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Roth redet frei, hat Zahlen, Daten, Fakten im Kopf, als er in Hannover im gut besetzten Saal des Kulturzentrums Pavillon referiert, wie die brutale Besatzungsherrschaft der Nazi-Deutschen (1941 bis 1944/45) Griechenland ruiniert und auf den Status eines »Entwicklungslandes« herabgestoßen hat. Er erinnert daran, dass er und andere Experten es gewagt haben, gegen die Austeritätspolitik, die den Griechen seit der Weltfinanzkrise von 2007 von Berlin und Brüssel diktiert wird, mit Gegenvorschlägen zu opponieren. Die dramatische wirtschaftliche und soziale Katastrophe, die die meisten Griechen nunmehr seit Jahren durchleiden, sei nur zu überwinden, so Roth, wenn die Deutschen endlich ihre tabuisierte Schuld aus der Zeit des Faschismus gegenüber den Griechen beglichen; nur dann werde ein Neustart in Griechenland möglich – und der Zerfall der EU aufzuhalten sein. Im Jahr 2015 hat Roth mit diesen Thesen eine »Flugschrift« vorgelegt (»Griechenland am Abgrund. Die deutsche Reparationsschuld«), mit der er aber gegen »die deutsche Machtelite und die von ihr kontrollierten Medien« nicht durchdringen konnte. Zusammen mit dem Politikwissenschaftler Hartmut Rübner hat Roth jetzt eindrucksvoll nachgelegt. Deutschland ist nicht Griechenland?Zwei Mythen kämpfen seit alters her miteinander: »Das Recht der Völker, ihremitgeborene Freiheit / die Macht des Markts, unsterblich wie seineGesetze.« Um diese Mythen rankt sich die TragödieGriechenlands, die Volker Braun in seinem Theaterstück »DieGriechen« verarbeitet. Unter der Regie von Manfred Karge hat esdas Berliner Ensemble jetzt uraufgeführt, zunächst auf derProbebühne, nunmehr im Hauptsaal. Braun behandelt die Krise Griechenlands seit 2001. Von der Aufnahme des Landes in dieEurozone bis zu Unterstützungsleistungen aus Brüssel. Under verbindet dies mit der klassischen griechischen Geschichte, wo vor3000 Jahren die Demokratie erfunden wurde. Dort hat sie begonnen –die Demokratie –, wird sie hier enden? Der Zuschauer erlebt dieeinzelnen Phasen des Zerfalls: Papandreous Bemühungen um einenSchuldenschnitt, den Widerstand aus Brüssel, schließlichdie Volksbefragung unter Tsipras, bei der über 62 Prozent derBevölkerung die geforderten Sparmaßnahmen der Euro-Gruppeablehnen. Erfolg der Demokratie? Es folgen zähe Verhandlungender Athener Regierung mit Brüssel, schließlich mussTsipras klein beigeben und erreicht die Verlängerung desHilfsprogramms. Die Macht des Marktes hat gesiegt – sprich dieBanken. Die Demokratie ist der Verlierer – sprich das Volk. Das Stück ist eine besondere Form von »Gegenwartstheater«, eine derlöblichen Ausnahmen in der Berliner Theaterlandschaft. Aber: DieBezüge zur gegenwärtigen politischen Situation in der Weltbleiben in der Beschreibung stecken, zeigen keinerlei Ausweg. Esverwundert auch, weshalb der von Braun vorgesehene Epilog – dergerade den Bezug zur Flüchtlingskrise herstellt – nichtzur Aufführung gelangt. Hervorzuheben sind die außerordentlichhohe sprachliche Verständlichkeit des Ensembles im Chor, dieschauspielerische Leistung von Joachim Nimtz als Papandreou und alsEurotaurus sowie von Swetlana Schönfeld als Sprecherin derPutzfrauen, des Volkes. Das Berliner Ensemble war gut beraten, im Programmheft sowohl den Textdes Stückes als auch die Arbeitsnotizen von Volker Braun zuveröffentlichen. Dies trägt zum Verständnis bei undbelegt einmal mehr das sprachliche Können des Autors. DerKlappentext enthält Zitate von Politikern aus Europa, die