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Entgrenzung, Durchdringung, Aneignung Der vielleicht problematischste Aspekt des neuen Weißbuchs betrifft eine Entwicklung, die von den sicherheitspolitischen Protagonisten der Berliner Republik seit dem Ende des Kalten Krieges beharrlich und konsequent vorangetrieben wurde, nachdem der Atlantischen Allianz dank Michail Gorbatschow ihr Feind im Osten abhandengekommen war und die Bundeswehr sich umständehalber auf der Suche nach einem neuen Auftrag befand. Den US-amerikanischen Senator Richard G. Lugar zitierend hatte der ehemalige NATO-Generalsekretär Manfred Wörner damals die prägnante Devise ausgegeben: »Out of area or out of business«, was bedeutet, dass sich das Militär neue Betätigungsfelder erschließen muss, wolle es nicht seine Existenzberechtigung in Frage gestellt sehen. Die Handlungsstrategien hierzu lassen sich unter die Begriffe Entgrenzung, Durchdringung und Aneignung subsumieren. Der erste dieser Schlüsselbegriffe, Entgrenzung, manifestiert sich sowohl geographisch als auch inhaltlich im Spektrum der Optionen, die für unterschiedlichste Einsätze deutscher Streitkräfte eröffnet wurden. Diese reichen von der »präventiven Selbstverteidigung« über die »antizipatorische Nothilfe für Bündnispartner«, den Missbrauch im Rahmen einer »reformulierten Responsibility to Protect« (Schutzverantwortung), die Aufgabenpriorisierung im Rahmen »internationaler Konfliktverhütung« bis hin zur zügellosen Nutzung der »Bundeswehr als Instrument der Außenpolitik«. Mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kalten Krieges haben Abertausende von BundeswehrsoldatInnen an Dutzenden Missionen unterschiedlichster Art und Intensität bis hin zu klassischen Kriegseinsätzen in aller Welt teilgenommen. Hunderte von ihnen sind dabei an Körper und Seele verwundet worden, viele wurden getötet, von den Opfern in den Reihen ihrer Gegner und vor allem unter der Zivilbevölkerung ganz zu schweigen – was das Weißbuch, kaum überraschend, auch tut. Eines der am häufigsten im Weißbuch 2016 aufscheinenden Wörter lautet »Vernetzung« beziehungsweise »vernetzen«. Es handelt sich dabei um einen jener glatten, positiv besetzten Modebegriffe, denn kaum jemand möchte isoliert sein. Diese Attitüde machen sich die Sicherheitsstrategen dienstbar, wenn sie den »vernetzten Ansatz« zur »zentralen Richtschnur unseres Regierungshandelns« erklären. »Unser Land«, so die Weißbuchschreiber, verfüge »über vielfältige Kompetenzen und Instrumente, die zur Bewältigung innerer und äußerer Herausforderungen eingesetzt werden.« Und eines der wichtigsten dieser Instrumente stellt die Bundeswehr dar, bleibt zu ergänzen. Denn darum geht es letztlich bei der ganzen Vernetzungs-Rhetorik, nämlich um Legitimitätsbeschaffung für das Militär, indem die Bundeswehr als unabdingbares und unverzichtbares Instrument der bundesdeutschen Außen- und Sicherheitspolitik im Bewusstsein einer verunsicherten Öffentlichkeit verankert wird. Wie praktisch mutet es daher an, dass sich in der Wahrnehmung des Verteidigungsministeriums, »in unserem vernetzten Ansatz … zivile und militärische Instrumente« ergänzen. Genau deshalb ist es der Leitung des Hauses wichtig, den »vernetzte[n] Ansatz … in der Bundeswehr weiter zu verankern und auszugestalten«, darüber hinaus gilt es, die »Zusammenarbeit zwischen Bundeswehr und staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren« weiter zu intensivieren und zwar »national wie international«. Neben der Kaperung und Kolonisierung auch zivilgesellschaftlicher, nichtstaatlicher Organisationen unter sicherheitspolitischen