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Der Skandal als vorlauter BoteSo hat Hannes Heer eine achtteilige Veranstaltungsreihe benannt, in deren Verlauf er bis Oktober 2017 »die großen deutschen Geschichtsdebatten als Selbstaufklärung und Schuldaneignung der Gesellschaft« behandeln will. Die Themen reichen von Hochhuths Drama »Der Stellvertreter« über die Wehrmachtsausstellung bis zur Fernsehserie »Holocaust«. Es wird jeweils Vorträge und Film(ausschnitt)e geben. Veranstaltungsort ist das Hamburger Kino »Abaton« (www.gew-hamburg.de/themen/gew/veranstaltungsreihe-der-skandal-als-vorlauter-bote). Am 15. Januar begann Heer die Reihe mit dem Film »Nacht und Nebel« (der deutschen Fassung von »Nuit et brouillard«, 1955), um den die Adenauer-Regierung einen Skandal entfacht hatte. Hannes Heer informierte nach der Aufführung über Produktion und zeitgenössische Wirkung des Streifens: Mit »Nacht und Nebel« legte der französische Regisseur Alain Resnais den ersten westeuropäischen Film vor, der die KZs und Vernichtungslager der Faschisten thematisierte. Der Titel bezieht sich auf den »Nacht- und-Nebel-Erlass« vom Dezember 1941, der Widerstand gegen die deutsche Besatzung mit Deportation »bei Nacht und Nebel« bestrafte. Hanns Eisler schrieb die Filmmusik, die deutsche Übersetzung stammt von Paul Celan. Der Regisseur nutzte schwarz-weißes Dokumentationsmaterial, um in der ansonsten in Farbe gedrehten Produktion Vergangenheit und Gegenwart zu kontrastieren. Der Film war 1956 für die Festspiele von Cannes nominiert worden. Mit dem Argument, der Streifen behindere die Aussöhnung von Deutschen und Franzosen, erreichte die Adenauer-Regierung, dass das französische Auswahlkomitee »Nacht und Nebel« von seiner Vorschlagsliste nahm. Weltweite Proteste erreichten immerhin, dass der Film im April 1956 doch in Cannes aufgeführt wurde – allerdings außerhalb des Programms). Auch bei der Produktion der deutschen Fassung machte die Adenauer-Regierung Schwierigkeiten. Sie wollte die Synchronisation in die eigene Hand bekommen. Der Grund: Die Namen deutscher Firmen, die mit den Verbrechen der Faschisten verbunden waren, sollten nicht genannt werden. Diese Bedingung wurde von französischer Seite nicht akzeptiert, genauso wenig wie die Musik von Hanns Eisler entfernt wurde, den die deutsche Seite als Kommunisten ablehnte. Die Aufführungen in der BRD unterlagen strenger Reglementierung. Der Film wurde von der Bundeszentrale für Heimatdienst zu nichtkommerziellen Zwecken verliehen, erreichte jedoch eine Langzeitwirkung, wenn auch mit Verzögerung. Im Flyer zu der Veranstaltungsreihe schreibt Hannes Heer: »Das jugendliche Publikum dieser von Geheimnis und Verbot umwitterten Vorführungen wurde später zu einer der Keimzellen der 1968er Bewegung.« Das Thema der verzögerten Wirkung kam im Zusammenhang mit einem Beitrag einer Zuschauerin in den Blick: Sie vertrat die Meinung, da der Film schwer zu ertragen sei, produziere er Distanzierung von seinem Inhalt; der Fernsehfilm »Die Bertinis« oder die US-Serie »Holocaust« hätten mehr Aufmerksamkeit für das Thema erzeugt. Dem stimmte Heer zu. Damit war die Brücke zu späteren Vorträgen geschlagen. Das Publikum hatte zwei lehrreiche und erschütternde Stunden erlebt. Lothar Zieske QualitätslügenUnter der Überschrift »Unglaubliche Dichte an Lügen« räumt in der Leipziger Volkszeitung ein so bezeichneter »Lügenforscher« den Lügen von Politikern eine besondere Qualität ein. »Zunächst einmal«, führt er aus, »muss die Politikerlüge von den plumpen und gemeinen Lügen abgegrenzt werden«, bei denen man absichtlich und voller Eigennutz die Unwahrheit sage. Unter einer Politikerlüge versteht der Wissenschaftler »die Versprechen und die Ankündigungen, die für den Wahlkampf und die darauf basierende Kampagne genutzt werden und die nicht der Wahrheit entsprechen oder einer Grundlage entbehren.