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Nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) besitzt das reichste Prozent der Bevölkerung hierzulande gut ein Drittel und das reichste Promille immer noch 23 Prozent des Nettogesamtvermögens. 20,2 Prozent der Bevölkerung haben kein und 7,4 Prozent der Bevölkerung sogar ein negatives Vermögen, das heißt mehr Schulden als Vermögen. 20 Millionen Menschen sind gewissermaßen nur eine Kündigung oder eine schwere Krankheit von der Armut entfernt, weil sie nichts auf der hohen Kante haben. Ignoranz, Schönfärberei und Lippenbekenntnisse Die politisch Verantwortlichen nehmen das Problem der sozialen Polarisierung entweder gar nicht wahr, suchen es geschickt zu beschönigen oder begnügen sich mit Lippenbekenntnissen zu seiner Lösung, wie drei Beispiele zeigen sollen: Beispiel eins: CDU, CSU und SPD verschließen vor der Armut eines wachsenden Bevölkerungsteils und der gleichzeitig zunehmenden Verteilungsschieflage die Augen. So kommt das Wort »Reichtum« in ihrem Koalitionsvertrag für die laufende Legislaturperiode nur als »Ideenreichtum« beziehungsweise als »Naturreichtum« und der Begriff »Vermögen« nur als »Durchhaltevermögen« oder im Zusammenhang mit der Vermögensabschöpfung bei Kriminellen vor. »Kinderarmut« taucht überhaupt nicht auf, während die Regierungsparteien Altersarmut »verhindern« möchten. Demnach existiert sie aus Sicht dieser Parteien in Deutschland (noch) gar nicht, denn sonst hätten die Vertreter von CDU, CSU und SPD den Satz anders formuliert, nämlich so, dass sie bekämpft, verringert oder beseitigt werden muss. Beispiel zwei: »Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut wie im Augenblick«, verkündete Angela Merkel in der jüngsten Haushaltsdebatte. Undifferenzierter und oberflächlicher als die Bundeskanzlerin kann man die soziale Lage der Bevölkerung nicht beschreiben, auch wenn sich Merkel bemüßigt fühlte, vorab die hohe Zahl der »Hartz IV«-Bezieher zu beklagen und die Existenz vieler Notleidender zu bestätigen. Beispiel drei: Wiewohl das Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes den Bund zur Armutsbekämpfung verpflichtet, hat keine Regierung die Armut als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt erkannt und ihr konsequent entgegengewirkt. So erhöhte die Große Koalition zwar den Regelbedarf von Arbeitslosengeld-II-Beziehern sowie Schulkindern und Jugendlichen im »Hartz IV«-Bezug zum Januar 2017 leicht, ließ die Kinder unter sechs Jahren aber leer ausgehen. Reiche sind auch politisch einflussreich, Arme ohnmächtig Die soziale Ungleichheit ist aufgrund des bei Privatleuten konzentrierten Unternehmensvermögens und der weitgehenden Mittellosigkeit vieler »Arbeitskraftbesitzer« systembedingt. Armut fungiert als Drohkulisse, Druckmittel und Disziplinierungsinstrument gegenüber Menschen, die sich den Marktmechanismen entziehen und der Konkurrenz nicht unterwerfen. Sie wirkt als Strafe für »Leistungsverweigerer« und zwingt davon Betroffene, mehr zu leisten, zeigt besser Situierten jedoch zugleich, was ihnen bevorsteht, wenn sie die Regeln einer Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft nicht befolgen. Umgekehrt wirkt Reichtum als Belohnung für Spitzenleistungen und damit als Leistungsanreiz. In einer parlamentarischen Demokratie müssen Armut, sofern sie weder auf Einzelfälle beschränkt ist noch ein persönliches Versagen der davon Betroffenen unterstellt werden kann, wie Reichtum, der ein vernünftiges Maß übersteigt, öffentlich gerechtfertigt werden. Dies geschieht primär über das meritokratische Prinzip, wonach es »Leistungsträgern« in der sozialen Marktwirtschaft bessergehen soll als weniger Leistungsfähigen oder gar »Drückebergern«, »Faulenzern« und »Sozialschmarotzern«. Es gibt Politiker, die statt der Armut lieber die von ihr Betroffenen bekämpfen. Polizeirazzien, Platzverweise und Aufenthaltsverbote sind Mittel, um die Armen aus dem öffentlichen Raum zu vertreiben. Andere Politiker wollen zwar etwas für die Armen tun, glauben aber, dies am ehesten auf dem »Umweg« über eine Ankurbelung der Wirtschaft verwirklichen zu können. Nach der Trickle-down-Theorie, die auch als »Pferdeäpfel-Ideologie« bekannt ist, muss man, um den Spatzen etwas