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Doch wer den Text des Werkes hörend mitliest, erkennt am Ende ganz andere Perspektiven und wundert sich nicht über das Desinteresse, mit dem die Londoner Society 1750 die Schöpfung abstrafte. Das Stück hat es in sich: Kaiser Diokletian in Rom will das religiös und politisch zerfallende Reich konsolidieren. Sein Statthalter in Vorderasien, Valens, setzt die Staatsräson durch. Anlässlich des Frühlingsbeginns ordnet er zu Ehren des Kaisers ein Opferfest für den Göttervater und die Göttinnen Flora und Venus an, dem sich bei Strafe niemand zu entziehen habe. Die Christen verweigern sich, und Theodora, eine adlige Christin, bekundet, im Namen ihres Glaubens lieber sterben zu wollen. Valens verschärft daraufhin ihre Strafe, indem sie vor ihrem Tod als Prostituierte dienen müsse. Ihr heimlicher Liebhaber aber ist ein junger Römersoldat, Didymus, der sich taufen ließ. Sein Freund Septimius, ein Offizier, weiß davon und will ihm helfen, die Gefangene zu befreien. Er ist überzeugt, Rache, Leid und Schande würden Göttinnen wie Flora und Venus nur beschämen und nicht erfreuen, weshalb auch die römischen Wachen die Rettungsaktion unterstützen. Didymus tauscht mit Theodora im Kerker die Kleider, sie entflieht, er bleibt. Die Christen begrüßen Theodora, doch die Freude währt kurz. Theodora will nicht leben, wenn ihr Befreier sterben soll. Sie eilt zurück zu Valens. Der ist zwar von so viel Heldenmut beeindruckt, doch seine Anordnung nimmt er nicht zurück. Nun werden eben beide hingerichtet. In einem emphatischen Duett besingen Theodora und Didymus ihr Glück, aus Liebe füreinander zu sterben. Man kann sich nur schwer ein ärgeres Missverständnis des Stücks vorstellen, als etwa die hoch gefeierte Opernversion des US-amerikanischen Regiestars Peter Sellars, der das Werk auf eine platt evangelikale Märtyrerverherrlichung runterrechnete. Das vergreift sich an Händels Sicht und verbiegt sie schier ins Gegenteil. Händels Stück ist bei aller Tragik überwältigend glückdurchstrahlt – obgleich nicht einseitig vom Christenglauben her, sondern vom Geist der Milde und universaler Humanität. Libretto und Partitur lassen da keine Zweifel. Selbst die prunkenden Koloraturen des Despoten drücken den Machtwillen aus, ohne ins roh Brutale zu entgleiten. Die heidnische Festmusik ist sinnenfroh. Die Musik malt kein Religions-Schwarz-Weiß, die Autoren nehmen Partei nur gegen Gnadenlosigkeit und Rachlust, aber für Liebe und für Gleichberechtigung, alle seien frei geboren. Das ist brisant, noch heute. Was bedeutete das Konzept im puritanischen Königreich? Händel, der sich sogar in Rom gleichgültig gegenüber Konfessionsfragen zeigen konnte, bemühte sich als Musiker nie wie damals üblich um eine Kirchenanstellung. Bei seinen alttestamentarischen Oratorien hatte er seine Riesenerfolge in London besonders dem Publikum aus dem jüdischen Bürgertum zu danken, dessen gesellschaftliche Diskriminierung dürfte ihm so wenig entgangen sein, wie die des ihm bekannten Dichters Alexander Pope, der als Katholik nicht nur erheblich benachteiligt, sondern zeitweise die Stadt zu verlassen gezwungen war. Warum also sollte Händel in London ein Oratorium schreiben wollen, das »das Christentum« zu stärken hätte? Welches und gegen wessen Angriff? Im Zentrum seines folgenden und letzten Oratoriums (»Jephtha«, 1751) wird Händel sogar das Wort »Gott« ausstreichen, um dafür einen Satz aus dem »Essay on Man« eben dieses geächteten Alexander Pope zu zitieren: »Was