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Dabei sind Migrationen auch in der deutschen Geschichte kein neues Phänomen, sie haben aber in diesem Jahrtausend neue Konnotationen und Dimensionen angenommen, die dringend neue Antworten erfordern. In seiner faktenreichen Darstellung dokumentiert der Soziologe und Migrationsforscher Christian Jakob die sich seit gut 20 Jahren vollziehende Veränderung anschaulich in drei großen Kapiteln: »Der lange Aufstand«, so nennt er die erste Flüchtlingsbewegung der Jahre 1994 bis 2011, die von dem seit 1993 verschärften Asylgesetz geprägt war. Das Gesetz verursachte eine »asylpolitische Eiszeit« und hielt Flüchtlinge weitgehend von Deutschland fern, flankiert durch verschärftes EU-Recht (»Dublin« ab 1997). Der Spiegel hatte 1991, nach Herstellung der deutschen Einheit, vor einem »Ansturm der Armen« gewarnt. Und eben davor baut sich die Angst der Habenden auf: vor einem Abbau ihrer Besitzstände. An zwölf Einzelporträts zeigt Jakob, wie sich die Situation der oft jahrelang in Unsicherheit ausharrenden Asylbewerber nach und nach zuspitzte und schließlich auch durch deren Widerstand selbst veränderte. Zwei von ihnen wurden übrigens für ihr Engagement mit der Carl-von-Ossietzky-Medaille der Liga für Menschenrechte ausgezeichnet. Die detailreiche Bestandsaufnahme der letzten Jahre 2012 bis 2015, »Der Durchbruch«, schildert die sich nun durchsetzende neue Dynamik der Proteste und politischen Forderungen, mit denen sich Flüchtlinge gegen die Härten der Gesetze und Durchführungsbestimmungen wenden (jahrelange Wartezeiten, hohes Abschieberisiko, Isolation, Arbeits- und Studierverbot, Residenzpflicht et cetera) und deren Wahrnehmung in der deutschen Öffentlichkeit, die divergiert beziehungsweise pendelt zwischen aktiver Unterstützung und Hilfe bei Demos, Märschen und Hungerstreiks und andererseits zunehmender Ablehnung bis hin zu Straftaten zur Abwehr der Fremden. Jakob zeichnet die Entwicklung der Mobilisierung der Betroffenen nach und misst ihr große politische Bedeutung bei. So fand zum Beispiel ein Protestcamp iranischer Abschiebehäftlinge in Würzburg, 2012, die ihren Hungerstreik durch Zunähen ihrer Lippen verschärften, nationales Medieninteresse und durchbrach die »aufgezwungene Isolation«. Das machte anderen Flüchtlingen Mut, sich zu organisieren: Summer camps vom Rhein bis nach Erfurt, verstärkte Aktionen der »Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen« und von »The Voice Refugee Forum« sowie vereinzelter Aktionsgruppen bis hin zum Sternmarsch nach Berlin und dem umstrittenen Camp auf dem Oranienplatz bis in den Winter und darüber hinaus. Auch 2013 ging der Kampf für bessere Lebensbedingungen und gegen den »Rassismus der Behörden« von Bayern bis Berlin weiter. Der Schiffsbrand vor Lampedusa im Oktober mit weiteren 360 Todesopfern, die in Italien zum ersten Mal offizielle Staatstrauer auslösten und auch die EU-Führung (Kommissionspräsident José Barroso) auf den Plan riefen, wurde zu einem weiteren Meilenstein in der öffentlichen Wahrnehmung der Flüchtlinge als Menschen. Das Massensterben bei den Bootstransporten ging weiter und schließlich wurde »die Mitverantwortung Deutschlands für die Lage im Mittelmeer gesellschaftlich weitgehend anerkannt«, so der Autor, es folgen Dauermahnwachen in Berlin und private Initiativen zur Seenotrettung. Das dritte Kapitel, »Die Akteure«, benennt diejenigen, die diesen Aufbruch der Zivilgesellschaft mittragen: »die deutsche Linke, Aktivistinnen und Aktivisten, das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, die Gerichte, die Polizei, die Heimindustrie sowie schließlich die ›besorgten‹ Bürger«. Die Protestbewegungen der letzteren zeigen, wie groß die gesellschaftlichen Verwerfungen