daraufhinweisen, was Griechenland ist. Sind aber Irland, Spanien oder Deutschland wirklich nicht Griechenland? Noch nicht! Brigitte Udke Unter dem Titel »Reparationsschuld« haben beide die »Hypotheken der deutschen Besatzungsherrschaft in Griechenland und Europa« – so der Untertitel ihres im März erschienenen Buches – umfassend analysiert. Sie skizzieren den Raub- und Vernichtungskrieg der Nazis in Griechenland und nehmen die Reparationspolitik der Alliierten, der Griechen sowie der deutschen Nachkriegsregierungen mit zahlreichen Dokumenten gut belegt aus Sicht der Opfer in den Blick: Da sind noch viele Rechnungen offen, nicht nur in Griechenland. Das liest sich fesselnd wie ein Polit-Krimi. Die präsentierten Fakten treiben jedem anständigen Menschen Zorn- und Schamesröte ins Gesicht. Dafür sorgen die in Griechenland verübten und in Deutschland weitgehend totgeschwiegenen Verbrechen genauso wie der Zynismus, mit dem alle Nachkriegsregierungen von Adenauer, über Brandt, Kohl, Schröder und Merkel bis heute die griechischen Reparationsforderungen trickreich auf Sankt Nimmerlein zu vertagen such(t)en, dabei um keinen schäbigen Winkelzug verlegen! Das macht fassungslos und zornig. Warum hat beispielsweise Joachim Gauck am 7. März 2014 bei seinem Besuch im griechischen Märtyrerdorf Lyngiades »tiefes Erschrecken und doppelte Scham« bekundet und »im Namen Deutschlands [...] um Verzeihung« gebeten, eine Bitte um »Entschuldigung« aber strikt vermieden? Dadurch hätte er rechtliche Schadensersatzansprüche begründen können, die die deutsche Reparationsbürokratie aber negiert, machen Roth und Rübner aufmerksam. Worum geht es bei den hierzulande notorisch als »Wiedergutmachung« verharmlosten Reparationen? Es geht um den universellen Anspruch auf Schadensersatzleistungen, stellen die beiden Wissenschaftler klar, die nach Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht zu erbringen sind. Diese »sind das internationale zivilrechtliche Pendant zum Völkerstrafrecht. Sie sollen die materiellen und humanitären Folgen von Angriffskriegen, Kriegsverbrechen, Menschheitsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen ausgleichen, wie sie in Kriegen, in Bürgerkriegen und bei anderen exzessiven Gewaltakten vorkommen.« An solcher Gewalt war kein Mangel, seit die Nazi-Truppen am Palmsonntag 1941 in Griechenland einfielen und das Land binnen weniger Wochen besetzten. Noch während der Kampfhandlungen wurden Kommandos zur »Beuteerfassung« in Griechenland aktiv. Anhand vorbereiteter Listen beschlagnahmten sie alles, was für die deutsche Rüstungswirtschaft und Truppenversorgung wichtig war. Das Land wurde systematisch von den Nazis und deutschen Konzernen wie AEG oder Krupp geplündert, ihm wurden maßlose Besatzungskosten inklusive einer Milliarden teuren Zwangsanleihe auferlegt. Die Folge war eine Hungerkatastrophe, der mindestens 140.000 Griechen in den Groß- und Mittelstädten zum Opfer fielen. Es begann sich aber gleichzeitig ein immer schlagkräftiger werdender linksrepublikanischer Widerstand zu entwickeln, auf den die Nazis mit bestialischen Massakern einer enthemmten Soldateska reagierten, denen allein mehr als 10.000 Menschen zum Opfer fielen. Auch wurden unter anderem 1700 griechische Dörfer zerstört; 690.000 Menschen waren am Ende der Besatzung obdachlos. Faschisten ermordeten in den Gaskammern von Auschwitz und Treblinka 59.000 der rund 72.000 griechischen Juden. Insgesamt kamen rund 330.000 griechische Zivilisten gewaltsam zu Tode. Das damals 6,9 Millionen