immer ist, ist recht« (und eben nicht: »Gottes Entschluss«). Und wie verdeckt, wie vorsichtig mussten Geister wie Spinoza oder Leibniz sich über die Dinge des Seins äußern, wenn sie nicht der Vernichtung durch Kirchenbann wegen abweichender Gesinnung verfallen wollten. Das war ja nur die Kehrseite der herrschenden »alleinseligmachenden« Staatskonfessionen. Oder, ganz nebenbei, würde es bekennenden Kommunisten in heutigen Verhältnissen viel besser ergehen? Karriere dürfte da schier unmöglich sein, soziale Ausgrenzung garantiert, staatliche Toleranz praktisch nicht vorhanden, von Berufsverboten zu schweigen. Und der Faschismus war (und ist) auf die systematische Vernichtung von Kommunisten ausgerichtet. Die über 30 Millionen toten Kommunisten der Sowjetunion und ganz Europas unterstreichen den Aspekt. Ihrer wird nicht gedacht, sie werden als solche in der Erinnerungskultur kaum erwähnt. So aktuell kann das Thema eines Händel-Oratoriums sein. Händel war in Halle mit den Nachwirkungen und Geschichten des Dreißigjährigen Kriegs aufgewachsen und wusste von den Hugenottenverfolgungen. Es bleibt fraglich, ob die »Theodora«-Fabel die »Stärkung des Christentums« inmitten der Hauptstadt der anglikanischen Kirche singt oder vielmehr eine humanistische Toleranz, die fokussiert, wie Christen ohne Gnade Christen verfolgen, erst recht Andersgläubige, sowie Zweifelnde und Kritiker. Die Herrschaften der anglikanischen Metropole werden deutlich provoziert. Händels Oratorium »Theodora« ist im Grunde kein religiöses Drama (genauso gut könnte die Handlung im frühen Mittelalter unter exakt umgekehrten Glaubensvorzeichen ablaufen), schon gar kein kirchliches. Insofern darf man »Theodora« mit dem Blick auf Mozarts »Entführung« sehen wie auch als Vorgriff auf Bellinis Oper »Norma«, in der am Ende ein Römeroffizier aus Liebe gemeinsam mit einer druidischen Mond-Priesterin den Scheiterhaufen besteigt. Spiegelverkehrte Geschichte, mehr nicht, auch ein Konflikt der Religionen, der Kulturen, der Macht. Sehr wohl allerdings verweist »Theodora« auf christliche Ursprünge und meinetwegen »Tugenden«, wie sie später in London auch Friedrich Engels mit seiner Schrift zum »Urchristentum« (1894) den herrschenden Kirchen entgegenzusetzen hatte, um die Idee des Kommunismus historisch klar herzuleiten. Händels sublimes Tongeflecht wurde zum Jahresbeginn in der Berliner Philharmonie Ereignis, auch durch Justin Doyles Dirigat. Berlin darf sich in Zukunft zumindest musikalisch glücklich schätzen: Ab September 2017 kommt Doyle als Chef zum RIAS-Kammerchor. Mit diesem Klangensemble und der Akademie für Alte Musik war höchstes Niveau gesichert, Transparenz, Sinnlichkeit, jeder Takt pure Lust. Alle Solisten boten vollkommene Gesangskunst, so virtuos wie perfekt. Im Schlussapplaus wandte sich der Maestro ans Publikum und wies noch einmal darauf hin, dass »Theodora« ein zu Unrecht wenig gekanntes Werk ist und Händel trotz oder gerade wegen der tragischen Handlung ein ungewöhnlich leuchtendes und positives Werk geschaffen habe. Um das Publikum nicht mit der Schlusskatastrophe im Ohr ins neue Jahr zu entlassen, wiederholte als optimistische Zugabe das Ensemble jenen großangelegten Finalchor des zweiten Teils (»He saw the lovely youth«) – ein Chor übrigens, den Händel als seine beste Arbeit ansah. Der RIAS-Kammerchor übertraf sich daraufhin schier selbst und belegte die Einschätzung überzeugend, Jubel, Jubel, Jubel!
Erschienen in Ossietzky 2/2017 |
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