Vorzeichen sollen alle nur denkbaren Sicherheitsrisiken mittels des vernetzten Ansatzes bewältigt werden und zwar – darin liegt der tiefere Sinn des Ganzen – eben auch mit den als absolut unverzichtbar suggerierten militärischen Gewaltmitteln. Wie weit die Durchdringung des Zivilen mit dem Militärischen reicht, illustriert eindrucksvoll nachfolgende Weißbuch-Passage: »Die effektive Vernetzung relevanter Politikbereiche erhöht wesentlich die Aussichten erfolgreicher Resilienzbildung zur Abwehr hybrider Bedrohungen. Hierzu gehören auch ein besserer Schutz kritischer Infrastrukturen, der Abbau von Verwundbarkeiten im Energiesektor, Fragen des Zivil- und des Katastrophenschutzes, effiziente Grenzkontrollen, eine polizeilich garantierte innere Ordnung und schnell verlegbare, einsatzbereite militärische Kräfte. Politik, Medien und Gesellschaft sind gleichermaßen gefragt, wenn es darum geht, Propaganda zu entlarven und ihr mit faktenbasierter Kommunikation entgegenzutreten.« Unverkennbar spiegelt sich in einer derartigen Strategie der »Vernetzung« eine Tendenz zur umfassenden »Versicherheitlichung« von immer mehr Politikfeldern bis hin zur totalen Militarisierung von Staat und Gesellschaft wider. Der dritte Schlüsselbegriff neben Entgrenzung und Durchdringung schließlich lautet Aneignung. Der Terminus verweist auf die zu Zeiten der rot-grünen Regierungskoalition neuentwickelte außen- und sicherheitspolitische Option, die Streitkräfte offen zur nationalen Interessendurchsetzung in der Weltpolitik dienstbar zu machen. Gerhard Schröder gab die Parole von der nunmehr gebotenen »Enttabuisierung des Militärischen« aus. Seither ist Schluss mit der »bewährten Kultur der Zurückhaltung« in militärischen Dingen. Deutschland begann, sich mit Hilfe seines Militärs eine neue Rolle im internationalen System anzumaßen. Seinen paradigmatischen Ausdruck fand dieser Prozess in einem Ende 2013 gemeinsam von zwei führenden transatlantischen Lobbyorganisationen, dem German Marshall Fund of the United States (GMF) und der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), fabrizierten Machwerk, das den programmatischen Titel »Neue Macht – Neue Verantwortung. Elemente einer deutschen Außen- und Sicherheitspolitik für eine Welt im Umbruch« trägt. Letzteres floss umstandslos in die auf dem Forum der sogenannten Münchner Sicherheitskonferenz Anfang 2014 vom derzeit amtierenden »Trio Infernale« der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik – Bundespräsident Joachim Gauck, Außenminister Frank-Walter Steinmeier sowie Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen – intonierten Parolen für eine militärunterfütterte neudeutsche Machtpolitik ein. Dies hört sich dann so an: »Es ist trügerisch, sich vorzustellen, Deutschland sei geschützt vor den Verwerfungen unserer Zeit – wie eine Insel … Eben deshalb können die Folgen des Unterlassens ebenso gravierend wie die Folgen des Eingreifens sein – manchmal sogar gravierender.« (Joachim Gauck) »Der Einsatz von Militär ist ein äußerstes Mittel. Bei seinem Einsatz bleibt Zurückhaltung geboten. Allerdings darf eine Kultur der Zurückhaltung für Deutschland nicht zu einer Kultur des Heraushaltens werden. Deutschland ist zu groß, um Weltpolitik nur von der Außenlinie zu kommentieren.« (Frank-Walter Steinmeier) »Krisen und Konflikte betreffen jeden, der sich verantwortlich fühlt für internationale Stabilität … Daher ist Abwarten keine Option. Wenn wir über die Mittel und Fähigkeiten verfügen, dann haben wir auch eine Verantwortung, uns zu engagieren.