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Ist er des Mordes schuldig? 6,31 Millionen Menschen haben sich Mitte Oktober die ARD-Sendung »Terror – Ihr Urteil?« angesehen. 609.000, ein repräsentativer Querschnitt, betätigten sich danach per Telefon oder Internet als »Laiengeschworene«: 86,9 Prozent sprachen den Major frei, nur 13,1 Prozent befanden ihn »schuldig«. Unbekannt blieb die Zahl jener Mitmenschen, die sich diesem kalkulierten Gedankenspiel entzogen, weil sie merkten, dass sie ideologisch eingeseift wurden, und dass da in versimpelter Form der militärischen Einmischung in einen nicht-militärischen Hoheitsbereich das Wort geredet wurde. Ich habe nicht die Absicht, hier den Verlauf der ARD-Sendung nachzuzeichnen. Eingebettet war sie in die Plasberg-Talkshow »Hart aber fair«. Da saßen zwei Antagonisten in der Runde: der vormalige Innenminister Gerhart Baum, ein fast schon vergessener Liberaler, der sich als Hüter unserer Verfassung verstand – und Franz Josef Jung, vormals unter anderem Bundesverteidigungsminister, ein uneinsichtiger Reaktionär und erklärtermaßen bereit, auf unser Grundgesetz zu pfeifen. Dass er über einen ähnlichen Fall als politisch Verantwortlicher den Bundestag belog – wer weiß das noch? 140 unbewaffnete, meist jugendliche Afghanen bei Kundus massakriert, als sie Treibstoff aus zwei geklauten Lastwagen abzapften: ein Kriegsverbrechen, befohlen von einem Oberst namens Georg Klein? Ein anderer echter Fall, 2003: Der psychisch kranke Pilot eines kleinen Sportflugzeugs kreiste über Frankfurt und drohte, sich mit der Maschine auf die Deutsche Bank zu stürzen. Der Mann konnte zwar zur Landung überredet und in ärztliche Obhut gegeben werden. Die damalige rot-grüne Bundesregierung aber stilisierte das zu »Terrorismus im Luftraum« und ließ das sogenannte Luftsicherheitsgesetz beschließen. Es erlaubte für den Fall einer Flugzeugentführung den militärischen Abschuss der Passagiermaschine. Die Tötung unschuldiger Menschen sollte in der Annahme erlaubt sein, sie seien ohnehin dem Tod geweiht. Baum und der vormalige nordrhein-westfälische Innenminister Burkhard Hirscherhoben Verfassungsbeschwerde. Karlsruhe gab ihr statt und verwarf das Gesetz anno 2006. Es sei niemandem erlaubt, Leben gegen Leben abzuwägen und zu entscheiden, welches zu schonen und welches zu opfern sei. Das widerspreche den Artikeln 1 (Die Würde des Menschen ist unantastbar) und 2 (Recht auf Leben). Franz Josef Jung, Kriegsminister der neuen CDU/FDP-Regierung, damals gefragt, ob er ein von Terroristen gekapertes Verkehrsflugzeug mit 300 Passagieren abschießen ließe, wenn damit Gebäude angegriffen werden sollten: »Müsste ich einen solchen Befehl geben, würde ich es tun – danach allerdings sofort zurücktreten, denn ich würde ja das Leben unschuldiger Menschen zerstören, um höherwertige Rechtsgüter zu schützen.« Welche Rechtsgüter höherwertig sein könnten als das Leben eines Menschen, ließ er damals offen. Die Behauptung der ARD, ihre affektgeladene Inszenierung sei ergebnisoffen angelegt, ist mindestens ebenso infam wie Jung, als er, verantwortlicher Minister, im Bundestag zu dem Kriegsverbrechen in Kundus umfassend Auskunft geben sollte und nicht gab. Menschenverachtung ist ein Wesensmerkmal faschistischer Ideologie. Sie maßt sich an, Leben nach mehr oder weniger wertvoll zu unterscheiden. 86,9 Prozent der ARD-Zuschauer ließen aufgrund einer manipulativen Fernseh-Inszenierung die Konstruktion »übergesetzlicher Notstand« gelten, die meisten vermutlich, ohne zu merken, dass sie damit dem übelsten Rechtsnihilismus aufsaßen. In der nachfolgenden Talkshow war ein darob fassungsloser Gerhart Baum zu sehen. Ich habe mit ihm gelitten. In jedem Prozess zieht sich das Gericht nach den Plädoyers von Anklage und Verteidigung zur Beratung zurück. Dabei klären der oder die Berufsrichter für sich und vor allem für die Laiengeschworenen zuallererst die Rechtsgrundlagen, auf denen zu entscheiden ist. Diesen wesentlichen Schritt vor der Urteilsfindung überging die ARD und ließ ihre »Laiengeschworenen« absichtlich aus dem Bauch heraus entscheiden, nicht auf dem Fundament verstandenen Rechts. Das entlarvt die Absicht der ARD-Programmveranstalter: Gewöhnung der Massen an den Abbau liberaler Rechte, abnehmenden Friedenswillen und Achtung vor fremdem Leben, anzunehmende Polizeistaatlichkeit. Postdemokratische Zeiten: Missachtung des Volkswillens ist Normalität, auch staatlich vorangebrachter Massenmord, beschönigt mit dem Mantra »mehr internationale Verantwortung übernehmen«. Verfassungstreue Männer wie die vormaligen Minister Baum und Hirsch gelten als Dinos und werden von unseren öffentlich-rechtlichen, inzwischen subversiven Massenmedien als Außenseiter dargestellt. RTL hatte mit seinem Kuppelklassiker »Bauer sucht Frau« zur gleichen Sendezeit »nur« 4,72 Millionen Zuschauer. Ich beglückwünsche sie zu ihrem Gespür. Sie haben sich wenigstens zeitweise der ARD-Demagogie und ihrer US-geprägten Kreuzzugsmentalität (»Krieg gegen den Terror«) entzogen: Dass wir, die »Guten«, vom »Bösen« bedroht seien und mit allen Mitteln »Schlimmeres verhüten« müssten, notfalls sogar mit den Mitteln des »Bösen«. Da heiligt der Zweck die Mittel, und niemand soll mehr fragen, welche Mittel den Zweck geheiligt haben. So sehen die Akzeptanzstrategien der ARD-Intendanten in der Unterhaltungsbranche aus, entwickelt zum Herbeireden des Krieges. Der aber wird auf europäischem Boden geführt, und Fußballfans, Flugzeuginsassen und viele andere werden draufgehen.
Erschienen in Ossietzky 22/2016 |
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