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Auf den wie immer beim Schaulaufen der Stars von den Fans umlagerten Teppich schaffte sie es allerdings nicht, und den Gourmets im stets ausverkauften Spiegelzelt neben dem Gropiusbau ging es vor allem um das zu den vorgeführten Filmen über Essen und Trinken passende Dinner. Ich dachte wie bei den beliebten Kochsendungen des Fernsehens allerdings an die zunehmende Armut, die Menschen zwingt, sich bei der Tafel anzustellen. Sich für den Berlinale-Beitrag »The Dinner« von Oren Moverman – einziger US-Konkurrent im Wettbewerb – anzustellen lohnte dagegen nicht. Eingeladen hat Stan, gewiefter Politiker mit Ambitionen auf den Gouverneursposten. Sein Bruder Paul, missmutig gescheiterter Ex-Lehrer, folgt nur widerwillig. Ihre Streitereien, bei denen die Ehefrauen unterschiedlich Partei ergreifen, ermüden samt Rückblenden, bis es schließlich um eine moralische Frage geht: Wie auf das Verbrechen beider Söhne reagieren, die aus lauter Übermut eine obdachlose Frau angezündet haben. Dies erinnert an die vergangene Weihnachten in Berlin begangene gleiche Tat einiger Jugendlicher. Aber noch einmal zu Kulinarischem. Wie »The Dinner« langweilte mich zunehmend auch »Mr. Long« aus Taiwan. Ein Auftragskiller wandelt sich da zu einem begehrten Nudelkoch. Und in »Toivon tuolla puolen« (Die andere Seite der Hoffnung) kehrt ein Handelsvertreter für Krawatten und Herrenhemden seinem Job und der mürrischen Frau den Rücken, um mit seinem Glücksspielgewinn ein heruntergekommenes Restaurant im letzten Winkel von Helsinki zu kaufen. Mal mit Sushi, mal mit Fleischbällchen buhlt er um die spärliche Kundschaft. Dabei hilft ihm der im Hinterhof der Gaststätte aufgelesene illegale Flüchtling Khaled aus Aleppo. Dessen parallele Geschichte, die ein freundliches Finnland vorführt, interessiert mehr, kam mir aber ein bisschen wie ein aktuelles Alibi für einen halb als Märchen, halb als Komödie inszenierten Film vor, zu dem dann auch das Happyend passt: Nachdem Khaled als Flüchtling bei Behördenterminen immer angegeben hat, dass er seine Schwester suche, sitzt selbige im stummen Schlussbild neben ihm am Tisch. Von Aki Kaurismäki hatte ich Überzeugenderes erwartet. Für den von Festivalchef Dieter Kosslick versprochenen Humor sorgte der Wiener Kabarettist Josef Hader mit seinem Regiedebüt »Wilde Maus«. Selbstverständlich gibt es darin keine Maus, schon gar keine wilde. Es ist der Name einer Achterbahn im Prater, die symbolisch für das Auf und Ab des Lebens stehen könnte. Protagonist Georg erlebt gerade ein Ab. Als Musikkritiker einer angesehenen Zeitung wird er von deren Chef gefeuert. Eigentlich eine Möglichkeit kritischer Auseinandersetzung mit der Lage von Journalisten im heutigen Pressegewerbe, aber für Georg Ausgangspunkt für einen pointenreichen Rachefeldzug. Humorvoll auch »The Party« von der 67-jährigen englischen Autorin und Regisseurin Sally Potter. Mit Freunden will die Gastgeberin ihre gerade erfolgte Ernennung zur Gesundheitsministerin feiern, aber dann kommen bei dieser Gelegenheit lauter gegenseitig bisher verheimlichte Geheimnisse von Untreue ans Licht. Ein postfeministisches Sittenbild voller schwarzem Humor. Mit 71 Minuten übrigens der kürzeste Wettbewerbsbeitrag. Die längsten Filme liefen in den Nebenreihen. Im »Panorama« lieferte der kanadische Regisseur Sylvain L'Espérance in seiner Langzeit-Dokumentation »Combat au bout de la nuit« 285 Minuten mit Demonstrationen und Interviews Eindrücke von der gerade wieder in