von Florian Grams
"Ist Anne Frank lebendige Vergangenheit, oder ist es der in Holland als NS-Verbrecher verurteilte ehemalige SS-Brigadeführer Harster, der noch bis zum 18. April 1963 als Oberregierungsrat in München tätig gewesen war, obwohl er für das Schicksal der Juden in Holland mitverantwortlich gewesen ist? […] Die Vergangenheit ist lebendig. Anne Frank oder Harster, das ist die Frage. Ein Sowohl Als-auch ist ausgeschlossen, eine geistige und politische Koexistenz ist nicht praktikabel. Wir in der Bundesrepublik müssen wählen, sie oder ihn; beide sind Repräsentanten verschiedener Welten, Anne Frank steht für die eine, Harster für die andere […]." Diese Feststellung traf der ehemalige hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer im Rahmen einer Gedenkveranstaltung für die Autorin des berühmten Tagebuchs. Er hatte sich entschieden. Sein Name ist verbunden mit dem großen Frankfurter Ausschwitz-Prozess und dem Kampf um die juristische Ahndung der faschistischen Morde. Mit dieser Position gehörte Fritz Bauer in der jungen Bundesrepublik zu einer kleinen Minderheit im Land der Volksgemeinschaft, die in großen Teilen bis weit über das Jahr 1945 hinaus wirksam blieb. Allein war Fritz Bauer mit seinem Ansinnen jedoch nie. Andere unterstützten ihn oder traten in seine Fußstapfen. So etwa Joachim Perels, der eingreifende Politikwissenschaftler und Sohn des antifaschistischen Widerstandskämpfers Friedrich Justus Perels.
Zu Ehren des 70. Geburtstags von Joachim Perels fand am 21. und 22. April 2012 ein Symposium in Hannover statt, dessen Beiträge nun als Sammelband vorliegen. Hans-Peter Schneider, der geschäftsführende Direktor des Deutschen Instituts für Föderalismusforschung, berichtete in seiner Laudatio auf den Jubilar von dessen vielfältigen Interessen und Arbeitsfeldern. Studiert hat Perels Rechtswissenschaften, Philosophie, Soziologie, Politologie und Theologie. Der Laudator macht indes in allem Wirken des Geehrten das Bestreben aus, die Erinnerung wach zu halten und zugleich die Hoffnung zu nähren, "[…] dass die ‚Büchse der Pandora‘ mit den Geistern der Vergangenheit sich nie wieder öffnen wird." (324) Es ist dementsprechend folgerichtig, dass die Schülerinnen und Schüler von Joachim Perels sich zu dessen Lob vor allem dessen Auseinandersetzung mit dem Umgang mit dem deutschen Faschismus in der jungen Bundesrepublik zuwandten. Als zentralen Befund ihrer unterschiedlichen Beiträge formulierten sie: "Die Kontinuität von Funktionseliten des Nationalsozialismus in den Institutionen der jungen westdeutschen Demokratie hat Normen und Werte ausgehöhlt und damit ihre Ordnung und den Rechtsstaat beschädigt." (10) Die Belege für dieses Ergebnis liefern die Autorinnen und Autoren anhand einer Vielzahl von Untersuchungen, die wiederum unter den Überschriften Strafverfolgung von NS-Verbrechern, Kontinuitäten und Diskontinuitäten von Denkmustern, öffentliche Deutungen und Ausblick versammelt sind.
Unter der Überschrift Strafverfolgung von NS-Verbrechern finden sich Aufsätze, die sowohl das Scheitern der bundesdeutschen Justiz bei der Ahndung der faschistischen Verbrechen dokumentieren, so etwa über das Wirken des Bundesgerichthofes oder des Landgerichtes München im Umgang mit den Tätern. Deutlich wird, dass viele bundesdeutsche Gerichte die Rechtssetzungsgewalt der faschistischen Gerichte in vielen Fällen legitimierten. Dies bedeutete faktisch eine "[…] erneute Verurteilung der Widerstandskämpfer, die sich mit ihrem Leben für eine rechtsstaatliche Ordnung eingesetzt hatten." (50) Dass kurz nach der Befreiung vom Faschismus indes auch ein anderer Umgang mit der Vergangenheit möglich gewesen wäre, zeigt der Aufsatz von Ulrike Homann über den Obersten Gerichtshof für die Britische Zone, der in seinem Wirken um eine juristische Position rang, die die Opfer der Verbrechen in ihr Recht gesetzt hätte. Zu den Darstellungen von Gegenpositionen zum hegemonialen Umgang mit der Vergangenheit gehört auch die Würdigung der Person Fritz Bauers und seines Kampfes für die Humanität der Rechtsordnung durch Irmtrud Wojak.
