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Wer die Wirkungen auf das reale Leben betrachtet, ist es nicht. Gewiss, die Arbeitslosigkeit sinkt seit Jahren, und zwar nicht nur wegen der geschönten Statistiken – aber auf wessen Kosten? Die Zahl der Vollbeschäftigten ist in Deutschland so niedrig wie noch nie im vergangenen Vierteljahrhundert, dagegen war die Zahl der kurzzeitig oder geringfügig Beschäftigten, der Zeitarbeitskräfte und sogenannten Minijobber noch nie so hoch. Das Resultat ist ein sich verengender Binnenmarkt. Das hatte in der Vergangenheit zumeist Produktionssenkungen und erhöhte Arbeitslosigkeit zur Folge. Aber auch davon ist hierzulande wenig zu spüren. Die Leute sind mit ihrer sozialökonomischen Lage zwar nicht zufrieden, aber starker Widerstand kommt in der Regel nicht auf. Ein Vergleich mit der großen Weltwirtschaftskrise von 1929 bis 1932 und den katastrophalen Ergebnissen der restriktiven Haushaltspolitik des damaligen »Hungerkanzlers« Heinrich Brüning übersieht, dass das deutsche Großkapital und seine Regierenden sich ihrer Herrschaft zur Zeit ziemlich sicher sein können, ganz im Unterschied zur Situation in manchen anderen Ländern der Europäischen Union. Vielleicht ist ja Austeritätspolitik doch ein Mittel zur Krisenbewältigung. Schäuble-Deutschland scheint den Beweis dafür geliefert zu haben. Wer so argumentiert, blendet die Tatsache aus, dass diese Austeritätspolitik nach innen symbiotisch verbunden ist mit einer ökonomischen Expansionspolitik nach außen. Was stört das deutsche Großkapital eine Verengung des Binnenmarktes, wenn der Absatz im Ausland gesichert ist? Und der ist dann besonders sicher, wenn die Lohnstückkosten im Inland niedriger sind als die im Ausland, also der Binnenmarkt weiter verengt wird. Nach wie vor gilt auch für deutsche Unternehmen das Wort aus dem »Kommunistischen Manifest«, dass »die wohlfeilen Preise ihrer Waren« als »schwere Artillerie« im Kampf gegen ihre Konkurrenten dienen. Da fällt es leicht, die deutschen »Sekundärtugenden« Fleiß und Disziplin der angeblich in Südeuropa so verbreiteten Faulheit und Schlamperei gegenüberzustellen und darauf zu pochen, dass auch dort Haushaltskürzungen vorgenommen werden und die Staatsschulden verringert werden, kurzum, dass von Deutschland endlich gelernt werde, wie erfolgreich Austeritätspolitik ist. Was wäre das Resultat einer auf ganz Europa verallgemeinerten Austeritätspolitik? Um ein Bild zu gebrauchen: Es würde dasselbe passieren, wie in einem Kino mit schlechten Sichtverhältnissen, wo jemand aufsteht, um besser zu sehen, danach alle anderen auch und schließlich niemand mehr etwas sieht. Bei einer auf ganz Europa verallgemeinerten Austeritätspolitik wären deren Ursachen keineswegs beseitigt, und überdies würde die deutsche Industrie ihrer Absatzmärkte verlustig gehen. Es wäre daher, längerfristig betrachtet, sogar im Interesse des deutschen Großkapitals, dass die bislang betriebene Austeritätspolitik durch eine andere ersetzt wird. Das Hauptargument für eine Fortsetzung der Austeritätspolitik war und ist die Staatsverschuldung. Es müsse um einen ausgeglichenen Haushalt gekämpft werden, und dieser Kampf verbiete eine weitere Staatsverschuldung. Das Argument ist ebenso einleuchtend wie falsch. Schulden zu haben, das ist für die meisten der sogenannten einfachen Leute eine ganz schlimme Sache, nicht nur ökonomisch, auch moralisch. Deshalb sagen sie, wenn sie das Geld zurückgeben an jemanden, der für sie ein Bier oder einen Kaffee bezahlt oder ihnen ein paar Euro gepumpt hat, sie würden »sich ehrlich machen«. Sie meinen das zumeist auch so. Und sie zeigen sich einsichtig, wenn ihnen erklärt wird, dass der Staat kein Geld habe und deshalb »alle« den Gürtel enger schnallen müssten. Sie tun das, weil ja auch sie, im Falle des Verlusts von Arbeit und damit Einkommen, trotzdem die Raten für das noch nicht abbezahlte Auto und so weiter aufbringen, also den Gürtel enger schnallen müssen. Aber Schulden sind immer eine Sache der Gegenseitigkeit. Wer Schulden hat, schuldet jemandem etwas. Bei wem ist der Staat verschuldet? Wer sind seine Gläubiger? Von den Auslandsschulden abgesehen kann der Staat (also hierzulande Bund, Länder, Kommunen und Gemeinden) keine anderen als ausschließlich private Gläubiger haben; den Löwenanteil von etwa zwei Dritteln der Kreditsumme stellen die Banken. Sie sind die eigentlichen Gewinner der Staatsverschuldung. Deshalb