die Schlagzeilen geratenen Krise Griechenlands. Und im »Forum« vermittelte Ma Li in »Qiu« 280 Minuten lang ein beklemmendes Bild vom in mehr als einem Jahr gedrehten Alltag in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik im Norden Chinas. Unerwartet dagegen der Eindruck vom Alltag einer neuen jungen Generation dieses Landes: Mit viel Sex und einer Dreierbeziehung der Film »Bing Lang Xue« (Der Geschmack der Betelnuss) von Hu Jia. Anders als die gewohnten Fernsehhäppchen vom Krieg zeigte die Weltpremiere der belgisch-französischen Koproduktion »Insyriated« von Philippe Van Leeuw die klaustrophobische Situation einer Durchschnittsfamilie inmitten der dröhnenden Bomben und angesichts der Scharfschützen auf den Dächern in Damaskus. Es sind die Einblicke in fremde Welten, die das Programm der Berlinale jenseits des von Hollywood dominierten Kinoalltags verdienstvoll machen, wenn es auch Überflüssiges enthält. Warum lief – zwar außer Konkurrenz – im Wettbewerb der schon im Kino angelaufene dritte Spielfilm über die Marvel-Comic-Figur Wolverine mit den üblichen Gewaltorgien? Vom Titelheld selbst mit seiner inflationär gebrauchten Lieblingsvokabel »Scheiße« charakterisiert. Aber schließen wir mit etwas Positivem. Zwei Literaturadaptionen. Während mich Volker Schlöndorffs Beitrag »Return to Montauk« – eine Verfilmung der Erzählung »Montauk« seines Freundes Max Frisch, in die er, wie er bekannte, viel von seiner eigenen Biografie einbrachte – leider etwas unbefriedigt ließ, ist es Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase und Regisseur Matti Geschonneck rundum gelungen, Eugen Ruges Epochenroman »In Zeiten des abnehmenden Lichts« in der an einem Abend reflektierten Geschichte von vier Generationen einer Familie zu komprimieren. Obwohl an diesem Abend der 90. Geburtstag des Altkommunisten Wilhelm Powileit (wie auch in der »Party« hervorragend Bruno Ganz) ausgerechnet im Oktober 1989 gefeiert wird, gibt es keinen Hinweis, dass es gerade mit der DDR, die doch für alle Versammelten ihr Leben bedeutete, zu Ende geht – außer dass der Enkel des Jubilars gerade in den Westen gegangen ist. Geradlinig war keine Biografie der Familie. Der Widerstandskämpfer Powileit hatte wie alle »Westemigranten« anfangs Schwierigkeiten bei der Rückkehr aus dem Exil in Mexiko und ist jetzt ein beinharter Stalinist. Sein Sohn (Sylvester Groth), der als angepasster Wissenschaftler an einer Geschichte der Arbeiterbewegung schreibt, hatte Jahre in einem sowjetischen Gulag verbracht, und seine von dort mitgebrachte russische Frau entpuppt sich als Alkoholikerin. Die dichte Atomsphäre des Films und seine hervorragenden Darsteller mit der Gratulationscour von etablierten Genossen bis zu Jungen Pionieren machten diesen Beitrag der »Special«-Reihe für mich zu einem Höhepunkt der 67. Berlinale. Einen Bogen von der melancholischen Endzeitparabel zu den Anfängen der gescheiterten Utopie schlug Raoul Pecks Biopic »Der junge Karl Marx«. Nimmt man dazu noch den Eröffnungsfilm »Django« von Etienne Comar, in dessen Mittelpunkt vor dem Hintergrund der Verfolgung der Roma und Sinti durch die Nazis die Gipsy-Swing-Legende Django Reinhardt steht und der Überlebenskampf des Gitarristen unter der deutschen Besatzung von Paris, dann kann man der Berlinale sogar Verdienste um einen Nachhilfeunterricht in Geschichte bescheinigen. 335.000 verkaufte Eintrittskarten sind als Erfolgsbilanz zu verbuchen.
Erschienen in Ossietzky 5/2017 |
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