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Sein unerwartet erdrutschartiger Sieg kam übrigens nur zustande, weil einige Unterhausabgeordnete den Parteilinken zuvor durch »geliehene« Stimmen auf den Wahlzettel befördert hatten und damit zugleich halfen, die erforderliche 15-Prozent-Hürde der Parlamentsfraktion zu überwinden. Zwar unterstützten ihn in der Urwahl nur wenige Abgeordnete, bei der Brief- und Onlinewahl aber wählten die Parteimitglieder und Sympathisanten Corbyn mit überwältigender Mehrheit zum Labour-Parteivorsitzenden. Weil die Mehrheit der Labour-Abgeordneten im Unterhaus, sprich viele Angehörige des New-Labour-Lagers, mit dem neuen Parteiführer partout keine gemeinsame politische Sache machen wollen, tobt seitdem ein innerparteilicher Grabenkrieg, der die seit 2010 offenbare historische Krise der britischen Arbeiterpartei heftig befeuert. Zum offenen Aufstand der sogenannten Parliamentary Labour Party kam es nach dem Referendum, bei dem auch viele Labour-Mitglieder und Sympathisanten für den Brexit votiert hatten. Die Labour-Parlamentarier entzogen Corbyn mit dem Vorwurf, er hätte sich nicht entschieden genug für den Verbleib der Briten in der EU eingesetzt, das Vertrauen und erzwangen eine erneute Parteivorsitzwahl. Sie ging am 21. September über die Bühne, und als drei Tage später das Ergebnis verkündet wurde, hatte Jeremy Corbyn mit 61,8 Prozent der Stimmen ein noch besseres Ergebnis als 2015 erzielt. Sein Herausforderer, der smarte Abgeordnete Owen Smith erhielt lediglich 38,2 Prozent der Stimmen. (Andere Länder, andere Modalitäten: Seit 2015 wird der LP-Chef per Urwahl von den Mitgliedern bestimmt. Als der Parteivorstand am 12. Juli die Abstimmung ansetzte, wurde festgelegt, dass nur Mitglieder, die bereits seit sechs Monaten Labour angehören, zugelassen waren. Zusätzlich konnten auch »registrierte Unterstützer« ihre Stimme abgeben – gegen einen Beitrag von 25 Pfund. Sie mussten sich vom 18. bis 20. Juli registrieren, was immerhin 183.000 taten.) Die Mehrheit der langjährigen, der wieder eingetretenen und der von Corbyn erfolgreich geworbenen neuen Parteimitglieder und Unterstützer war und ist mit den von Smith repräsentierten mittig-neoliberal ausgerichteten Politikvorstellungen alles andere als einverstanden. Sie drängt auf einen die »alte« Sozialdemokratie wiederbelebenden Kurs (die sozialistischen Parteien links von Labour sind in Großbritannien weit entfernt von der Möglichkeit, bei Kommunal- und Parlamentswahlen eine wahrnehmbare Rolle zu spielen). Bezeichnend war beider Wiederwahl von Jeremy Corbyn nicht zuletzt, dass er aus dem Lager der sogenannten affiliated supporters, den Gewerkschaftsmitgliedern, mit 60 Prozent zwei Prozent mehr Stimmen erhielt, als noch 2015. Dave Prentis, Generalsekretär der mit 1,3 Millionen Mitgliedern größten Gewerkschaft (des Öffentlichen Dienstes) UNISON, feierte den Sieg des 67-jährigen Parteilinken mit den Worten: »Jeremy Corbyn hat gewonnen, weil er die Wünsche der Labour-Mitglieder verstanden hat. Sie sind begeistert von seinem Versprechen, die Austeritätspolitik zu beenden, die ruinierten öffentlichen Dienste wieder instand zu setzen und eine neuartige Wirtschaftspolitik zu etablieren.« (eigene Übers. nach Guardian, 24.9.2016) Jeremy Corbyn rief gleich nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses die Mitglieder dazu auf, die tiefgreifenden strategischen, politischen, kulturellen und persönlichen Zerwürfnisse in der Partei zu überwinden. »Wir haben viel mehr Einigendes als Trennendes«, betonte er. Ob das gelingen kann und wird, ist gegenwärtig die große und historisch bemerkenswerte Frage. Jedenfalls haben seit einem guten halben Jahrhundert die Parteilinken in fast allen sozialdemokratischen Parteien Europas nicht mehr die Oberhand gewonnen. Nun hat Corbyn während seiner Zeit im Unterhaus immer Distanz zur überwiegend rechten Parliamentary Labour Party gewahrt, hat generell die Interessen und Anliegen der Parteilinken sowie auch der außerparlamentarischen gesellschaftlichen Bewegungen zu seiner Sache gemacht. Sollte er als nun erneut berufener Parteichef die Herkulesaufgabe meistern, zahlreiche der