« Definiere man die Lüge eines Politikers in dieser Hinsicht, könne man klar sagen, »dass wir jetzt vor der Bundestagswahl mit einer unglaublichen Dichte solcher Lügen zu tun haben«. Das hat man nun davon, dass die Abgeordneten laut Grundgesetz »nur ihrem Gewissen unterworfen« sind. Günter Krone Staatssekretäre sind auch wichtigWenn ich von Andrej Holm lese, denke ich: Ja, mit Staatssekretären kann man nicht vorsichtig genug sein. Heinz Buschkowsky (SPD), von 2001 bis 2015 Bezirksbürgermeister in Neukölln, wurde von zahlreichen Zeitungen zu den Vorgängen mit dem Satz zitiert: »Es war ein Akt der politischen Hygiene unseres Berlins.« Ich denke darüber nach – und schaue nach, sogar auf Bundesebene. Adenauers Staatsekretär war Hans Globke, 14 Jahre lang »der zweite Mann im Staat«. Er war davor ein Miterfinder der Nürnberger Rassengesetze gewesen und hatte auch das Gesetz über die Änderung von Familiennamen und Vornamen vom 5. Januar 1938 verfasst, nach dem Juden ihrem eigenen einen zweiten Vornamen hinzufügen mussten: Sara beziehungsweise Israel. Doch Adenauer meinte, es wäre höchste Zeit mit dem Schnüffeln nach Nazis aufzuhören, sonst wüsste keiner wo das endet. Ludger Westrick, Globkes Nachfolger im Kabinett von Ludwig Erhard, war nur wenige Jahre davor Chef des größten Aluminiumunternehmens in Nazi-Deutschland gewesen. 75 Prozent seiner Arbeiter waren hungernde Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter. Von Goering wurde er zum Wehrwirtschaftsführer ernannt. Erhards Staatssekretär Friedrich Karl Vialon war in Riga für das Registrieren der Kleidung, Möbel und Wertgegenstände von 120.000 Juden zuständig gewesen. In einem Nachkriegsprozess (bei dem er unbeschadet davonkam) leugnete er emphatisch, dass er irgendetwas von der Ermordung von Juden gewusst hätte. Zu Kanzler Erhards Zeiten hatten von 20 Staatssekretären 13 gute Posten in der Nazizeit gehabt. Auf der höheren Stufe der Kabinettsminister waren zehn von 21 in der NSDAP gewesen. Wenn man von »politischer Hygiene« spricht, darf man sich fragen, wie es Willy Brandt als Vizekanzler mit dem Alt-Nazi und Goebbels-Kollaborateur, Kanzler Kurt Georg Kiesinger, aushielt oder mit den zwölf früheren NSDAP-Mitgliedern in seinem eigenen Kabinett? Ein ähnliches Bild ließe sich im Bereich der damaligen Diplomaten, Polizeichefs, Geheimdienstler, Richter, Staatsanwälte, Professoren. zeichnen. Auch Außenminister Genscher und drei Bundespräsidenten, Carstens, Lübke, Scheel, waren NSDAP-Mitglieder gewesen, so bestätigten zumindest 1994 Quellen aus den USA. Aber halt! Bestimmt taten die meisten nichts Böses. Und mehrere wurden Nazi-Mitglieder in unreifen Jahren, mit 17 oder 18. Das war gewiss entschuldbar – damals. Oder wie weit erstreckt sich die »politische Hygiene«? Bis heute? Und wer kann denn aktuell wissen, wer damals welche Kreuzchen an der Stelle machte, wo es um NSDAP oder SS ging – oder auch keine Kreuzchen? Doch wenn man die unvergesslichen Ungeheuerlichkeiten des ostdeutschen Unrechtsstaates mit jenen