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Scheinbar war es auch kein bedeutendes Jubiläum und keinesfalls eines, das der russophoben Ausrichtung des »deutschen Volkskörpers« dienen könnte: der 75. Jahrestag des Beginns der Blockade Leningrads durch die Hitlerwehrmacht am 8. September 1941. Und was war daran eigentlich so schlimm und erinnernswert? Hitler hatte beschlossen, nicht zu versuchen, die zweitgrößte Stadt der Sowjetunion und einst langjährige Hauptstadt des Zarenreiches zu erobern, sondern sie auszuhungern, denn in Straßenkämpfen wäre sie angesichts des zu erwartenden erbitterten Widerstandes, wenn überhaupt, nur unter großen Verlusten der Wehrmacht einzunehmen gewesen. So schnitten Divisionen der Heeresgruppe Nord, unterstützt von finnischen Truppen, die Stadt von allen Landverbindungen ab. Zugleich wurde sie beschossen und bombardiert. Der folgenschwerste Luftangriff galt einem Lagerhaus-Komplex im Süden, wodurch nahezu alle Vorräte vernichtet wurden. Mit diesem Bombardement und dem darauffolgenden eisigen Winter 1941/42 begann eine der schrecklichsten Hungerkatastrophen der Menschheitsgeschichte. Täglich starben zwischen 3000 und 6000 Menschen. Die Hungersnot war so groß, dass die Bewohner der Stadt in ihrem Überlebenskampf selbst Rinde, Ratten, Katzen, Pferdekadaver aßen. Tausende von Familien starben aus, und die 12-jährige Tanja Sawitschewa schrieb in ihrem Tagebuch: »Mama ist am 13. Mai um 7 Uhr 30 gestorben. Die Sawitschewys sind gestorben. Alle gestorben. Nur Tanja ist geblieben.« Der russische Schriftsteller Daniil Granin, der selbst an der Leningrader Front kämpfte und das Grauen in der eingeschlossenen Stadt erlebte und überlebte, rief es 2014 in einer Rede vor dem Deutschen Bundestag in Erinnerung, um unter anderem festzustellen: »Die Blockade hielt fast drei Millionen Menschen im Würgegriff … Es war die Leningrader Front, wo der Krieg zu einem Krieg gegen die Einwohner einer Stadt wurde, indem man anstelle von Soldaten den Hunger einmarschieren ließ.« Erst nach 871 Tagen gelang es der Roten Armee, die Stadtbelagerung zu durchbrechen, der rund eine Million Menschen zum Opfer gefallen waren. Am 27. Januar 1944 kündete ein Feuerwerk über der Newa vom Belagerungsende. In den nachfolgenden Jahrzehnten gab es keine Bewohner Leningrads, die nicht von dem von Deutschen begangenen grausamen Kriegsverbrechen betroffen waren. Wie würden deutsche Bürger wohl in dieser Stadt aufgenommen werden? Im Frühsommer 1957 reiste eine junge DDR-Bürgerin, die am Moskauer Staatlichen Institut für Kinomategrafie studierte, gemeinsam mit einer estnischen Mitstudentin in die Stadt an der Newa, um am dortigen Lenfilm-Studio ein Praktikum zu absolvieren. Als sich die beiden per Zug auf die Reise machten, wussten sie nicht, wo sie in der fremden Großstadt eine Unterkunft finden würden. Die Estin hatte lediglich die Adresse einer Leningrader Familie, die sie im Jahr zuvor bei deren Aufenthalt in Tallinn ein wenig betreut hatte. So hofften sie, dort einen Rat zu erhalten, wo sie preiswert unterkommen könnten. Nach einigem Suchen fanden sie das Haus, in dem die Familie Sokolow wohnte, in einem Raum einer Zweizimmerwohnung, die sie sich mit einer anderen Familie bei gemeinsamer Nutzung von Küche und Bad teilten. Die beiden Studentinnen wurden freundlich aufgenommen und nach russischer Sitte bewirtet, mit allem, was der