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Verdrängte Flucht- und TerrorursachenRolf Gössner »Mit ihrem herausragenden Engagement lenken die zivile Seenotrettungsinitiative SOS Méditerranée zur Rettung Flüchtender im Mittelmeer und der Dokumentarfotograf Kai Wiedenhöfer den Blick der Öffentlichkeit auf die oftmals verzweifelte Lage von Geflüchteten, auf die tragischen und tödlichen Folgen der Flucht- und Migrationspolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten sowie auf die Ursachen von Flucht vor Krieg und Terror, Verfolgung und Not.« Mit diesen Worten begründete die Internationale Liga für Menschenrechte die Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaillen 2016 und sprach dabei Probleme und Zusammenhänge an, die im medialen Alltag allzu leicht untergehen, streckenweise regelrecht tabuisiert und verdrängt werden: Erstens: Die politische Mitverantwortung des Westens und Europas für die vielfältigen Fluchtursachen, die zum Teil auch Terrorursachen sind, und die dazu führen, dass Menschen zu Millionen in die Flucht getrieben werden. Zweitens: Die Abschottungspolitik der EU und ihrer Mitgliedstaaten. Sie fordert täglich Menschenleben, seit 2014 über 10.000. Allein 2016 ertranken im Mittelmeer fast 5000 Flüchtende, so viele wie nie zuvor. Zu dieser Abschottung tragen neben der Schließung der Balkan-Route nicht nur die Europäische Grenzschutz-Agentur Frontex und das Grenzüberwachungssystem EUROSUR bei, die derzeit noch erheblich aufgerüstet werden. Dazu gehören auch jene menschenverachtenden Flüchtlingsdeals, wie sie mit der autokratischen Türkei und mit afrikanischen Despoten geschlossen wurden und werden, um Flüchtlinge gewaltsam an ihrer Flucht nach Europa zu hindern. Zur Sicherung von Europas neuen Grenzen in Afrika zahlen europäische Regierungen Unsummen von Steuergeldern – eben auch an Regime, die Menschenrechte mit Füßen treten und die gezielt mit Überwachungs- und Sicherungstechnologie aufgerüstet werden. Eine makabre Art von Entwicklungshilfe! Und dritter Tabubereich: Menschen, die Verfolgung, Krieg, Terror und Tod mühsam entronnen sind, werden hierzulande nicht nur willkommen geheißen, sondern stoßen auch auf Ängste, Abwehr und Feindschaft, geraten erneut unter Beschuss und in Gefahr. Seit vorigem Jahr ist angesichts der zu Hunderttausenden in die Bundesrepublik geflüchteten Menschen zwar viel von »Wir schaffen das« und von »Willkommenskultur« die Rede, die in der Tat auch in weiten Teilen der Republik anzutreffen ist und die die allermeisten Betroffenen zu schätzen wissen. Doch diese weitgehend zivilgesellschaftliche Unterstützungsarbeit wird zunehmend begleitet und konterkariert – zum einen von einem verschärften Ausländer- und Asylrecht nach dem Motto: »Grenzen dicht, sichere Herkunftsländer küren, massenhaft schneller abschieben«; und zum anderen von alltäglicher rassistischer Hetze, Ausgrenzung und Gewalt. Eine besorgniserregende Entwicklung, die angesichts der so medienwirksamen und angstbesetzten »islamistischen« Terrorgefahr aber immer mehr aus dem öffentlichen Blick gerät. Doch die realen Terrorangriffe auf Asylbewerber und andere Geflüchtete gehen weiter und die Täter sind mitten unter uns. Vermehrt brennen Flüchtlingsheime, die rassistischen Übergriffe auf Geflüchtete und ehrenamtliche Helfer und auch auf Moscheen nehmen zu – und zwar mehr und mehr aus der Mitte einer nach rechts driftenden und sozial gespaltenen Gesellschaft heraus: Nach Angaben des Bundeskriminalamts (BKA) kam es 2015 zu fast 1500 einschlägigen Gewalttaten, darunter über 1000 Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte sowie Übergriffe auf Flüchtlinge – das sind fünfmal mehr als 2014. Im laufenden Jahr sind bereits über 850 rassistische Angriffe auf Asylheime zu beklagen, wobei die Aufklärungsquote auffallend niedrig ist. 2015 sind fast 23.000 rechtsextreme Straftaten registriert worden, das sind immerhin 35 Prozent mehr als im Jahr davor – wobei die Dunkelziffer hoch sein dürfte. Diese Entwicklung vollzieht sich vor einem mörderischen Hintergrund, denn in der Bundesrepublik sind seit 1990 fast 200 Menschen von rassistisch und fremdenfeindlich eingestellten Tätern umgebracht worden. Nach den NSU-Morden mussten wir zehn und nach dem Münchener Amoklauf vom Juli 2016 neun weitere Tote hinzurechnen. Das BKA warnte erst kürzlich vor neuen Terrorgruppen, wie etwa der Nazi-Gruppe Freital, und fürchtet, dass erneut Menschen getötet werden. Wir dürfen es nicht zulassen, dass diese Gewaltentwicklung weiter verdrängt oder verharmlost wird – aber auch nicht die Tendenz, Nationalismus, Rassismus und Ausgrenzung gesellschaftlich und institutionell zu dulden. Wir müssen die Politik der »Inneren Sicherheit« und die Strafverfolgungsbehörden – die im Umgang mit Neonazi-Terror lange Zeit so grauenhaft