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Die von kommunistenfeindlichen Offizieren begangenen und von der damaligen SPD-Führung gebilligten Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht werden noch in Erinnerung gehalten. Aber die unzähligen Morde an weniger bekannten Menschen, die als Kommunisten galten, sind im öffentlichen Bewusstsein vergessen. Ein Vergessen, das schon zu der Zeit, als die Verbrechen geschahen, mit Verschweigen oder Falschinformation der Öffentlichkeit begann und nach Hitlers Machtübernahme 1933 mit Bücherverbrennungen, Zensur und anderen aufklärungsfeindlichen Maßnahmen des Naziregimes nachhaltig vertieft wurde. Auch der wohl bedeutendste und neben Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky meistgehasste Kritiker der damaligen rechtbeugenden Justizpraxis, Emil Julius Gumbel, ist heute kaum noch bekannt. Wer war Emil Julius Gumbel? Als er am 10. September 1966 im Alter von 75 Jahren in New York starb, war keine bundesdeutsche Zeitung oder Zeitschrift – nicht einmal der sozialdemokratische Vorwärts – bereit, einen Nachruf zu veröffentlichen. Ein Mann, der während der Weimarer Republik unermüdlich die Symptome des herannahenden Hitlerfaschismus öffentlich gebrandmarkt hatte, dem die Lehrberechtigung an der Universität Heidelberg schon vor Hitlers Machtübernahme entzogen wurde, dessen Bücher am 17. Mai 1933 bei der Heidelberger Bücherverbrennung ins Feuer flogen, war in Vergessenheit geraten. Gumbel, der sich auf seinem eigentlichen Fachgebiet, der mathematischen Statistik, einen internationalen Ruf erwerben konnte, war als politischer Kämpfer gegen Klassenjustiz, gegen den Terror der Freikorps, der schwarzen Reichswehr, der Organisation Consul und anderer geheimer oder legaler Mörder- und Verschwörerbanden, ein Unbekannter geworden. So unbekannt, dass es mir, als ich ihn 1965 persönlich kennengelernt hatte, nicht gelang, den Hamburger SDS oder andere Studentengruppen für eine Veranstaltung mit Gumbel zum Thema »Politische Justiz 1918 bis 1933« zu interessieren. Der »Fall Gumbel« hatte in der deutschen Universitätslandschaft der Weimarer Republik jahrelang die Gemüter beunruhigt. Anlass zu dem Berufsverbot gegen Gumbel war eine Äußerung in einer internen Versammlung der Sozialistischen Studentengruppe Heidelberg: »Für mich ist das Denkmal des Krieges nicht eine leicht bekleidete Jungfrau mit einer Siegespalme in der Hand, sondern die Schrecken und Leiden des Krieges werden viel besser durch eine Kohlrübe verkörpert.« Gemeint war das Symbol für die Hungersnot im Kriegswinter 1916/17, der im Gedächtnis meiner Elterngeneration als der »Kohlrübenwinter« fortlebte. Das Kultus- und Unterrichtsministerium befand: »Mit der getanen Äußerung hat Professor Gumbel aufs neue bewiesen, dass er nicht imstande ist, eine Verletzung von heilig zu haltenden Empfindungen zu vermeiden.« Zu Gumbels »Vortaten« gehörte die Veröffentlichung des Buches »Verschwörer«, die zu einem später eingestellten Landesverratsverfahren geführt hatte, weil er auch über die schwarze Reichswehr und deren Untaten berichtet hatte, die Existenz dieser Truppe aber zum Wohle des Vaterlandes geheim gehalten werden musste. Gumbel begann die aufsehenerregende Serie seiner Bücher über den militanten Terrorismus in der Weimarer Republik mit »Zwei Jahre Mord« (1921), später erweitert zu »Vier Jahre Mord« (1924), einer akribisch genauen