Einwohner zählende Land hatte den Tod von 4,8 Prozent seiner Bevölkerung zu beklagen. Und den Überlebenden hinterließen die Nazis »verbrannte Erde«: Vor ihrem Rückzug zerstörten sie die griechische Infrastruktur umfassend. Auch den innergriechischen Hass, der sich im folgenden Bürgerkrieg grausam entlud, schürten die Deutschen gezielt. Der Kritik, mit der Roth nach seiner »Flugschrift« von 2015 konfrontiert worden ist, entzieht dieses Buch die Basis: Von der behaupteten Verabsolutierung angeblich zu hoher oder unberechtigter griechischer Reparationsforderungen kann keine Rede sein. Die Autoren belegen, dass die bis heute nur in Höhe von etwa einem Prozent beglichenen griechischen Forderungen in Höhe von 185 Milliarden Euro eher zu niedrig angesetzt sind. Sie zeigen: Bei der Interalliierten Reparationskonferenz von Paris 1945/46 hat Griechenland – wie etwa auch das frühere Jugoslawien – nur »am Katzentisch« gesessen. Das Abkommen, mit dem Griechenland völkerrechtlich verbindlich 7,181 Milliarden US-Dollar (Preisstand 1938) zugesprochen worden sind, ist, so urteilen beide, das Ergebnis eines »nur geringfügig abgeschwächten Diktats des anglo-amerikanischen Machtblocks und Frankreichs«. Es benachteiligte ausgerechnet die Länder, die – wie auch Griechenland – mit »am stärksten unter der deutschen Okkupation gelitten hatten«. Zudem erhielten die Deutschen im Zuge des bald heiß laufenden Kalten Krieges immer größere Reparationsrabatte. Am Ende ihrer politisch brisanten Untersuchungen machen Roth und Rübner eine eigene Rechnung auf: Mit dem »zweiten Griff nach der Weltmacht« hatten die (Nazi-)Deutschen bei ihren Opfern den gigantischen Gesamtschaden von mehr als 5,8 Billionen Euro (in Preisen von 2016) angerichtet; davon ist seit 1945 bis heute nur ein Fünftel (1,2 Billionen Euro) mit Reparationen ausgeglichen worden. Da die Gesamtsumme nicht zu bezahlen ist, sollte über die nächsten zwei Jahrzehnte hinweg im Rahmen einer den faktischen Friedensvertrag (4plus2-Vertrag) ergänzenden Reparationsakte wenigstens ein zweites Fünftel zur Schadensregulierung gezahlt werden, meinen Roth und Rübner. Mindestens aber, so ihre Minimalforderung, müssten weitere 306 Milliarden Euro Entschädigung für die bislang benachteiligten Nazi-Opfer aufgebracht werden. Das sei jene Summe, mit der »die bundesdeutsche Ministerialbürokratie die Veteranen der Wehrmacht und der Waffen-SS sowie die durch die Entnazifizierung um ihre Beamtenkarriere gebrachten NS-Funktionsträger schadlos gehalten hat«. Ob dies gegen alle machtpolitische Verdrängung gelingen wird? Roth ist »ein bisschen optimistisch«. Er verweist auf erste Erfolge der zur Zeit in New York laufenden namibische Entschädigungsklage gegen die Regierung in Berlin wegen der Kolonialmassaker des Deutschen Reichs an den Hereros und Namas; und er betont: »Im Völkerrecht gibt es keine Verjährungsfristen.« Karl Heinz Roth und Hartmut Rübner: »Reparationsschuld. Hypotheken der deutschen Besatzungsherrschaft in Griechenland und Europa«, Metropol Verlag, 645 Seiten, 29,90 € Ossietzky-Themenheft »Sündenbock Griechenland«, unter anderem mit Karl Heinz Roth: Griechenland und die Euro-Krise; Otto Köhler: Wir, die Beherrscher Europas; Mikis Theodorakis: An die empörten Bürger; Conrad Schuhler: Streicht die Schulden!; Norman Paech: Griechenland: Eine offene Rechnung; Heft 1/2013, 36 Seiten, 2,80 € zzgl. 1,50 € Versandkosten, Bezug: ossietzky@interdruck.net
Erschienen in Ossietzky 7/2017 |
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