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Die beiden Rechtsanwältinnen Britta Eder und Petra Dervishaj hatten auf über 200 Seiten das Material für diese Anzeige zusammengestellt. Sie warfen Erdoğan, etlichen Ministern – unter ihnen der ehemalige Premier Ahmet Davutoğlu und der damalige Innenminister Efkan Ala –, Polizisten und Militärs schwere Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. Diese sind nach deutschem Völkerstrafrecht strafbar und auch vor deutschen Gerichten zu verhandeln. Die Anzeige konzentrierte sich dabei auf die Angriffe des türkischen Militärs auf die Stadt Cizre unweit der syrischen Grenze. 178 Menschen waren während der wochenlangen Ausgangssperre in Kellern eingeschlossen gewesen. Es dauerte Wochen, ihre verbrannten Körper zu identifizieren. Ein Schicksal, welches zahlreiche Menschen in anderen Städten, wie Şırnak, Silopi, Nusaybin oder Diyarbakır ebenso ereilte. Einige Medien berichteten zwar immer wieder, doch die Politik reagierte nicht. Sie verhandelte mit der Regierung ihres NATO-Partners, die Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan nicht nach Europa durchzulassen. Menschenrechte hin, »europäische Werte« her, bei dem Ausbau der Festung Europa gegen den »Ansturm der Flüchtlinge« sind sie nur hinderlich und ohne Wert. Schon 2011 hatte MAF-DAT eine ähnliche Anzeige gegen Erdoğan eingereicht – ohne Erfolg. Doch nun hat das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte einen Bericht vorgelegt, in dem er der Türkei »massive Zerstörungen, Tötungen und zahlreiche andere schwere Menschenrechtsverletzungen« durch Armee, Polizei und Gendarmerie vorwirft – eine Bestätigung der Anzeige von MAF-DAT. Der Bericht umfasst die Zeit von Juli 2015, als Erdoğan den Dialog mit den Kurden durch den Einsatz des Militärs ersetzte, bis Dezember 2016. Obwohl Erdoğan die Kommission nicht ins Land ließ, konnte sie durch Zeugenaussagen, Angaben von Menschenrechtsorganisationen und Satellitenaufnahmen das Ausmaß der Zerstörungen und Opfer einschätzen. Von den 2000 getöteten Menschen waren 1200 Zivilisten. Zwischen 350.000 und 500.000 Personen wurden vertrieben. Sur, die historische Innenstadt von Diyarbakır und Weltkulturerbe, wurde gerade dem Erdboden gleichgemacht, um mit einem Neubau auch neue Bewohner anzusiedeln. Sur war eine Hochburg der Demokratischen Partei der Völker (HDP), das soll sich nicht wiederholen. Man fragt sich, wie es zu dieser neuen Eskalation kommen konnte? Bis ins Frühjahr 2015 hatten die Kontakte zwischen Abdullah Öcalan in seinem Gefängnis auf der Insel İmralı und Ankara gehalten – ohne sichtbare Erfolge zwar, aber immer noch mit der Hoffnung auf eine politische Lösung. Doch im April 2015 ließ Erdoğan den Dialog abbrechen und verhängte wieder die völlige Isolation über Öcalan. Er war offensichtlich zu der Einschätzung gekommen, dass ihm die Politik des Dialogs bei der Wahl im Juni 2015 nicht die erstrebte Zwei-Drittel-Mehrheit im Nationalparlament einbringen würde, sondern eher die kurdenfreundliche HDP stärke. Die HDP verhinderte mit ihren 13 Prozent dennoch bei der Wahl die verfassungsändernde Mehrheit der AKP Erdoğans und durchkreuzte dessen Pläne zur Errichtung seiner Präsidialdiktatur. Er beschloss, den Druck zu erhöhen und begann im Juli 2015 mit Angriffen vor allem gegen jene Städte und Ortschaften, in denen die HDP einen starken Rückhalt hatte. Dennoch gelang es ihm nicht, bei der erneuten Parlamentswahl im November 2015, die HDP aus dem Parlament zu drängen. Sie verlor zwar Stimmen, konnte aber die Zehn-Prozent-Hürde überspringen. Erdoğan hatte wieder sein Ziel verfehlt und setzte erneut und noch härter auf Gewalt. Die Beziehungen zwischen Türken und Kurden sind seit der Gründung der Türkei 1923 immer wieder von Gewalt, Aufständen und Krieg gekennzeichnet. Der erste Präsident Kemal Atatürk