Zusammenstellung der in den ersten Nachkriegsjahren begangenen politischen Morde. Gumbels oft zitierte Justizstatistik veranschaulichte zum ersten Mal die politisch motivierte Rechts-Links-Ungleichheit der Urteilspraxis, die bis in unsere Tage Tradition geblieben ist. Das Buch hatte er an das Reichsjustizministerium übersandt, das Äußerungen der Justizverwaltungen von Preußen, Bayern und Mecklenburg einholte, die Gumbels Darstellung Seite für Seite im Wesentlichen bestätigten. Doch kam es nicht zu der sonst üblichen amtlichen Veröffentlichung der nur in einem Exemplar vorhandenen Denkschrift als Reichstagsdrucksache, und zwar wegen der »ungeheuren Kosten und der gebotenen Sparsamkeit«, wie es in der amtlichen Begründung hieß. Gumbel ließ daraufhin eine Abschrift auf seine Kosten anfertigen und veröffentlichte diese sensationelle Dokumentation des Unrechts im Mai 1924. Die Denkschrift enthielt auch eine Darstellung des Mechterstädter Arbeitermords, über den es jetzt eine umfassende, gründlich recherchierte Buchveröffentlichung von Dietrich Heither und Adelheid Schulze gibt (s. Ossietzky 12/2016). 1929 veröffentlichte Gumbel eine weitere justizkritische Darstellung der politischen Morde während der Weimarer Republik, besonders der Fememorde der schwarzen Reichswehr unter dem Titel »Verräter verfallen der Feme«. 1932 folgte die Broschüre »Lasst Köpfe rollen« und 1962 das Buch »Vom Fememord zur Reichskanzlei.« Gumbel ließ sich auch durch zeitweilige Mitgliedschaft in USPD und SPD nicht in der Unabhängigkeit seines politischen Urteils und in seiner Wahrheitsliebe korrumpieren. Er blieb selbständig denkender Sozialist und kritisch solidarischer »Sympathisant« der Sowjetunion (vgl. Weltbühne 1927 II, 861; 1932 I, 400, 513, 591). Seine jüdische Abstammung setzte ihn antisemitischen Anfeindungen aus. Seine von der Mehrheit nicht geteilten politischen Meinungsäußerungen führten dazu, dass seine Schriften in den Bibliotheken »separiert« wurden. Nachdem Gumbel im Jahr 1932 die Lehrbefugnis entzogen worden war und ihm damit die materielle Lebensgrundlage in Deutschland fehlte, war er schon vor Hitlers Machtübernahme zur Emigration gezwungen, zumal er ständig um sein Leben fürchten musste. Gumbel ging zunächst nach Frankreich und hielt dort Gastvorlesungen in Lyon und Paris. Als 1940 die deutsche Wehrmacht in Frankreich einfiel, flüchtete er weiter in die USA, wo er ebenfalls Gastvorlesungen auf seinem Fachgebiet hielt. Gumbel klagte zu einer Zeit Verbrechen öffentlich an, als das lebensgefährlich war, das zeichnet ihn als einen frühen Widerstandskämpfer gegen den herannahenden Hitler-Faschismus aus. Als dann die Zeit gekommen war, in der die überwältigende Mehrheit der Deutschen sich nur mit Kollektivscham an ihr angepasstes Verhalten erinnern konnte, wäre eine bewusste Rehabilitierung der Widerstandskämpfer angezeigt gewesen. Aber das Gegenteil war der Fall. Es begann das große Vergessen. Als Gumbel nach dem Ende der Naziherrschaft, zwei Jahrzehnte nach dem Verlust seines Lehramts erstmalig wieder an einer deutschen Universität (Westberlin, 1953–1956) Gastvorlesungen hielt, machte er die Erfahrung, dass ihn niemand mehr kannte. Er fand es erschreckend, dass seine Zuhörer nichts von der mörderischen Vorgeschichte der Naziherrschaft und der schändlichen Rolle der Justiz in der Weimarer Republik wussten. Umso mehr freute es ihn, von dem