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Ohne sich um die Frage zu scheren, wie sich das Bild wohl wandeln würde, wenn man mit dem gleichen Verfolgungseifer in alle Himmelsrichtungen schauen würde. Suchet, so werdet ihr finden. Suchet nicht, so werdet ihr Klagen unterbinden. So geschehen im Ukraine-Konflikt, bei den Panama-Papers, beim Doping, bei den Vorwürfen zu Syrien, schließlich beim Abschuss von MH17. Wahrlich, es geht nicht um Avancen an einen Musterknaben. Aber bitte schön auch nicht um Avancen von Musterknaben. Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Rechtstreue, Solidarität – oh, du lieber Augustin, alles ist hin. Wie soll man, so die westliche Unterstellung, mit Barbaren reden, die Verhungernden und Verdurstenden die Hilfskonvois bombardieren? Beweise für derartige Schuldzuweisungen sind offenbar nicht mehr nötig, in diesem chaotischen Krieg, in dem vor dem militärischen Eingreifen der Russen schon fünf Jahre lang bezahlte Söldner der Saudis, der Kataris, der Amis, der Briten, der Franzosen und jetzt auch der Türkei wild durcheinander bomben. Wer in welcher Absicht den Konvoi des Syrischen Arabischen Roten Halbmondes angegriffen hat, ist völlig unklar. Hilfslieferungen, die ihr Ziel im von den islamistischen Terroristen kontrollierten Ost-Aleppo erreicht hatten und wohl weitgehend entladen waren. 21 Tote, 21 LKW schwer beschädigt. Ein Video lässt Allahu-Akbar-Rufe vernehmen und eine hochauflösende russische Aufklärungsdrohne hat neben dem Konvoi ein Fahrzeug der sogenannten Rebellen mit großkalibrigem Granatwerfer ausgemacht. Keinerlei Bombenkrater. Aber Leute aus dem Anti-Assad-Bündnis können es schon deshalb nicht gewesen sein, weil man den Eigenen sowas vor der Weltöffentlichkeit grundsätzlich nicht zutraut. Da bleibt eben nur der Russe. So wieder im jüngsten Spiegel (40/16). Nach einem halbwegs logischen Motiv fragt niemand. Immerhin hatten zwei Tage zuvor Kampfjets der US-Koalition vier Angriffe auf eine Garnison der syrischen Armee am Flughafen in Deir ez-Zor geflogen. Mitten in der mühsam ausgehandelten Waffenruhe. Die damit von einem ihrer Unterhändler höchst selbst beendet wurde. 62 Tote und hundert Verletzte. Getötet mit den präzisesten Waffen der Welt. Aus Versehen. Keine Entschuldigung. Die außer Gefecht gesetzte Position ist umgehend von IS-Kämpfern eingenommen worden, auf dem Airport können Versorgungsflugzeuge für die eingeschlossene Bevölkerung nicht mehr landen. Aber darüber findet sich in den Großmedien nichts, seit es den angeblich russischen Angriff auf den Konvoi gibt. Das Denken in Zusammenhängen wird als Verschwörungstheorie denunziert. Das ist Bestandteil der Propagandaschlacht. »Ich möchte mich nicht an Verschwörungstheorien beteiligen«, grüßte im Spiegel den Gesslerhut auch der Luftfahrtexperte David Cenciotti. »Aber ich stelle fest, dass einige Teile des Gesamtbildes fehlen.« Das bezog sich auf die westliche Darstellung zum Absturz von MH17 und ist zwei Jahre alt. Aber dieselben Fehlstellen scheint auch der jüngste Untersuchungsbericht aufzuweisen, der Moskau belastet. Mit modernster Technik und größter Akribie konnte nachgewiesen werden, dass die ostukrainischen Separatisten eine Flugabwehrrakete angefordert haben, eine moderne Buk-Rakete aus Russland auch geliefert bekamen, und diese nach Absturz der Maschine wieder abgezogen wurde. Aber wer hatte tatsächlich die Absicht, eine