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Zusammen mit meiner Freundin Sukriye Dogan, deren Familie ebenfalls aus Nusaybin stammt, unterhalte ich mich in Berlin mit Cudi und Bagok über die Situation in ihrer Heimat und die Gründe ihrer Flucht. Beide hatten sich in der legalen links-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) engagiert. Die Partei schuf eine Einheit der kurdischen Freiheitsbewegung mit sozialistischen Organisationen, Feministinnen, Ökologen und Vertretern ethnischer und religiöser Minderheiten wie der Aleviten und Assyrer. Unter ihren charismatischen Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksekdağ – einem kurdischen Rechtsanwalt und einer türkischen Sozialistin – wurde die HDP im vergangenen Jahr zur Hoffnungsträgerin aller unterdrückten Bevölkerungsgruppen der Türkei. Doch nach dem Wahlerfolg der HDP im Juni 2015, der die regierende religiös-nationalistische AKP die absolute Mehrheit kostete, kündigte Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan die seit zwei Jahren laufenden Friedensgespräche mit der kurdischen Seite auf und eskalierte erneut den Krieg gegen die Guerilla der Arbeiterpartei Kurdistans PKK. Ins Visier der Regierung gerieten zudem HDP-Hochburgen wie Nusaybin, wo die linke Partei auf Stimmergebnisse bis zu 90 Prozent kam. Wochenlange Ausgangssperren wurden über die Städte im Südosten der Türkei verhängt. Scharfschützen der Polizei schossen auf jeden, der sich vor die Tür wagte. Verletzte und Kranke starben, weil sie kein Krankenhaus erreichten. Tagelang blieben Leichen auf der Straße liegen. Jugendliche haben dann Barrikaden gebaut, damit die Panzer und Militärfahrzeuge nicht in die Gassen gelangen und wahllos auf die Häuser feuern konnten. Dies nahm die Armee zum Vorwand, um im Frühjahr dieses Jahres Nusaybin wochenlang aus schweren Waffen zu beschießen. Sogar Luftangriffe wurde auf die Stadt geflogen. Zehntausende Einwohner flohen. Nach dem Ende der Kämpfe hissten die Soldaten im Stile kolonialer Eroberer große türkische Fahnen über der zerstörten Stadt. Anschließend begann die Jagd auf HDP-Anhänger, denen die Polizei unterstellte, in Wahrheit PKK-Mitglieder und damit aus ihrer Sicht Terroristen zu sein. An den Zufahrtsstraßen von Nusaybin wurden Kontrollposten errichtet. Auch Cudis und Bagoks Namen fanden sich auf einer schwarzen Liste der gesuchten Personen. Das erfuhren die beiden von Freunden und einem Anwalt, der Zugang zu Polizeiprotokollen hatte. Ein bereits festgenommener Aktivist hatte ihre Namen unter Folter preisgegeben. »Einige unserer Freunde wurden schon verschleppt. Wir wissen nicht, was mit ihnen geschehen ist, denn es ist lebensgefährlich, sich bei den Behörden nach ihrem Verbleib zu erkundigen. Im Gegensatz zu bekannten Politikern lässt man einfache HDP-Mitglieder und Aktivisten wie uns kurzerhand verschwinden«, berichten Cudi und Bagok. Besonders unter dem seit dem Putschversuch im Juli geltenden Ausnahmezustand bestehe die Gefahr, einfach exekutiert zu werden. Polizei, Armee und islamistische Milizen machen Jagd auf HDP-Anhänger, verschleppen, foltern und ermorden sie. Anschließend heißt es, wieder sei ein »Terrorist neutralisiert« worden. Zuerst tauchten Cudi und Bagok in der Türkei unter. Da nirgendwo im Land Sicherheit bestand, wurde für sie ein Fluchthelfer gesucht, der die beiden Männer für zusammen 15.000 Euro in einem Lastwagen nach Bulgarien brachte. Dort stiegen sie in ein anderes Fahrzeug um, mit dem sie direkt nach Deutschland kamen. Die