haben Kapitalisten im Allgemeinen eine andere Sicht auf diese Dinge: »Schulden gehören mit zum Vermögen«, lautete die erste Regel des vor 1933 aktiven Großbankiers Carl Fürstenberg, und der Reedereibesitzer Wilhelm Cuno erklärte in seinem Amt als Reichskanzler 1922 zur sogenannten Reparationsfrage: Man kann auch stark sein als Schuldner, man muss nur genügend Schulden haben, dass der Gläubiger seine Existenz mitgefährdet sieht, wenn der Schuldner zusammenbricht. Der offenherzige Zynismus Cunos macht übrigens klar, warum die sogenannten einfachen Leute das ganz anders sehen müssen: Die haben nie so viel Schulden, dass deren Gläubiger ihre eigene Existenz gefährdet sähen. Selbst wenn jemand einer Bank Tausende schuldet, hat er das Problem, und nur wenn er ihr Millionen schuldet, hat die Bank das Problem. Wenn es nun aber in der Europäischen Union um Milliarden und inzwischen Billionen geht, hat die Europäische Zentralbank (EZB) das Problem. Und die Banken finden es nach wie vor nicht sonderlich lukrativ, mit dem Geld Unternehmen der Realwirtschaft zu kreditieren, um auf diese Weise Arbeitsplätze zu schaffen und eine daraus resultierende zahlungsfähige Nachfrage. Sie kaufen vielmehr Schuldverschreibungen des Staates, damit der wenigstens seine Zinsen an sie zahlen kann. Es ist kein Wunder, dass das Phänomen des »verschuldeten Steuerstaats« während des Ersten Weltkriegs entdeckt wurde, denn Krieg ist nach Auffassung von Marx »unmittelbar ökonomisch dasselbe, als wenn die Nation einen Teil ihres Kapitals ins Wasser würfe«. In der Tat, wenn die jährlich etwa anderthalb Billionen Euro, die für die Rüstung weltweit ausgegeben werden, in die Konversion von Rüstungs- zu Zivilindustrie und in andere friedenswirtschaftliche Maßnahmen investiert werden würden, dann sähe die Weltlage sehr anders aus, und auch erste Schritte zum Abbau der Staatsverschuldung könnten unternommen werden. Erste Schritte, denn die deutschen Staatsschulden allein sind mit zwei Billionen Euro höher als die weltweiten Rüstungsausgaben. Der Krieg war zwar nicht Ursache, wohl aber Anlass für den Entdecker dieser »Staatsform«, den österreichischen Ökonomen Rudolf Goldscheid, nach einem Ausweg zu suchen, und 1917 glaubte er, ihn im Übergang zum »Unternehmerstaat« gefunden zu haben. Das war nur eine Variante dessen, was einer seiner zeitgenössischen Kritiker, Joseph Schumpeter, den Übergang zum Staatskapitalismus genannt hat. Dieser Übergang hat sich allerdings stets als umkehrbar erwiesen, eben weil es in dieser Gesellschaft letztlich immer um die Sozialisierung der Verluste und die Privatisierung der Gewinne geht. Jedoch hat der Staat immer auch die Möglichkeit, sich seiner Schulden unter der Verletzung der Rechte seiner Gläubiger zu entledigen, einfach den Schuldendienst zu verweigern. Berühmt geworden ist der Ausspruch des Abbé Terray, von 1768 bis 1774 Finanzminister unter Ludwig XV.: Eine Regierung müsse mindestens alle hundert Jahre den Schuldendienst verweigern, um die reichen Kreditgeber an der Finanzierung des Staates zu beteiligen (wobei der Abbé selbstverständlich die Feststellung des Vaters seines Königs kannte: L'état – c'est moi; der Staat – das bin ich). Terray hätte sich auf eine Reihe hochberühmter Amtsvorgänger berufen können: Sully, Richelieu, Mazarin, Colbert – sie alle hatten bei ihrem Amtsantritt einfach die bis dahin aufgelaufenen Zahlungsverpflichtungen nicht anerkannt. Und niemand wird behaupten wollen, dass die Genannten damit die Gesellschaftsordnung gestürzt haben, deren Repräsentanten sie doch gewesen sind. Und auch die von Goldscheid ausgesprochene Motivation für den Umbau des »verschuldeten Steuerstaats« zu einem staatskapitalistischen Gebilde hat heute nichts von ihrer Gültigkeit verloren: »Es hat keinen Sinn, Klagelieder über die Höhe der sozialen Lasten anzustimmen, ist es doch die Wirtschaft selber, die diese produziert. Will man also soziale Lasten vermeiden, so gilt es gesellschaftliche Maßnahmen zu treffen, welche den Menschen Lebens- und Arbeitsbedingungen schaffen, die sie nicht unentrinnbar nötigen, dem Gemeinwesen immer wieder zur Last fallen zu müssen. Denn unbehobenes Leid kehrt vermehrt wieder als öffentliche Last.« Das wurde 1928 geschrieben, vor Ausbruch der Großen Weltwirtschaftskrise, und ist achtundachtzig Jahre später von ungebrochener Aktualität.
Erschienen in Ossietzky 20/2016 |
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