Passagiermaschine zu treffen? Wer hat damals den schon gesperrten Luftraum über dem Kriegsgebiet für Passagiermaschinen wieder freigegeben? Befehl, Tathergang – darüber könnten die Teile des Gesamtbildes Aufschluss geben, die immer noch geheim gehalten werden: die Angaben der Flugsicherung, Radarbilder, Satellitenaufnahmen, die Daten des Flugschreibers der Boeing 777. Alle Beweisführungen sind parteiisch, sind machtpolitisch, unwürdig gegenüber den Opfern. So überfällt einen große Trauer und Ratlosigkeit angesichts der Bilder und Meldungen aus Syrien. Jahrelang hat die westliche Allianz die islamistischen Söldner gerüstet und damit den Krieg befeuert, statt ihn zu stoppen. NATO-Partner Türkei hat das Sarin geliefert, das Terroristen der al-Nusra-Front und des IS im syrischen Ghouta und später nahe Aleppo einsetzten, um den Verdacht auf Assad zu lenken (siehe Ossietzky 1 und 2/16). Die von Experten längst widerlegte Beschuldigung Assads wird, wie ebenfalls im jüngsten Spiegel, bis heute aufrechterhalten. Dabei ging es dem Westen nicht um Menschenrechte, auch nicht um die, die Assad tatsächlich brach. Vielmehr steht dessen Regierung strategischen und ökonomischen Interessen im Wege, man kennt das alles. Auch die Russen haben schließlich nicht aus reiner Nächstenliebe zu den Waffen gegriffen. Auch sie kämpfen um Einfluss. So mancher, der eigentlich jegliche militärische Gewalt ablehnt, ertappt sich jetzt bei dem Wunsch, der Schrecken ohne Ende möge von den in dieser Region strategisch überlegenen Russen durch ein Ende mit Schrecken beigelegt werden. Doch es geht nicht darum, den Krieg zu gewinnen. Der Friede muss gewonnen werden. So wie einst durch die Rote Armee. Die 900.000 verhungerten Leningrader hatten nicht mal die Fluchtkorridore, die es in Syrien trotz allem noch gibt. Womit unumgänglich daran zu erinnern ist, dass wir schon aus Gründen unserer schuldbeladenen Vergangenheit verpflichtet sind, den Nachkommen des von der Wehrmacht begangenen Völkermords, die uns unbegreiflicher Weise dennoch vergeben haben, mit Anstand zu begegnen. Man erinnere sich an die ergreifende Rede des 95-jährigen Schriftstellers Daniil Granin im Bundestag: »Ich, der ich als Soldat an vorderster Front vor Leningrad gekämpft habe, konnte es den Deutschen sehr lange nicht verzeihen, dass sie 900 Tage lang Zivilisten vernichtet haben, und zwar auf die qualvollste und unmenschlichste Art und Weise getötet haben, indem sie den Krieg nicht mit der Waffe in der Hand führten, sondern für die Menschen in der Stadt Bedingungen schufen, unter denen man nicht überleben konnte. Sie vernichteten Menschen, die sich nicht zur Wehr setzen konnten. Das war Nazismus in seiner ehrlosesten Ausprägung, ohne Mitleid und Erbarmen und bereit, den russischen Menschen das Schlimmste anzutun … Die Aussöhnung war für mich keine leichte Sache. Mir war klar, dass Hass ein Gefühl ist, das in eine Sackgasse führt. Hass hat keine Zukunft, er ist kontraproduktiv. Mir war klar, dass man vergeben können muss, aber auch nichts vergessen darf.« Die Art und Weise des Umgangs Europas mit Russland ist wie ein Rausch des Vergessens. Schuldzuweisungen, Sanktionen, ungleiches Maß in der Geschichtsschreibung. 