doch fast vergessenen Unschönheiten in der Zeit des Faschismus vergleicht, dann weiß man doch, bei welchen man auch nach 27 Jahren besonders vorsichtig und mitunter auch streng sein muss! Es geht ja um Hygiene! Victor Grossman PS: Als ich während des Koreakriegs in die US-Armee eingezogen wurde, musste ich einen Fragebogen ausfüllen und unterschreiben. Auf dem Formular war auch anzugeben, ob man jemals einer linken Organisation angehört hatte. Ich verschwieg meine Mitgliedschaften, wobei es bestimmt ein Dutzend waren. Meineid! Sollte ich mir das Leben wegen des ungerechten Klimas des Kalten Krieges verderben? Ich wurde erwischt, habe aber nie ein schlechtes Gewissen wegen meiner fehlenden Kreuzchen verspürt – und war dankbar, dass nach etlichen Jahren die US Army bereit war, die Sache zu vergessen und mich ohne Schaden entließ. So gnädig können aber nicht alle sein! Wo kämen wir hin? V. G. Bewaffnete PlündererDie Schreckensbilder von Gräueltaten islamistischer Milizen im nahöstlichen Bürgerkriegsgebiet tauchten monatelang in fast jeder Nachrichtensendung auf. Inzwischen ist die Medienkarawane weitergezogen, aber Banden bewaffneter Plünderer sind nach wie vor aktiv. Der Historiker und Vorderasien-experte Werner Ruf hat in seinem kürzlich erschienenen Buch »Der islamische Staat & Co.« die Entstehung arabischer Nationalstaaten untersucht und weist nach, dass stockreaktionäre Monarchien zumeist treue Verbündete des Westens waren. Die Ursache für die Kette von Revolten, die unlängst den Nahen Osten und Nordafrika erschütterten, sieht er im Elend der Bevölkerung. Der nachfolgende Aufschwung des Islamismus ist für ihn ein »geschicktes, aber zugleich verzweifeltes Manöver des Westens«. Dass Teile der militanten Islamisten sich dann gegen ihre Förderer wandten, sei vorausschaubar gewesen. Ruf konzentriert sich auf die politische Sphäre; Ökonomie kommt bei ihm nur am Rande vor. Immerhin beschreibt er den syrischen Bürgerkrieg als einen Konflikt um die Beherrschung von Transitrouten für billiges Erdöl und Erdgas in Richtung Westen. Ein Großteil des Buches ist dem Gewaltakteur »Islamischer Staat« (IS) gewidmet, der Teile Syriens und des Irak unter seiner Kontrolle hat. Die Ideologie seiner Führung charakterisiert er als primitiv, darauf angelegt, »Brutalitäten fürchterlichen Ausmaßes zu rechtfertigen«. Die Ökonomie des IS vergleicht er mit der Finanzierung der Söldnerheere, die während des Dreißigjährigen Krieges Mitteleuropa verwüsteten. Ruf hat ein wichtiges, solide recherchiertes Werk vorgelegt, das zur Diskussion einlädt. * Die italienische Terrorismusexpertin Loretta Napoleoni liefert in ihren kürzlich im Schweizer Rotpunktverlag erschienenen Büchern ebenfalls zahlreiche Fakten zum Hintergrund führender IS-Aktivisten und zu den kriminellen Methoden der Finanzierung dschihadistischer Milizen. Die Frage nach den Ursachen für deren Entstehung wird aber nicht gestellt, nur punktuell erwähnt die Autorin Spätfolgen des Kalten Krieges. Die vom IS proklamierte Herstellung eines in unserer Gegenwart völlig anachronistischen Feudalreichs wird unhinterfragt für bare Münze genommen. Dazu kommt, dass Napoleonis Bücher mehrere haarsträubende Fehlinterpretationen enthalten. Zum Beispiel wird das 2003 im Irak gestürzte Regime fälschlich mit dem Islamismus in einen Topf geworfen. Die Schuld für den im Osten der Türkei wieder aufgeflammten Bürgerkrieg sieht die Autorin nicht beim repressiv agierenden