hatte alsbald nach der Staatsgründung sein vorher gegebenes Versprechen gebrochen, den Kurden, die ihm in seinem Kampf gegen Engländer und Franzosen geholfen hatten, Autonomie zu gewähren. Sein Konzept der Assimilierung bedeutete für die Kurden – immerhin circa 15 Millionen in der Türkei: Aufgabe der eigenen Sprache, Kultur und letztlich der kurdischen Identität. Alle Regierungen haben seither den Widerstand der Kurdinnen und Kurden unterschätzt, denen es jedoch nicht gelang, die Türken zu entscheidenden Zugeständnissen für Autonomie und Selbstverwaltung zu bewegen. Als die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) 1984 den bewaffneten Kampf gegen die türkische Herrschaft aufnahm, ging es noch um die Trennung vom türkischen Staat, um einen separaten kurdischen Staat. Doch schon vor seiner Gefangennahme und Isolierung auf İmralı 1999 hatte Abdullah Öcalan dieses Ziel aufgegeben und den Widerstand auf Autonomie in den Grenzen der Türkei orientiert. Aber weder der bewaffnete Kampf noch die Kontakte im Gefängnis und in Oslo zwischen Regierung und PKK führten zur Lösung des Konflikts. Im Gegenteil, denn inzwischen hatte Erdoğan eine zweite Front im Norden Syriens eröffnet. Ohne Rücksicht auf die Souveränität seines Nachbarn hat er die Grenze überschritten, um die Kurden in ihrer selbstgeschaffenen Autonomie Rojava unter seine Kontrolle zu bringen. Zu gefährlich erscheint ihm ihr Beispiel demokratischer Selbstverwaltung für »seine« Kurden, als dass er diese Entwicklung tatenlos dulden wollte. Wie skrupellos er seine Intervention in Syrien vorantreibt, zeigt die lange Unterstützung des IS, mit dem er Assad aus Damaskus vertreiben wollte. Dafür fand er wiederum die Unterstützung der USA, was ihn nicht davon abhält, nun, da es gegen den unkontrollierbaren IS geht, eine Allianz mit den Russen zu schmieden. Von diesen wiederum wird es abhängen, wie weit er gegen die Kurden in Rojava vorgehen kann. Das vorerst letzte Kapitel in der Machteskalation Erdoğans begann am 15. Juli 2016 mit dem gescheiterten Putsch einiger Militärs, den er sogleich dazu benutzte, auch die letzten Reste der schon arg ramponierten türkischen Demokratie zu beseitigen. Da seine Wut nun auch auf Journalistinnen und Journalisten keine Grenze kannte, werden wir ausführlich und ziemlich umfassend über seinen Kahlschlag unterrichtet. Der Konflikt mit den Kurden trat wieder in den Hintergrund, doch der Krieg geht weiter. Die Zahl der Opfer – Tote, Verwundete, Flüchtlinge – steigt. Erdoğans Marsch in die Diktatur scheint nicht zu stoppen. Wir scheuen uns, das Adjektiv faschistisch zu benutzen, in der Türkei hört man es immer mehr. Warum unternimmt die Bundesregierung gegen diesen Absturz ihres NATO-Partners nichts? Aus Angst vor den Flüchtlingen? Oder spielen die geostrategische Bedeutung der Türkei und der Druck der USA eine Rolle? Wahrscheinlich ist es von allem etwas, und die hohle Verlogenheit und Nutzlosigkeit der »europäischen Werte« kommt noch hinzu. Statt die türkische Regierung zur Demokratie zurückzubringen, ist die deutsche Politik ihr zu Diensten (s. Ossietzky 7/2017). Bleibt die Frage, wer ist der Terrorist? Abdullah Öcalan, seit 1999 in Isolationshaft auf İmralı und seine PKK, die ihre Kämpfer in die Kandilberge des Irak zurückgezogen hat und immer wieder Waffenstillstand anbietet oder Recep Tayyip Erdoğan, der die Gespräche im April 2015 abgebrochen hat und die kurdischen Städte und Ortschaften gnadenlos zerstört mit zahllosen zivilen Opfern? In der Schweiz ist die PKK eine legale Organisation, dort gibt es keine Zweifel daran, dass der Terror vom türkischen Staat ausgeht. Dies auch hier zu begreifen, wäre die Voraussetzung für eine deutsche Politik, die sich auf die »europäischen Werte« berufen kann.
Erschienen in Ossietzky 8/2017 |
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