Buchprojekt »Politische Justiz 1918–1933« zu erfahren, an dem ich zusammen mit Elisabeth Hannover-Drück in den 1960er Jahren arbeitete. Wir korrespondierten mit Gumbel und verabredeten ein Treffen im Schwarzwald. Dort lernten wir uns im Sommer 1965 persönlich kennen, lasen und diskutierten das in der Entstehung begriffene Manuskript. Gumbel beeindruckte mich als exzellenter Kenner der betrüblichen deutschen Justizgeschichte. Und ich verdanke ihm viel für meine eigene sozialkritische Entwicklung. Das Erscheinen des Buches »Politische Justiz 1918–1933« zur Frankfurter Buchmesse 1966 hat er leider nicht mehr erlebt. Man muss die von reaktionären Juristen und Volksverhetzern wohlwollend begleiteten Gewaltverbrechen in der Zeit der Weimarer Republik kennen, um zu begreifen, dass der Hitlerfaschismus nicht über Nacht gekommen und auch nicht über Nacht verschwunden ist. Und man muss von diesem Stück vergessener Geschichte wissen, um hellhörig zu werden, wenn wieder Morde und andere Gewalttaten begangen werden, deren wirkliche Täter und Urheber infolge einer geheimnisvoll verschleiernden Informationsmanipulation und dank nur bedingt an Aufklärung interessierter Behörden und Gerichte unbestraft bleiben. Freilich ist die einst übliche Schutzbehauptung der Täter, sie hätten ihre Opfer »auf der Flucht erschossen« zu verbraucht, um noch geglaubt zu werden. Heute praktiziert man andere Irreführungen der Öffentlichkeit. Gern bedient man sich der These, dass die Getöteten Selbstmord begangen hätten. Oder man schiebt bestimmte Todesfälle einer nicht mehr existierenden Terrororganisation in die Schuhe. Zu empfehlen ist die Lektüre des Buches »Das RAF-Phantom« von Gerhard Wisnewski und anderen, das einen atemberaubenden Indizienbeweis dafür entwickelt, dass die Morde an Rohwedder und Herrhausen nicht von der RAF, sondern von Tätern aus dem Staatsapparat begangen worden seien. Was den Mord an Herrhausen betrifft, sind wesentliche Indizien, die eine Täterschaft der RAF widerlegen, inzwischen auch durch Hans Leyendecker in der Süddeutschen Zeitung dargelegt worden. Es scheint also auch heute Wahrheiten zu geben, die mühsam umschifft werden müssen, weil ihre Offenbarung nicht ungefährlich ist. Vielleicht erklärt sich daraus auch die lange Dauer des Prozesses gegen Beate Zschäpe. Aber das ist ein anderes Thema, das ich jetzt nicht vertiefen möchte. Es ist ja auch manches anders als zu Gumbels Zeiten. So werden Menschen, die den Mut haben, gegen staatliche Verbrechen zu opponieren und sie ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen, zwar noch als »Verräter« diffamiert, aber nicht mehr durch Femegerichte oder studentische Mordbuben hingerichtet. Aber ungeschoren bleiben sie auch heute nicht. Es ist dabei geblieben, dass sie versuchen müssen, sich vor dem Gefängnis durch Flucht in asylgewährende Staaten zu retten. Historische Parallelen können lehrreich sein. So sollte man sich daran erinnern, dass nicht erst Edward Snowden, sondern schon Emil Julius Gumbel ins Exil flüchten musste. Gekürzte Fassung eines Vortrags im Rahmen der Marxistischen Abendschule, Bremen, 26. Januar 2017, bei dem auch das 2016 im PapyRossa-Verlag erschienene Buch von Dietrich Heither »Ich wusste, was ich tat. Emil Julius Gumbel und der rechte Terror in der Weimarer Republik« vorgestellt wurde.
Erschienen in Ossietzky 6/2017 |
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