Kontinuitäten und Diskontinuitäten von Denkmustern werden im vorliegenden Band sowohl anhand der Positionen von Konrad Adenauer und Theodor Heuss beleuchtet, als auch anhand des Fortwirkens antikommunistischer und eugenischer Haltungen. Betrieb Adenauer recht offensichtlich eine öffentliche Verharmlosung des Faschismus, um "[…] die Bundesrepublik mit der ehemaligen ‚Volksgemeinschaft‘ aufzubauen" (195), verfolgte Heuss eher eine Strategie der Umdeutung eines Großteils der Deutschen in Opfer, die von einigen wenigen Parteiführern in eine Verstrickung gezwungen worden seien, der nur mit Scham zu begegnen sei. Auf diese Weise öffnete der Bundespräsident eine Tür zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Faschismus, enthob die Deutschen aber zugleich der Notwendigkeit über Schuld und daraus notwendige politische Konsequenzen nachzudenken. Über Kontinuitäten von Denkmustern reflektiert auch Christopher R. Tenfelde in seinem Beitrag über den Düsseldorfer Prozess gegen das westdeutsche Friedenskomitee im Jahre 1959/1960. Er zeigt auf, wie dort in der Verfolgung von Kommunisten an antikommunistische Praxen angeschlossen wurde: "Zwar wurden die verfahrensrechtlichen Vorgaben im Wesentlichen eingehalten, aber die Justiz knüpfte ihre Sanktionen nicht ausschließlich an nachzuweisende empirische Tatbestände. Damit wurden zentrale Kategorien des materiellen Strafrechts mit totalitären Momenten des Gesinnungsstrafrechts verwoben und der Bereich strafbaren Tuns für den politischen Gegner unvorhersehbar weit vorverlegt." (221) So wie auf diese Weise der Antikommunismus in der Bundesrepublik fortlebte, wirkte auch das eugenische Menschenbild des Faschismus fort. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wurde zwar außer Vollzug gesetzt, doch nicht abgeschafft. In der Folge waren die Opfer von Zwangssterilisationen von Leistungen nach dem Bundesentschädigungsgesetz ausgeschlossen. Kathrin Braun und Svea Luise Herrmann konstatieren in ihrem Beitrag: "Ein wesentlicher Faktor in der Ausgestaltung sowie Anwendung des BEG waren also nicht die Verletzungen, die den Opfern angetan wurden, sondern vielmehr die Frage, ob man sich von den Gründen der Verletzung distanzieren wollte oder nicht." (230) Bei den Opfern von Zwangssterilisationen wollte man dies offenkundig nicht und setzte Unrecht fort.
Unter der Überschrift "Öffentliche Deutungen" wenden sich die Autoren der Sozialpsychologie der "Vergangenheitsbewältigung", dem Umgang der Evangelischen Kirche Deutschlands mit der faschistischen Vergangenheit und der Verstrickung des frühen "Spiegels" in rechte Netzwerke zu. In allen genannten Beiträgen wird deutlich, dass die faschistische Vergangenheit bis weit in die 1960er Jahre in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit in der Regel beschwiegen oder verharmlost wurde.
Im mit "Ausblick" überschriebenen Abschnitt stellt Susanne Benzler Überlegungen zu einer aktuellen Erziehung nach Ausschwitz an. Sie insistiert dabei auf die Notwendigkeit einer dialogischen politischen Bildung, die sich an den Themen der Lernenden orientiert, in der Absicht, "[…] die Welt anders als mit antisemitischen Erklärungen verständlich zu machen." (317) Beschlossen wird der Band mit einer Laudatio auf Joachim Perels, einem Grußwort des ehemaligen niedersächsischen Justizministers Busemann und einem Verzeichnis ausgewählter Schriften des Jubilars.
Neben den wissenschaftlichen Erträgen der Beiträge in diesem Buch liegt der Wert des vorliegenden Bandes in dem Nachweis der Aktualität des Kampfes gegen das Schweigen über den Faschismus oder die verharmlosende Rede über ihn. Immer noch bleibt mit den Autorinnen und Autoren festzuhalten, dass man sich zu entscheiden hat, ob man bei Anne Frank oder bei Wilhelm Harster steht, denn "[…] im Land von Lena, Partypatriotismus und Sommermärchen gab und gibt es eben doch einen nationalsozialistischen Untergrund" (262f.), dem es entgegen zu treten gilt.
Sonja Begalke / Claudia Fröhlich / Stephan Alexander Glienke (Hg.), Der halbierte Rechtsstaat. Demokratie und Recht in der frühen Bundesrepublik und die Integration von NS-Funktionseliten. Nomos-Verlag, Baden-Baden 2015, 367 S., 95,- €, ISBN-Nr. 978-3-8487-0151-3.
https://sopos.org/aufsaetze/585804cf66947/1.phtml
sopos 12/2016