New Labour-»Veteranen« in der Parlamentsfraktion für den von ihm gewünschten sozialistischeren Kurs zumindest ansatzweise zu gewinnen, könnten das die Sozialdemokraten auf dem Kontinent als Signal nehmen, ihrerseits den fast unisono eingeschlagenen Kurs in die historische Austeritäts-Sackgasse zu stoppen. Und zwar einschließlich der sozialdemokratischen Parlamentsmitglieder im Europäischen beziehungsweise de facto EU-Parlament. Wird es nicht höchste Zeit, dass sie sich wahrnehmbar gegen die fatal neoliberale Politik der EU-Kommission stellen? Wird Jeremy Corbyn dereinst als großer Labour-Parteichef in die Geschichte eingehen? Wenn es ihm gelingt, die nach wie vor denkbare Aufspaltung der Partei zu verhindern, womöglich. Zur Erinnerung: 1916 spaltete sich die deutsche SPD in die Mehrheitssozialdemokratische Partei Deutschlands (MSDP) und die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) auf. Die USPD ging aus der damals in der SPD-Reichstagsfraktion entstandenen Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft hervor, die gegen den Ersten Weltkrieg und die Kriegskredite war. Nach der Parteigründung im April 1917 engagierten sich USPD-Mitglieder bei den Massenstreiks im April 1917 sowie in der Novemberrevolution von 1918. Zudem wirkte die Partei im Rat der Volksbeauftragten mit – in den Freistaaten Bayern und Sachsen stellte sie mit Kurt Eisner und Richard Lipinski die Ministerpräsidenten. Ab den frühen 1920er Jahren verlor die USPD, die 1920 fast 900.000 Mitglieder zählte, durch Rücktritte, Absetzungen und Wahlniederlagen zunehmend an Einfluss. Maßgeblich zu ihrem historischen Verglühen trug die Abspaltung der Spartakusgruppe bei, die im Januar 1919 die Kommunistische Partei Deutschlands gegründet hatte. Zunächst einmal muss es Jeremy Corbyn gelingen, eine wirksame Opposition gegen die seit dem 13. Juli 2016 regierende Premierministerin Theresa May aufzubauen. Dazu gehört auch eine zielführende Positionierung zum Brexit-Schlamassel, die bislang seitens Labour schlichtweg fehlt. Inzwischen sind zwei Bücher erschienen, die Mays U-Boot-Rolle (Submarine May) im Brexit-Getümmel hinterleuchten. Das eine stammt aus der Feder von Sir Craig Oliver, dem ehemaligen BBC-Nachrichtenchef, der ab 2011 in David Camerons Downing Street team mitarbeitete. Es trägt den Titel »Unleashing Demons: The Inside Story of Brexit”. Das andere kommt vom Politikchef der Sunday Times, Tim Shipmann: »All Out War: The Full Story of How Brexit Sank Britain’s Political Class”. Aus beiden Büchern geht hervor, dass sowohl die neue Premierministerin als auch ihr Schatzkanzler Philip Hammond ihren einstmaligen Chef und Ziehvater David Cameron mehrmals quasi im Regen stehen ließen, etwa als er mit ihnen seinen am 27. November 2015 dem britischen Volk verkündeten Plan erörterte, im Rat der EU auf eine Begrenzung der Einwanderung von Migranten aus EU-Mitgliedstaaten zu drängen. May und Hammond lehnten damals, wie die beiden Insider schreiben, Camerons Verhandlungsvorschlag ab. Allerdings nicht, um die unionseuropäische Personenfreizügigkeit unangetastet zu lassen, sondern weil es ihnen um drakonischere Maßnahmen ging – eben im Rahmen des inzwischen herbeigewählten Brexit. Ach ja, ein konkreter Zeitpunkt für das noch fehlende Austrittsgesuch steht immer noch nicht fest – laut Außenminister Boris Johnson soll es im Frühjahr 2017 erfolgen. Wie es scheint, will die Regierung das Unterhaus über das Gesuch selbst nicht abstimmen lassen, sondern lediglich gemäß der umstrittenen Royal Prerogative – der Befugnis der Exekutive, eine Entscheidung selbst zu fällen – informieren. Wie sagte noch Brexit-Minister David Davis am 12. September im Unterhaus sinngemäß: »Wir stehen vor der wohl kompliziertesten Verhandlung der Moderne, wenn nicht vor der kompliziertesten aller Zeiten.« Bis zu ihrem Beginn ist es wohl noch eine quälend lange, vor Überraschungen nicht gefeite Weile hin. Johann-Günther Königs Taschenbuch »Die spinnen, die Briten. Das Buch zum Brexit« liegt nach kurzer Zeit jetzt in 2. Auflage vor (Rowohlt rororo, 128 Seiten, 10 €).
Erschienen in Ossietzky 20/2016 |
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