Regime in Ankara, sondern ausschließlich bei dessen Opfern. Gerd Bedszent Werner Ruf: »Islamischer Staat & Co. Profit, Religion und globalisierter Terror«, PapyRossa Verlag, 156 Seiten, 13,90 €; Loretta Napoleoni: »Die Rückkehr des Kalifats. Der Islamische Staat und die Neuordnung des Nahen Ostens«, übersetzt von Peter Stäuber, Rotpunktverlag, 158 Seiten, 18,90 €; Loretta Napoleoni: »Menschenhändler. Die Schattenwelt des islamistischen Terrorismus«, übersetzt von Peter Stäuber, Rotpunktverlag, 270 Seiten, 21 € KatastrophenszenarioBekannt geworden ist er unter anderem durch die Bücher »Der Dritte«, »Die sieben Todsünden der Doña Juanita« und »Die unheilige Sophia«. Die Liste der Publikationen von Eberhard Panitz ist lang, ebenso die seiner Preise und Auszeichnungen. Nun liegt eine überarbeitete, ergänzte und aktualisierte Neufassung seines bereits 1983 erschienenen Bändchens »Eiszeit. Eine unwirkliche Geschichte« vor. Veranlasst hat ihn die 2016 in der Presse veröffentlichte Mitteilung einer Arbeitsgruppe der Vereinten Nationen über die Verabschiedung einer Resolution zur Ächtung nuklearer Angriffswaffen. Am 29. Oktober 2016 stimmten 123 Nationen dafür, alle Atomwaffen zu verbieten; 38 waren dagegen und 16 enthielten sich der Stimme. Dagegen stimmten die USA, Russland, Großbritannien, Frankreich, Südkorea – und Deutschland, das seine Rüstungsexporte und die Stationierung von Atomwaffen auf seinem Territorium in Gefahr sah: Abgründe deutscher Außenpolitik. Da kommt das Bändchen von Panitz zur rechten Zeit, um die immense Gefahr zu zeigen und zu warnen. Eine bunt zusammengewürfelte Gesellschaft findet im Hotel »Artushof« in Wolkental/Thüringen Zuflucht vor einem unfassbaren Ereignis, einer Katastrophe. Darunter sind der Schriftsteller und Erzähler Michel mit seiner Schwester; beide befinden sich auf einer Reise auf Goethes Spuren. Auch die Schauspielerin Xenia, Dr. Tjudor, der aalglatte Anschütz und der alte Maxim, »einst Minister in Sachsen und dann in Berlin«, sind unter den Schutzsuchenden. Winterwetter hat unvermutet eingesetzt, grauer, klebriger Schnee verdeckt alles, Telefonleitungen sind zerfetzt, der Strom fällt aus. Alles wirkt wie ausgestorben. Ein Blitz von großer Stärke wird gesehen, eine ungeheure Druckwelle zerstört Türen und Fenster, Metall verbiegt sich. Beängstigend zeigt sich eine weiße, pilzförmige Wolke. Die Landschaft ist »schwarz wie eine Leichenhalle«. Menschen und Tiere sterben unter unsäglichen Schmerzen. Im Hotel herrschen Verzweiflung, Lethargie, Ratlosigkeit. Lebensmittel und Wasser werden knapp. Der Erzähler Michel und die Schauspielerin Xenia versuchen, die Situation notdürftig zu meistern. Um zu überleben, müssen die Geflüchteten zusammenhalten und können nicht fliehen. Unter Schellengeläut taucht ein grauer Hengst auf, der einen Schlitten mit Menschen zieht. Er transportiert Tote »mit grässlich verquollenen Gesichtern und Körpern«. Am Ende brechen einige Bewohner auf ins Ungewisse. In der ersten Fassung erschien ein Hubschrauber mit einem roten Stern; hier fehlte in der Erzählung ein roter Faden, der Rettung verhieß. In der überarbeiteten Erzählung ist es »… ein rotes Kreuz, das Zeichen irgendeines Rettungsdienstes«. Panitz hält die Spannung bis zuletzt. In seiner aktualisierten Allegorie wirken die dazwischengeschobenen ausführlichen Analysen und Aufsätze über atomare Vernichtung etwas aufgesetzt, sie unterbrechen den Verlauf und fügen sich schlecht