versagt haben – verstärkt in Pflicht und Verantwortung nehmen. Und dazu brauchen wir eine wache Öffentlichkeit, die politisch Druck macht, die Xeno- und Islamophobie ächtet, die institutionellen Rassismus anprangert, die eine Wende im Umgang mit rassistischer Hetze und neonazistischer Gewalt einfordert und den Opferschutz stärkt. Szenenwechsel: Kommen wir zurück zum erstgenannten Problemkomplex. Mit ihrer Art von Flüchtlingspolitik, aber auch mit ihrer Art von Antiterrorkampf zeigen sich die Bundesregierung, die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten sowie die EU insgesamt absolut ignorant gegenüber den Ursachen von Terror und Flucht. Schließlich spielt der Westen, spielen EU, USA und NATO eine desaströse Rolle gerade im Nahen und Mittleren Osten – mit Hunderttausenden toter Zivilisten allein seit 9/11. Dort wirft die »westliche Wertegemeinschaft« für ihre eigenen geopolitischen, ökonomischen und militärischen Vormachtinteressen systematisch die so hochgehaltenen eigenen Werte über Bord – oft genug getarnt als Terrorbekämpfung oder humanitäre Interventionen. Mit ihren rohstoffsichernden Einmischungen, ausbeuterischen Handelsabkommen, verheerenden Wirtschaftssanktionen und Waffenexporten in Krisenregionen und an Diktaturen, mit ihren völkerrechtswidrigen Angriffskriegen und Kriegsverbrechen, mörderischem Drohnenbeschuss und Folter – mit all diesen imperialen Interventionen ist der Westen, auch die Bundesrepublik, mitverantwortlich für die Zerstörung menschlicher Lebensgrundlagen, mitverantwortlich für Ausbeutung, Armut und Tod, für den Zerfall ganzer Staaten, letztlich auch für die Entstehung der IS-Terrormiliz – »made in USA«, wie der Nahost-Experte Michael Lüders in seinem Buch »Wer den Wind sät. Was westliche Politik im Orient anrichtet« schreibt. Zugespitzt formuliert: Mit dem War on Terror, besonders im Irak und in Afghanistan, aber auch in Somalia, Jemen, Libyen, Pakistan und Syrien, schuf der Westen ein wahres Terroristen-Rekrutierungsprojekt und züchtete sich seine eigenen Feinde heran. Wer mit sogenannten Antiterrorkriegen, Regime-change-Interventionen und Wirtschaftssanktionen ganze Regionen zerstört und souveräne Staaten destabilisiert, erntet nicht Sicherheit, sondern früher oder später Terror und Instabilität – auch bei sich zuhause in Europa und den USA. In dieser westlichen Mitverursachung von Krieg, Terror, Ausbeutung, Klimakatastrophen und Elend liegt auch die politische Mitverantwortung dafür, dass Millionen Menschen aus diesen Regionen in die Flucht getrieben werden: »Wir kommen zu euch, weil ihr unsere Länder zerstört.« Diese herbe Einsicht und die koloniale und postkoloniale Vorgeschichte mitsamt den korrupten Nachfolge-Regimen gehören zum ganzheitlichen Verständnis der realen Flucht- und Terrorursachen, die es mit allem Nachdruck zu beseitigen gilt. Es wird weder Fortschritt noch Frieden geben ohne Stopp von Kriegseinsätzen, ohne Ausbruch aus dem destruktiven Marktradikalismus und ohne Einstellung der exzessiven Waffenexporte – gerade auch aus Deutschland, wo sich die Rüstungsexporte, auch in Krisen- und Kriegsgebiete, von 2014 auf 2015 verdoppelt haben und auch 2016 extrem hoch sind. Allein die Ausfuhr von Munition für Kleinwaffen hat sich in diesem Jahr verzehnfacht. Die kriegerischen Militärinterventionen im Nahen und Mittleren Osten sowie die Rekord-Waffenlieferungen haben die Welt nicht sicherer gemacht und den Terrorismus nicht eingedämmt – im Gegenteil: Krieg ist seinerseits Terror, gebiert neuen Terror und neue Terroristen. Es wird im Übrigen auch keinen Frieden geben ohne eine radikale Änderung der aggressiv-neoliberalen Wirtschafts- und Agrarpolitik, der ausbeuterischen Welthandels- und Rohstoffpolitik sowie der bisherigen Sozial-, Umwelt- und Klimapolitik. Und auch nicht ohne starke Hilfen zur Verbesserung der Lebensgrundlagen in den Heimatländern der Geflüchteten und in den Flüchtlingslagern. Milliardenschwere Flüchtlingsdeals wie mit der Türkei und sogenannte Migrationspartnerschaften mit anderen autoritären Regimen – durch die sich Europa korrumpierbar und erpressbar macht – bewirken das Gegenteil: Sie bekämpfen Flucht und Flüchtlinge, nicht aber die Fluchtursachen. Sie sponsern und stabilisieren autokratische Staaten, ihre Militär- und Repressionsapparate – und verschärfen damit Fluchtgründe, anstatt sie zu beseitigen. Dieser Beitrag basiert auf der Eröffnungsrede, die Rolf Gössner, Vorstandsmitglied der Internationalen Liga für Menschenrechte, anlässlich der Verleihung der Carl-von-Ossietzky-Medaillen 2016 an SOS Méditerranée und Kai Wiedenhöfer am 4. Dezember 2016 in der Heilig-Kreuz-Kirche in Berlin-Kreuzberg gehalten hat. Weitere Informationen unter www.ilmr.de.
Erschienen in Ossietzky 25/2016 |
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