« (Ursula von der Leyen) Was mit derlei Phrasen gemeint ist, wird im neuen Weißbuch ungeniert dargelegt, wenn dort beispielsweise der »Wohlstand unserer Bürgerinnen und Bürger durch Prosperität unserer Wirtschaft und freien sowie ungehinderten Welthandel« zum sicherheitspolitischen Interesse Deutschlands erklärt wird. Folgerichtig ergibt sich hieraus für die Bundeswehr als Auftrag, dass diese »gemeinsam mit Partnern und Verbündeten zur Abwehr sicherheitspolitischer Bedrohungen für unsere offene Gesellschaft und unsere freien und sicheren Welthandels- und Versorgungswege beizutragen« habe. Solch neokolonialistische bis -imperialistische Aussagen kontrastieren auffällig mit den Vorgaben aus höchstrichterlichem Munde, denn in seinem schon genannten Urteilsspruch hatte das Bundesverwaltungsgericht besonders herausgestrichen, dass »der Einsatz der Bundeswehr ›zur Verteidigung‹ mithin stets nur als Abwehr gegen einen ›militärischen Angriff‹ (›armed attack‹ nach Art. 51 UN-Charta) erlaubt [ist], jedoch nicht zur Verfolgung, Durchsetzung und Sicherung ökonomischer oder politischer Interessen«. Es drängt sich die Frage auf: Inwieweit hat die Sicherheitspolitik der Bundesrepublik Deutschland den Boden des Grundgesetzes längst verlassen? Um ihre Politik des mit kriegerischem Interventionismus gepaarten Neokolonialismus zu verbrämen, bedienen sich die Eliten der Berliner Republik des Neusprechs, so der Phrase von der »Übernahme von Führung und Verantwortung in der internationalen Politik«. Entsprechend handelt es sich bei den Begriffen »Führung« und »Verantwortung« um die meistgebrauchten im Weißbuch. Schon in der Einführung stellt Bundeskanzlerin Angela Merkel fest, dass »Deutschlands wirtschaftliches und politisches Gewicht … uns [verpflichtet], im Verbund mit unseren europäischen und transatlantischen Partnern Verantwortung für die Sicherheit Europas zu übernehmen«. Auf den nachfolgenden Seiten wird der Leserschaft dann ein ums andere Mal die geradezu im missionarischen Gewande daherkommende Botschaft von der notwendigen Übernahme – nicht zuletzt mittels militärischer Gewaltmittel – deutscher »Führung« und »Verantwortung« ins politische Kleinhirn gehämmert. Und als wäre die Geduld am Ende der Lektüre jener verteidigungsministeriellen Prosa nicht längst überstrapaziert, fasst Ursula von der Leyen im Schlussabsatz ihr sicherheitspolitisches Mantra in die Worte: »Damit steht Deutschland auch mit der Bundeswehr international und national für Bündnistreue und Verlässlichkeit – geleitet durch seine Interessen und verbunden mit der Bereitschaft, auch in Führung zu gehen sowie in der internationalen Sicherheitspolitik mehr Verantwortung zu übernehmen.« Im Klartext: Der Marschtritt deutscher Soldatenstiefel soll auch fürderhin weltweit unüberhörbar erschallen. Aufgrund dessen manifestiert sich im »Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr« viel eher ein Weißbuch zur Unsicherheit der Bundesrepublik Deutschland und eine alles andere als erbauliche Zukunft der deutschen Streitkräfte. Weitaus wichtiger und konstruktiver als jenes eher anachronistisch anmutende verteidigungsministerielle Manifest wäre dagegen im Sinne des sowohl grundgesetzlich wie völkerrechtlich normierten Friedensgebotes ein »Weißbuch zur Friedenspolitik der Bundesrepublik Deutschland«. Und demgemäß wäre der Leitspruch der Bundeswehr abzuändern von derzeit: »Wir. Dienen. Deutschland.« in künftig: »Wir. Dienen. Dem Frieden.« Dipl.-Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr a. D. und Vorstandsmitglied der kritischen SoldatInnenvereinigung »Darmstädter Signal«.
Erschienen in Ossietzky 24/2016 |
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