ein. Dennoch ist das eine Geschichte, die den Leser nicht loslässt. Sie vermittelt die Sorge des Autors über die steigende Gefahr einer atomaren Vernichtung. Seine Vision dieser Ungeheuerlichkeit erschreckt und rüttelt auf. Sein Wunsch ist es, dass die »Eiszeit« eine »unwirkliche Geschichte« bleibt. Maria Michel Eberhard Panitz: »Eiszeit. Eine unwirkliche Geschichte«, Neufassung 2016, Verlag Wiljo Heinen, 215 Seiten, 14 € Angsthasenjagdfieber Natürlich muss man Politiker kritisieren, Günter Krone Unsere ZuständeEine Frau erledigt drei Dinge auf einmal. Drei Dinge auf einmal erledigen einen Mann. * Ein Hahn ohne Hühner kräht nicht gern. * Wer seinen Kopf statt in eine Schlinge in den Sand steckt, erstickt langsamer. Wolfgang Eckert Sigmund Jähn wird 80Welcher ältere Ostdeutsche kennt nicht Morgenröthe-Rautenkranz? Beim Nennen des Ortsnamens der 800-Seelen-Gemeinde im sächsischen Vogtland kommt ein Name wie aus der Pistole geschossen: Sigmund Jähn. Und sofort werden Erinnerungen an den 26. August 1978 wach, als der NVA-Oberstleutnant Jähn mit dem sowjetischen Kommandanten Waleri Bykowski im Rahmen der »Interkosmos«-Mission mit einer Sojus 31 zur Raumstation Saljut 6 startete. Damit avancierte ein DDR-Bürger zum Weltraumhelden: Sigmund Jähn, der erste Deutsche im Weltall. Doch in der Rolle des Helden hat sich der fliegende Vogtländer nach eigenen Worten nie wohlgefühlt. Aber selbst Weltraumhelden werden älter und Sigmund Jähn jetzt achtzig. Als Sohn eines Sägewerkarbeiters wurde er am 13. Februar 1937 in Morgenröthe-Rautenkranz geboren. Nach der Schule erlernte er zunächst den Beruf eines Buchdruckers. 1955 begann er bei der Nationalen Volksarmee eine Offizierslaufbahn. Danach studierte er an der zentralen Offiziershochschule für Luftstreitkräfte und Luftverteidigung »Franz Mehring« und wurde später Düsenpilot der NVA-Luftwaffe. Von 1966 bis 1970 studierte er an der sowjetischen Militärakademie der Luftstreitkräfte. Aufgrund seiner Ausbildung und seiner Fähigkeiten kam er in den engen Kreis der Auserwählten für den ersten Flug eines DDR-Bürgers ins All. Die Vorbereitung der Mission hatte zwei Jahre gedauert. Sigmund Jähn und sein Double Eberhard Köllner wurden von 1976 bis 1978 im sowjetischen Kosmonauten-Ausbildungszentrum »Juri Gagarin« auf den Flug vorbereitet. Dann der historische Start vom Weltraumbahnhof Baikonur. Bei ihrem Weltraumflug umrundeten Bykowski und Jähn 20-mal täglich die Erde in 380 Kilometern Höhe. Zu seinen Untersuchungen zählten Erdbeobachtungen mit der hochauflösenden Multispektralkamera MKF-6 vom damaligen VEB Carl Zeiss Jena. Damit konnten Geländestreifen von 225 Kilometer Breite aufgenommen werden. Solche Aufnahmen halfen bei der Suche nach Bodenschätzen und der Beurteilung land- und forstwirtschaftlicher Kulturflächen. Nach dem einwöchigen Aufenthalt in der sowjetischen Raumstation Saljut 6 landete die Besatzung von Sojus-31 am 3. September 1878 »wohlbehalten« in der kasachischen Steppe. Danach wurden der Raumflug glorifiziert und Sigmund Jähn zum sozialistischen Nationalhelden. Reihenweise heftete man ihm Orden an die Brust, in unzähligen Veranstaltungen musste er auftreten, wurde von Schulen, Arbeitskollektiven und Organisationen eingeladen und musste immer wieder Fragen über Fragen beantworten. Die Auszeichnungen seien eine große Ehre gewesen, bekannte der sympathische Kosmonaut später, doch den ganzen Rummel um seine Person hatte er nie gemocht: »Es gibt nur zwei anstrengendere Angelegenheiten als den Raumflug selbst: die Ausbildung davor und die Festlichkeiten danach.