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Niedersachsen will die Betroffenen jetzt endlich rehabilitieren; eine bundesweit bislang beispiellose Initiative. »Der Staat hat die Meinungsfreiheit, die er doch eigentlich schützen sollte, aktiv gebrochen und dabei das Leben vieler Menschen einfach mal so aus der Bahn geworfen«, begründete der SPD-Landtagsabgeordnete Bernd Lynack den Vorstoß von SPD und Grünen, dieses »unrühmliche Kapitel« endlich aufzuarbeiten. Mit diesem Ziel hat Niedersachsens Landesregierung jetzt gegen den Widerstand von CDU und FDP die Gewerkschafterin und frühere SPD-Landtagsabgeordnete Jutta Rübke aus Hildesheim als ehrenamtliche Regierungsbeauftragte eingesetzt. Sie soll, so ihr Auftrag, die »Schicksale der von den niedersächsischen Berufsverboten betroffenen Personen« und die »Möglichkeiten ihrer politischen und gesellschaftlichen Rehabilitierung« klären. Am 31. Januar hat sie ihre Arbeit begonnen, drei Tage nach dem 45. Jahrestag des »Radikalenerlasses«. Mit dieser Verwaltungsanordnung aller Ministerpräsidenten hatte die Bonner Republik 1972 die Jagd auf vermeintliche »Verfassungsfeinde« im öffentlichen Dienst eröffnet. Eine gigantische Gesinnungsschnüffelei begann: 3,5 Millionen Menschen wurden seitdem durch den Inlandsgeheimdienst »Verfassungsschutz« bespitzelt und überprüft. Es hat 11.000 Berufsverbotsverfahren gegeben, etwa 1500 Menschen haben dadurch ihre materielle Existenz verloren. Etliche leben deshalb heute wie etwa der studierte Lehrer Hubert B. oder die promovierte Kunsthistorikerin Gabriele S. mit wenigen hundert Euro Rente in Altersarmut. Auch Studienrat Günther, der Anfang 1976 nach nur zwei Tagen aus dem Schuldienst entfernt worden war und dessen Ehe darüber in die Brüche ging, musste sich lange als LKW-Fahrer und mit Volkshochschulkursen durchschlagen. Selbst Unterricht an einer privaten Berufsschule wollte ihm der Staat verwehren. Typisch ist, dass ihm nie konkrete grundgesetzwidrige Taten vorgeworfen wurden. Um ihn zum Extremisten zu stempeln, reichten bis zu seinem erfolgreichen Wiedereinstellungsverfahren vor dem Oberverwaltungsgericht drei Vorgänge: Er hatte für den Marxistischen Studentenbund zum Studentenparlament kandidiert, die DKP-Hochschulgruppe hatte dem »Genossen Rolf Günther« per Annonce zur Hochzeit gratuliert, und er hatte sich mit einem Aufruf für »Freiheit im Beruf, Demokratie im Betrieb« engagiert. Formell richtete sich der Erlass gegen »Links- und Rechtsextremisten«. Zielstrebig getroffen wurden aber Mitglieder der DKP und anderer sozialistischer Organisationen, Antifaschisten, parteilose Linke, Gewerkschafter, Aktivisten der Friedensbewegung. Auch das SPD-Parteibuch bot keinen Schutz. Betroffen waren Lehrer, Hochschullehrer, Ärzte, Juristen, Ingenieure, Sozialarbeiter, Krankenpfleger, Briefträger, Lokomotivführer und sogar Köche und Lagerarbeiter. Wie viele engagierte junge Menschen sich aus Angst um ihre Zukunftschancen einschüchtern ließen, lässt sich kaum beziffern. Mit Blick auf die vielen unbehelligten Nazi-Verbrecher im westdeutschen Staatsdienst urteilte jetzt der SPD-Landtagsabgeordnete Michael Höntsch: »Die SS war kein Problem, der SDS schon.« Laut Bundesregierung hat es nie Berufsverbote gegeben. Auch das Bundesverfassungsgericht hatte nichts auszusetzen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aber entschied im Verfahren der Beamtin Dorothea Vogt aus Jever, die wegen ihrer Kandidatur für die DKP bei allgemeinen Wahlen aus dem Dienst entfernt worden war, dass diese Maßregelung illegal war. »Systemkritische und missliebige Organisationen und Personen wurden an den Rand der Legalität gedrängt, die Ausübung von Grundrechten wie der Meinungs-, Organisations- und Versammlungsfreiheit wurde behindert, bedroht und bestraft«, heißt es in der vom Niedersächsischen Landtag verabschiedeten Entschließung. Bis weit in die 1980er Jahre habe »die Jagd auf vermeintliche ›Radikale‹ das politische Klima vergiftet«: »Statt Zivilcourage und politisches Engagement zu fördern, wurde Duckmäusertum erzeugt und Einschüchterung praktiziert.« Ohne die jahrelange Arbeit der »Initiative gegen Berufsverbote« wäre diese Entschließung wohl nie entstanden. Deshalb war es folgerichtig, dass die Regierungsbeauftragte ihr erstes Arbeitsgespräch mit dieser Gruppe führte. Die Initiative vernetzt Betroffene bundesweit. Unter der Federführung der beiden Pädagogen Cornelia Booß-Ziegling und Matthias Wietzer müht sich die Gruppe mit wachsendem Erfolg, über das »Unrecht« (Rübke) aufzuklären. Mehrere tausend Besucher im In- und Ausland haben bereits die von der Initiative konzipierte Wanderausstellung »›Vergessene‹ Geschichte – Berufsverbote. Politische Verfolgung in der Bundesrepublik Deutschland« gesehen. Diese Ausstellung, die zur Zeit im DGB-Haus in Stuttgart und ab 21. Februar auch im Kulturzentrum »Fabrik K 14« in Oberhausen zu sehen ist, stellt den »Radikalenerlass« in die reaktionäre Tradition der »Karlsbader Beschlüsse« von 1819 gegen »revolutionäre Umtriebe, demagogische Verbindungen und geistige Vorbereitungen des Umsturzes« und des »Sozialistengesetzes« von 1878. Zu den Forderungen der Initiative gehört auch ein Aspekt, der im Landtagsbeschluss fehlt: Nicht nur moralisch und rechtlich seien die Leidtragenden des Erlasses zu rehabilitieren, auch materiell für die erlittenen Benachteiligungen. Das fordern auch die Gewerkschaften. In einer Stellungnahme des DGB-Bezirks Niedersachsen- Bremen-Sachsen-Anhalt an den Landtag heißt es, Niedersachsen solle einen »Entschädigungsfonds« finanzieren, um beispielsweise erlittene Einbußen bei Renten und Pensionen auszugleichen. Ob Rübke, die weisungsfrei und mit wissenschaftlicher Begleitung arbeitet, auch dazu Vorschläge machen wird, ist offen. Im Dezember will sie ihren Bericht vorlegen. Wenigstens eine »Härtefallregelung« müsse es geben, meint Rolf Günther. Ihn überfällt manchmal ein »Gefühl der Angst«, »weil ich weiß, wie schnell es geht, dass man außerhalb des Rechts gestellt wird«. Infos zu Ausstellungsterminen: www.berufsverbote.de/index.php/Ausstellung-Vergessene-Geschichte.html
Erschienen in Ossietzky 4/2017 |
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