1783 hatte die aus Deutschland kommende Zarin Katharina in Sewastopol den Stützpunkt der russischen Schwarzmeerflotte begründet. Im Zweiten Weltkrieg hat ihn die deutsche Wehrmacht besetzt – seine Rückeroberung 1944 durch die Rote Armee hat einen hohen Stellenwert im russischen Geschichtsbewusstsein. Durch den vom Westen beförderten Machtwechsel in Kiew war der Stützpunkt erneut gefährdet. Wieviel Geschichte darf man rückabwickeln, wenn Mehrheiten dies wollen? Zu dieser Frage, die auch in der deutschen Vereinigung eine Rolle spielte, gibt es international keine ernsthaften Debatten unter Völkerrechtlern, Politologen und Politikern. Wenn nicht billigen, so könnte man doch bedenken, warum die von der übergroßen Mehrheit der Bewohner gewollte Abtrennung der Krim als Akt verteidigungspolitischer Notwehr gesehen wird. Nötig, bevor man durch weitere Landnahme der NATO nicht mehr handlungsfähig ist. »Die Grundprinzipien der europäischen Friedensarchitektur« sind eben nicht erst durch die »Annexion der Krim« in Frage gestellt worden, wie unser Außenminister klagt, sondern spätestens 1999 durch die NATO. Auch damals ging es um Separatisten – kroatische, slowenische, vom Westen unterstützt, auch um russischen Einfluss zu schwächen. Vier Jahre nach dem Gemetzel in Srebrenica, als die Konflikte längst weitgehend unter Kontrolle waren, hat der Westen mit aktiver deutscher Beteiligung unter dem fadenscheinigen Vorwand einen Völkermord verhindern zu wollen, einen sinnlosen, zerstörerischen Angriffskrieg gegen Restjugoslawien geführt. Da spielten das Völkerrecht und territoriale Unversehrtheit keine Rolle, da wurden vom Verbündeten Russlands Gebiete abgetrennt, neue Grenzen gezogen und im Kosovo ungefragt die größte ausländische Militärbasis der US-Armee errichtet. Alle sind schuldig, vor allem wir Politiker, bekannte Putin vor nunmehr 15 Jahren in seiner heute ebenfalls verdrängten Rede vor dem Bundestag. Wir hätten es noch nicht gelernt, uns von den Stereotypen des Kalten Krieges zu befreien. Soviel selbstkritisches Entgegenkommen hört man von westlichen Politikern selten. Aber ohne eine moderne europäische Sicherheitsarchitektur lasse sich kein Vertrauensklima schaffen, so Putin. Danach hat es auch von russischer Seite immer wieder Versuche gegeben, das Unmögliche zu ermöglichen. Etwa im März vorigen Jahres, als versichert wurde, man wolle »nicht der Totengräber der Rüstungskontrolle« sein, sondern einen Vertrag, der die Realitäten berücksichtige. Doch von einem Bündnis unter Einbeziehung Russlands wollte die NATO nichts wissen. Sie setzte auf verharmlosend »Abschreckung« genannte existentielle Bedrohung: NATO-Osterweiterung, Modernisierung taktischer Atomwaffen, Raketenabwehrsysteme in Polen und Rumänien, die auch Angriffssysteme sind, wirtschaftliche Sanktionen und Truppenbewegungen an der russischen Grenze, auch Bundeswehreinsätze in Ex-Sowjetrepubliken, in denen einst die Wehrmacht wütete. Wandel durch Annäherung hat zu Entspannung geführt, nicht Wandel durch Abschreckung. Russland ist kein Gegensatz zu Europa, sondern sein Bestandteil. Bis zum Ural auch geografisch. Seine Kunst hat die europäische tief beeinflusst: Dostojewski, Tolstoi, Bulgakow, Eisenstein, Tschaikowski, Schostakowitsch, Chagall, El Lissitzky und ungezählte andere, bis heute. Europa verstümmelt sich mit der Absonderung von Russland – kulturell, ökonomisch, touristisch, menschlich. Europa ist auf Russland angewiesen, um in Frieden zu leben. Wir sind verdammt, uns zu vertragen. Und das ist gut so.
Erschienen in Ossietzky 20/2016 |
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