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Fast ein halbes Jahrhundert hat es gedauert, ehe sich das höchste deutsche Strafgericht mit der Bestätigung des Urteils gegen den ehemaligen »Buchhalter von Auschwitz«, Oskar Gröning, dazu durchrang, Beteiligte an dem Geschehen auch dann schuldig zu sprechen, wenn ihnen die Beteiligung an konkreten Mordtaten nicht nachgewiesen werden kann. Das ging nicht ohne rabulistische Verrenkungen, das eigene Nest durfte nicht beschmutzt werden. Ausdrücklich betont der BGH in seinem Beschluss vom 20. September, die darin dargelegte Rechtsauffassung stehe »nicht im Widerspruch zur Rechtsprechung anderer Senate des Bundesgerichtshofs«. Wie soll man das verstehen? Am 20. Februar 1969 entschied der BGH, dass sich nicht »jeder, der in das Vernichtungsprogramm des Konzentrationslagers Auschwitz eingegliedert« gewesen und dort »irgendwie anlässlich dieses Programms tätig« geworden sei, »objektiv an den Morden beteiligt« habe »und für alles Geschehene verantwortlich« sei. Damit bestätigte der BGH damals den Freispruch eines der Angeklagten im 1. Frankfurter Auschwitz-Prozess, der nach jetziger Rechtsauffassung verurteilt werden müsste. Den Beteiligten scheint die Unvereinbarkeit der Argumentation bewusst gewesen zu sein. Salopp helfen sich die Bundesrichter aus der Klemme: »Dem ist indes nicht näher nachzugehen.« Dazu seien die Sachverhalte zu unterschiedlich. Dem Angeklagten Gröning werde nicht »alles« zugerechnet, was in Auschwitz geschehen sei. Er sei auch nicht »irgendwie anlässlich des Vernichtungsprogramms« tätig gewesen. Vielmehr seien »konkrete Handlungsweisen des Angeklagten mit unmittelbarem Bezug zu dem organisierten Tötungsgeschehen in Auschwitz« festgestellt worden; sie gelte es zu bewerten. Für derartige Sachverhalte sehe sich der Senat in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung. Zu den konkreten Handlungen des SS-Mannes Gröning rechnet der BGH neben den »Rampendiensten« bei der Ankunft von Transporten deportierter Opfer die Bewachung des zurückgelassenen Gepäcks und die Aufgabe, das Geld der Deportierten zu sortieren, zu verbuchen und nach Berlin zu transportieren. Nur weil den nationalsozialistischen Machthabern eine organisierte »industrielle Tötungsmaschinerie« mit willigen und gehorsamen Untergebenen zu Verfügung stand, hätten die Verbrechen begangen werden können. Mit dieser Argumentation bewegt sich der BGH einerseits im Rahmen der alten Rechtsprechung, andererseits bestätigt er nachträglich halbherzig die Rechtsauffassung des 1968 verstorbenen hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, wonach die Tötungsmaschinerie der Nazis – vereinfacht gesagt – ohne die »kleinen Rädchen« nicht hätte funktionieren können. »Wer an dieser Mordmaschine hantierte«, so seine These, »wurde der Mitwirkung am Morde schuldig, was immer er tat, selbstverständlich vorausgesetzt, dass er das Ziel der Maschinerie kannte, was freilich für die, die in den Vernichtungslagern waren oder um sie wussten, von der Wachmannschaft angefangen bis zur Spitze, außer jedem Zweifel steht.« Am Ende der Beweisaufnahme im Auschwitz-Prozess beantragte die Anklagevertretung auf Drängen Fritz Bauers, das Gericht möge die Angeklagten darauf hinweisen, dass in ihrer Anwesenheit in Auschwitz eine »natürliche Handlungseinheit gemäß § 73 StGB« gesehen werden kann, die sich rechtlich, je nach den subjektiven Voraussetzungen im Einzelfall, als psychische Beihilfe oder Mittäterschaft zu einem einheitlichen Vernichtungsprogramm qualifiziert«. Ein konkreter Tatnachweis war dazu nach Ansicht des hessischen Generalstaatsanwalts nicht notwendig. Diese Rechtsauffassung wurde vom Gericht und vom Bundesgerichtshof verworfen. Wie so oft war Fritz Bauer seiner Zeit weit voraus. Ob die jetzige Entscheidung wirklich das späte Schlusswort des BGH zu einem unseligen Kapitel auch seiner eigenen Geschichte war, wie Wolfgang Janisch in der Süddeutschen Zeitung schreibt, wird sich noch zeigen. Auch da gilt, was Fritz Bauer kurz nach Beginn des Auschwitz-Prozesses zu bedenken gab: »Nichts gehört der Vergangenheit an, alles ist noch Gegenwart und kann wieder Zukunft werden.«
Erschienen in Ossietzky 25/2016 |
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