Kühlschrank hergab. Auf die Frage, wo sie ein vom Stipendium bezahlbares Quartier finden könnten, kam die völlig überraschende Antwort, weshalb sie denn suchen wollten, sie könnten doch in ihrer Wohnung logieren, zumal das Zimmer in der nächsten Zeit unbewohnt sei, da sie den Sommer in einer Datsche verbringen würden. Versuche der beiden Quartiersuchenden, das großzügige Angebot abzulehnen, wurden freundlich, aber bestimmt zurückgewiesen. Und so geschah es. Die Deutsche und die Estin erhielten Wohnungsschlüssel und die Maßgabe, sich im gut gefüllten Kühlschrank zu bedienen. Nun waren die beiden Mitbewohner einer von zwei Parteien bewohnten Kommunalwohnung. Als das Praktikum der DDR-Studentin zu Ende ging, besuchte sie ihr Jugendfreund, ebenfalls DDR-Bürger, der am Moskauer Institut für Internationale Beziehungen studierte, eine Woche lang in der Zeit der wunderbaren weißen Nächte und nahm mit ausdrücklicher Genehmigung der Sokolows ebenfalls in deren Wohnung Quartier. Während sie die Sehenswürdigkeiten Leningrads und seiner Umgebung – vom Winterpalais und der Eremitage bis zu Zarskoje Selo und dem Katharinenpark – besuchten und dank ihrer Russischkenntnisse mit recht vielen Russen ins Gespräch kamen und sich als deutsche Studenten zu erkennen gaben, hörten sie kein böses Wort über die Deutschen, die den Leningradern so unermessliches Leid zugefügt hatten. Zum Abschluss ihres Aufenthaltes besuchten die beiden deutschen Studenten die Sokolows in ihrer Datsche am Finnischen Meerbusen. Diese waren gerade dabei, sich zum Mittagessen an den Tisch zu setzen. Selbstverständlich wurden die Gäste dazu eingeladen. Erst jetzt erzählten die Sokolows, dass sie die Blockade nur dank glücklicher Umstände überlebt hatten: Sie wurde über den vereisten Ladogasee evakuiert, er blieb als Arbeiter im Kirow-Werk bis zum Blockade-Ende in der Stadt. Die deutsche Praktikantin wollte auf keinen Fall die Wohnung der Sokolows kostenlos genutzt haben und bat eindringlich, ihr eine Summe zu nennen. Die Bitte wurde nahezu brüsk zurückgewiesen. Erst nach langem Drängen äußerte die Gastgeberin, dass sie sich über eine deutsche Gardine für ihr Zimmerfenster freuen würde. Dieser bescheidene Wunsch wurde ihr erfüllt. Nach ihrem herzlichen Abschied reisten die beiden Studenten am späten Abend mit dem Expresszug Krasnaja Strela (Roter Pfeil) nach Moskau zurück. Wer das von der Hitlerwehrmacht, aber eben von den Deutschen, den Leningradern zugefügte Leid vor Augen hat, könnte meinen, dass die selbstlose Warmherzigkeit der russischen Familie ins Reich der Legende gehört. Aber das ist nicht der Fall: Die damalige DDR-Studentin ist inzwischen seit Jahrzehnten meine Ehefrau, und ich war der junge Mann von der Moskauer Diplomatenschule. Wer das Geschehen dagegen mit anderen Augen betrachtet, kann meinen, dass die Gastfreundschaft nur das Ziel verfolgte, in den Besitz einer der »wunderbaren« deutschen Gardinen zu gelangen. Denn so sind die Russen: hinterlistig, habgierig und verschlagen. Unser Herr Bundespräsident widerspricht solchen Auffassungen, denn er liebt, wie er kundgab, das russische Volk »extrem«. Das ist auch der Grund, weshalb er in seiner langen Amtszeit keinen Tag Zeit hatte, Moskau oder gar die gepeinigte Heldenstadt Leningrad (heute Sankt Petersburg) zu besuchen.
Erschienen in Ossietzky 20/2016 |
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