« (www.mdr.de) Was nicht an die Öffentlichkeit drang, war die Tatsache, dass die Raumkapsel bei der Landung außergewöhnlich hart aufschlug, wodurch sich der DDR-Kosmonaut bleibende Rückenschäden zuzog. Doch schwerwiegender waren wohl die Verletzungen und Kränkungen nach der »Wende«. Der »staatsnahe« Sigmund Jähn, der stets eine gewisse Distanz zur politischen Führung der DDR gewahrt hatte, wurde am 2. Oktober 1990 als einer der letzten Generäle aus der Armee entlassen und seine Teilinvalidität von einem Bundeswehrarzt aus unbekannten Gründen aberkannt. Jähn gelang es aber, noch einmal beruflich Fuß zu fassen, als Berater der europäischen Raumfahrtorganisation ESA und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). Alle, die Jähn persönlich begegneten, lernten einen bescheidenen und liebenswürdigen Menschen kennen, der er bis heute geblieben ist. »Die Woche im All hat meine Weltsicht verändert«, sagt der nun 80-jährige dem Hamburger Abendblatt und spielt damit wohl auf die gesellschaftliche Entwicklung unserer Zeit an. Manfred Orlick Walter Kaufmanns Lektüre»Der Mann an der Kasse schläft«, schreibt Katerina Poladjan nach einem Museumsbesuch mit ihrem Mann im fernöstlichen Tschita, »er hat den Kopf auf die Arme gelegt, daneben ein Schild: Eintritt 10 Rubel. ›Gehen Sie nur hinein‹, ruft ihnen die Putzfrau zu. ›Die zehn Rubel können Sie sich sparen, wenn er aufwacht, haue ich ihn auf den Kopf oder ich küsse ihn, das läuft aufs Gleiche hinaus.‹ Als sie das Museum verlassen, ruft die Putzfrau: ›Ihr seid mir 10 Rubel schuldig, ich hab aufgepasst, dass Pjotr nicht aufwacht.‹« Dieses höchst vergnügliche Reisebuch beweist, Katerina Poladjan versteht immer, was sie hört. Obwohl sie, die in Moskau geboren wurde, schon als Kind nach Deutschland kam, hat sie Russisch nicht verlernt. Auch beobachtet sie genau und weiß wie ihr Lebens- und Buchpartner Henning Fritsch mit wenigen Worten viel zu erzählen. Was diesem an Sprachkenntnissen fehlt, macht er durch kluges Hinschauen und viel Humor beim Schildern des Erlebten wett. Es entstand eine Reisebeschreibung eigener Art bis weit »Hinter Sibirien« (so der Titel des Buches) zur chinesischen Grenze, ins große unbekannte Land zwischen Baikalsee und Pazifik. Katerina Poladjan und ihr Mann nehmen tagelange Eisenbahnfahrten durch verschneite Steppen in der Gewissheit auf sich, dass ihnen die Reisenden Einblicke in ein Leben fern von Moskau geben werden. Wohin sie auch vorstoßen, sie erfahren viel, auch weil sie Ausländer sind, Exoten, zwei Wissbegierige aus fernen Welten, ein freundliches, den Menschen zugewandtes Ehepaar, offen, locker und vor allem: Die Frau spricht Russisch – eine schöne Russin ist das mit einem schönen Deutschen. Nicht bloß die Abteiltüren in Transsibirischen Eisenbahnen stehen den beiden offen, auch viele Privatwohnungen in den von ihnen bereisten Städten. Man lädt sie ein, bewirtet sie und erzählt, erzählt, erzählt. Selbst die zu Misstrauen angehaltenen Etagendamen in den Hotels werden gesprächig, wie auch die Theaterdirektorin von Blagoweschtschensk, die sich streng als die Beauftragte von Wladimir Wladimirowitsch Putin in der Oblast Amur vorstellt und erst zugänglich wird, als Katarina Poladjan auf die Knie geht und Brecht zu zitieren beginnt: »Schlendernd durch Höllen und gepeitscht durch Paradiese …« »Was hat dir die Direktorin am Ende gesagt«, fragt Henning Fritsch, der glaubt, die Direktorin hätte seiner Frau einen Bühnenauftritt angeboten. »Sie wollte wissen, warum meine Eltern das Vaterland verlassen und damit ihrer Tochter ihrer Heimat beraubt hätten.