlicher Vergleich. Und kurz darauf, nicht weniger drastisch, tritt Micha auf. »Wehe denen, die Arges sinnen und, wenn der Morgen tagt, es vollbringen, weil es in ihrer Macht steht. Die nach Äckern gieren und sie rauben, nach Häusern, und sie wegnehmen, die Gewalt üben an dem Mann und seinem Haus, an dem Besitzer und seinem Erbgut.« (Micha 2,1-2) Kein Zweifel, auch dies sind Sätze, die keinen Interpretationsspielraum zulassen. Ein soziales Idealbild wird also im Alten Testament entworfen, und die Sozialkritik gegen Fehlentwicklungen wird gleich mitgeliefert. Kein Zweifel, das Christentum gibt in beiden großen Büchern, dem Alten und dem Neuen Testament, fundierte Maßstäbe für eine sozial gerechte Welt. Deshalb ist der heutige Protest der Kirchen gegen soziale Ungleichheit gerechtfertigt, er ist angesichts der Missstände sogar noch zu leise.
Erschienen in Ossietzky 9/2017 |
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