Flucht fiel ihnen nicht leicht. Bagok ist vor kurzem Vater geworden. Sein Kind ist jetzt neun Monate alt, doch er hat es nur vier Wochen lang sehen können. Auch Cudis vier Kinder müssen erst einmal ohne Vater aufwachsen. Seit Monaten können die beiden Geflüchteten keinen Kontakt zu ihren Angehörigen aufnehmen, um diese nicht weiter zu gefährden. Ihre Familien in Nusaybin wurden seit ihrem Abtauchen von der Polizei immer wieder schikaniert. Ein Bruder von Bagok wurde mehrfach festgenommen und schwer gefoltert, um seinen Aufenthaltsort preiszugeben. Selbst Cudis 14-jährigen Sohn, der ein Gymnasium in einer 100 Kilometer von Nusaybin entfernten Stadt besucht, befragten Sicherheitskräfte. »Mein Sohn musste mich verleugnen und sagte, dass ich nicht sein Vater sei«, erzählt Cudi. »Wir fürchten um unsere Familien. Wir müssen lernen, mit dieser Angst zu leben.« Nach den Panzern kamen schwere Bagger und Abrissfahrzeuge nach Nusaybin. Erst im November wurde die seit dem Frühjahr geltende Ausgangssperre über sechs nahe der Grenze zu Syrien gelegene südliche Stadtviertel von Nusaybin aufgehoben. Auf kurdischen Websites konnten Cudi und Bagok sehen, was von diesen einstmals dicht besiedelten Wohnvierteln noch übrig geblieben ist. Dort, wo früher das Leben pulsierte, wo Basare und Cafés waren, ist heute eine plane Steinwüste. Nur noch ein Minarett ragt aus der Trümmerlandschaft. »Es sieht dort heute nicht anders aus als in Kobanê und Aleppo in Syrien«, meint Cudi, während Bagok nicht einmal mehr erkennen kann, wo früher sein Wohnhaus stand. Nusaybin ist kein Einzelfall. Auch in Şırnak, Cizre, Silopi, der Altstadt von Diyarbakır und weiteren Orten wurden Wohnviertel zuerst sturmreif geschossen und dann von schweren Baufahrzeugen geschleift. Etwa eine halbe Million Kurdinnen und Kurden wurden innerhalb eines Jahres zu Binnenflüchtlingen. In mittlerweile mehr als 30 von der HDP regierten Städten im Südosten der Türkei wurden die gewählten Bürgermeister wegen vermeintlicher »Unterstützung des Terrorismus« abgesetzt, inhaftiert und durch einen Staatsbürokraten als Zwangsverwalter ersetzt. Das Bildungssystem in den kurdischen Landesteilen ist zusammengebrochen, die Regierung hat viele Schulen geschlossen und über 10.000 Lehrer entlassen, weil sie Mitglied einer Lehrergewerkschaft sind. Dutzende Kultur-, Kinder-, Frauen-, Flüchtlingsvereine wurden auf Grundlage des Ausnahmezustandes verboten. Die HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş und Figen Yüksedag sowie weitere HDP-Abgeordnete befinden sich seit Anfang November in Haft, ebenso wie Tausende HDP-Mitglieder und Funktionäre. Viele andere sind untergetaucht oder auf der Flucht. Ende November hat der Bürgermeister der ebenfalls an der türkisch-syrischen Grenze gelegenen Stadt Suruç, Orhan Şansal, in Deutschland Asyl beantragt. Vor zwei Jahren war er bekannt geworden, als seine Stadt zehntausende vor dem IS fliehende syrische Kurden aus Kobanê aufnahm. Nun ist auch er zum Flüchtling geworden. Der türkische Präsident Erdoğan, mit dem EU und Bundesregierung einen schmutzigen Deal zur Abwehr von Flüchtlingen geschlossen haben, ist selbst eine primäre Fluchtursache. »Wir wollen vorerst hierbleiben, weil wir nicht wissen, wohin wir gehen können«, meinen Cudi und Bagok in Berlin. »Wir hoffen auf Frieden und Demokratie in der Türkei, so dass wir zu unserer Familie, zu unseren Freunden in der Heimat zurückkehren können.«
Erschienen in Ossietzky 25/2016 |
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