« »Und was hast du geantwortet?« »Ich habe mich höflich verabschiedet«, sagt Katarina Poladjan. Und weiter geht die Reise, zwei Nächte und einen Tag lang, eintausendsechshundert Kilometer mit der Eisenbahn von Blagoweschtschensk weg zur nächsten Stadt … W. K. Katerina Poladjan/Henning Fritsch: »Hinter Sibirien. Eine Reise nach Russisch-Fernost«, Rowohlt Berlin, 267 Seiten, 19,95 € Schönes Afrika Ach wie war es ehedem Von der Leyens Ursula So wie in Afghanistan Der gewitzte China-Mann C. T. Zuschriften an die LokalpresseDie Fashion Week hat in Berlin wieder Maßstäbe gesetzt. Die neuen sind aber die alten: Die Models stelzen ohne jede Charmeoffensive auf abgehungerten Beinen, mit eingefallenen Wangen und mit weltferner Mimik über die Pisten und bringen so zum Ausdruck, dass sie weder von ihren Fummeln noch von deren »Schöpfern«, oder von ihren Bewunderern überzeugt sind. Ich frage mich, wie die wandelnden Kleiderständer ihr leichenähnliches Antlitz so lange versteinert halten können – dazu gehört sicher hartes Training von unschuldigen Kindesbeinen an. Tilman Riemenschneider hätte seine Freude an solchen Vorlagen für seine Schnitzereien gehabt. Nun gut, manche Kreation der Modeschöpfer hat mir sogar gefallen, ich würde sie aber nicht mal zur silbernen Hochzeit für meine Ehefrau erwerben, weil sie dann ihr Gesicht vielleicht auch so durch die Welt tragen müsste, als wäre ihr unendliches Leid widerfahren. – Karlwilhelm Krawullke (63), Fleischbeschauer, 38875 Elend * »Wie gesagt« ist eine Floskel, der sich kaum einer entziehen kann, sei er nun Reporter, Profisprecher oder Sprachnutzer wie du und ich. »Wie gesagt« wird ständig als verkürzter Nebensatz oder als Sprechfüllsel benutzt und höchstens noch von »gelinde gesagt« übertroffen. Dabei ist es, wie gesagt, völlig unwichtig, ob irgendetwas wirklich schon mal gesagt worden ist oder als glatte Novität verkündet wird. »Wie spät ist es?« fragt einer den anderen, und der antwortet ohne langes Zögern: »Wie gesagt – es ist genau siebzehn Uhr dreiundzwanzig!« Und das ist dann eine glatte Lüge, denn wenn er es wirklich schon mal gesagt hätte, müsste das wahrscheinlich siebzehn Uhr zweiundzwanzig gewesen sein. Wie gesagt, da hat sich etwas in unsere Sprache eingeschlichen, das überflüssig ist. Und, gelinde gesagt, darauf sollten wir alle und auch Sie etwas mehr achten. – Gerlinde Ratgeber (32), Azubi, 88486 Sinningen * Die Anzeigenseiten der meisten Tages- und Wochenblätter bieten nicht nur gebrauchte Autos und andere Antiquitäten an, sondern auch Menschen, die den Schmelz der Jugend, mehrere Ehen und einige verfehlte Partnerschaften überstanden haben und ein neues Glück suchen. Manche Angebote sind durchaus verlockend. Wie bei einem Versicherungsvertrag sollte man aber auch das Kleingedruckte lesen, denn wenn wie in der Berliner Woche von Mitte Januar ein neuer Partner »zum frühstücken« gesucht wird, sollte man erst ein Probetreffen vereinbaren und dazu sicherheitshalber eine weitere Person seines Vertrauens hinzuziehen. – Melania Mitesser (67), Rentnerin, 17348 Grauenhagen Wolfgang Helfritsch
Erschienen in Ossietzky 3/2017 |
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