Gutes zu tun, die Vierbeiner mit dem besten Hafer füttern, damit die Vögel dessen Körner aus deren Kot herauspicken können. Man muss kein Ornithologe sein, um zu erkennen, dass den Haussperlingen mehr geholfen wäre, wenn sie direkt gefüttert würden. Reichtumsförderung dient nicht der Armutsbekämpfung, sondern hauptsächlich den Hyperreichen, die von den Steuergeschenken der etablierten Parteien am meisten profitieren. Weshalb heben Parlament und Regierung die Regelsätze der Sozialtransfers nicht stärker an, um Erwerbslosen und ihren Familien, Kindern und Senioren ein Leben in Würde zu ermöglichen? Würden die Transferleistungen steigen, wäre mit dem »Lohnabstandsgebot« eine offiziöse Leitlinie der Regierungspolitik verletzt und angeblich die Konkurrenzfähigkeit des »eigenen« Wirtschaftsstandortes gefährdet. Reichtumsförderung statt Armutsbekämpfung – so lautet denn auch das Programm sämtlicher Koalitionen auf Bundesebene, die eine Regierungspolitik nach dem Matthäus-Prinzip machen: »Wer hat, dem wird gegeben, und wer nicht viel hat, dem wird das Wenige auch noch genommen«, heißt es sinngemäß im Evangelium des Matthäus. Wer reich ist, ist meistenteils auch politisch einflussreich. Ein besonders drastisches Lehrbeispiel für exzessiven Lobbyismus lieferte die jüngste Reform der Erbschaftsteuer für Firmenerben. Nach einem fast anderthalbjährigen Ringen zwischen CDU, CSU und SPD wurde ein Gesetz verabschiedet, das es den Kindern von Großunternehmern, die in Griechenland, Russland oder der Ukraine als »Oligarchen« bezeichnet würden, wie bisher ermöglicht, unter bestimmten Umständen einen ganzen Konzern übertragen zu bekommen, ohne auch nur einen Cent betriebliche Erbschaft- oder Schenkungsteuer entrichten zu müssen. Die politischen Folgen der sozialen Spaltung Die dadurch verschärfte soziale Spaltung der Gesellschaft zieht eine politische Spaltung nach sich, die als Krise des parlamentarischen Repräsentativsystems erscheint: Verarmte und von Armut bedrohte Bevölkerungsschichten wie (Langzeit-)Erwerbslose, Transferleistungsbezieher und prekär Beschäftigte beteiligen sich kaum noch an demokratischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen, gehen beispielsweise nur selten oder gar nicht mehr zu Wahlen, wohingegen die politische Partizipation der Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen ungebrochen ist. Bei der Bundestagswahl im September 2013 prägte sich die soziale Schieflage bei der Wahlabstinenz deutlich aus: In mehreren deutschen Großstädten betrug die Differenz zwischen sozial benachteiligten und Luxusquartieren über 40 Prozent. Arbeitslose und Arme verweigerten sich dem Wahlakt aufgrund der Überzeugung, mit ihrer Stimmabgabe wenig bewirken und nichts bewegen zu können. Schließlich hatten die etablierten Parteien ihre existenziellen Probleme in sämtlichen Regierungskonstellationen mehr oder weniger ignoriert. Dass sich Arme nicht mehr (regelmäßig) an Wahlen und Abstimmungen beteiligen, stärkt jene politischen Kräfte, welche die Privilegien der Wohlhabenden und Reichen sichern. Die etablierten Parteien bemühen sich gar nicht mehr um die Stimmen beziehungsweise die Zustimmung der Unterprivilegierten und Prekarisierten, weil sie wissen, dass diese selten zur Wahl gehen. So entsteht ein Teufelskreis sich wechselseitig verstärkender Wahlabstinenz sozial Benachteiligter und einer deren Interessen vernachlässigenden Regierungspraxis. Von der Letzteren profitieren übrigens rechtspopulistische Demagogen, die sich als Vertreter der »kleinen Leute« gerieren, obwohl sie Politik für das große Geld machen. Beispielsweise will die AfD alle Steuern abschaffen, die nur Wohlhabende, Reiche und Hyperreiche zahlen müssen: die Vermögen- und die Erbschaftsteuer. Prof. Dr. Christoph Butterwegge lehrte von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Zuletzt sind seine Bücher »Krise und Zukunft des Sozialstaates« (2014), »Hartz IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?« (2015) und »Armut« (2016) erschienen. In der Bundesversammlung am 12. Februar 2017 stellt er sich als Kandidat der Partei DIE LINKE für das Amt des Bundespräsidenten zur Wahl.
Erschienen in Ossietzky 1/2017 |
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