sind, und dass es um mehr geht als um die Sorge ums Geld oder um den Verteilungskampf unter den Armen. Im Innersten geht es um »das Projekt eines weißen Deutschland«, das verborgen ist hinter anderen Parolen und »Werten«. Denn, davon ist Jakob überzeugt, »was viele immer noch umtreibt, ist der Wunsch nach einer geschlossenen nationalen Identität, nach einem homogenen Volk«, seit langem eine wahrhaft »anachronistische Vorstellung«. Die Gewalt von rechts hat laut Bundeskriminalamt im Jahr 2015 allein 1005 Angriffe auf Flüchtlingsheime verursacht. Heidenau bei Dresden wird zum tristen Symbol. Zur Beantwortung der oft gestellten Frage nach der Ursache des sogenannten »Sinneswandels« der Pragmatikerin Angela Merkel (Spätsommer 2015) sowie auch der von den großen Medien mitgeprägten öffentlichen Meinung »von Hoyerswerda zu den ›Trains of Hope‹« ruft Jakob einiges in Erinnerung: Bis dahin waren laut UNO-Bericht die zugesagten Hilfszahlungen der westlichen Staaten an das Flüchtlingshilfswerk UNHCR zur Unterstützung der rund vier Millionen Flüchtlinge zur Hälfte ausgeblieben, all jener, die in den großen Sammellagern im Nahen Osten ausharrten, in der vagen Hoffnung, sie würden nach einiger Zeit in ihre meist syrischen Heimatorte zurückkehren. Die zunehmend katastrophale Versorgung vor Ort wurde von vielen als Auslöser für ihre Flucht 2015 über die Balkanroute angegeben. Das war also weniger überraschend als absehbar: »Die Realität der Migration zwingt die Institutionen und die Zivilgesellschaft zur Anpassung«, stellt Jakob fest und zitiert Niccolò Machiavelli: »Eine Republik oder ein Fürst müssen sich den Anschein geben, als täten sie aus Großmut, wozu sie die Notwendigkeit zwingt.« Das weiß offenbar auch die Kanzlerin. Jakob nennt auch die positive Haltung vieler Wirtschaftsverbände im Hinblick auf die Stabilisierung des Wirtschaftswachstums durch ein vermehrtes Arbeitskräftepotential und erinnert an die »optimistischen Prognosen von Volkswirtschaftlern und Sozialversicherungsexperten« für kommende Jahrzehnte. So forderte auch Bild seine Leser 2015 dazu auf, den Flüchtlingen zu helfen. Ein regelrechter »Solidaritätshype« geht los, die Bürger scheinen zunächst für den Staat einzuspringen. Aber bald ist auch die Rede von einer »Instrumentalisierung« der Flüchtlinge. Ein linker Aktivist denunziert am Bodensee die »Bigotterie« jener, die »humanitäre Hilfe [leisteten], oft ohne darüber nachzudenken, dass sie auch Ursache des Problems sind«. (Immerhin stammten zum Beispiel 80 Prozent der Steuereinnahmen Überlingens von der Waffenfirma Diehl.) Das sind die Widersprüche unseres Systems. Doch die Einsicht, dass »jeder Versuch, Migration zu verhindern, zum Scheitern verurteilt« ist (Kofi Annan, 2015), könnte zu einem Weg aus der Sackgasse führen. Jakob plädiert für ein europäisches Einwanderungsgesetz, das legalen Zugang nach Europa mit Freizügigkeit für Arbeitsmigranten ermöglicht und damit die ganze Asylproblematik entschärfen würde. Und dem Tod im Mittelmeer ein Ende setzte. Auch eine europäische Finanzierung mit differenzierter Lastenteilung unter den Aufnahmeländern würde die innereuropäischen Spannungen entschärfen und kostete die EU im Endeffekt weniger als ein definitives Scheitern Schengens. Solche Maßnahmen kämen einer Neuordnung Europas nahe. Jacobs Schilderung der komplexen Flüchtlingsfrage mit dem abschließenden Blick auf das europäische Umfeld wird abgerundet durch ein sinnvolles Glossar, das die einzelnen Begriffe der Asylgesetzgebung knapp erläutert, sowie durch eine Chronik derselben und ein Literaturverzeichnis. Ein nützliches Buch, empfehlenswert auch für Schulen. Denn so das Fazit: »Flüchtlinge und MigrantInnen haben dieses Land verändert, zum Besseren. Und egal, was jetzt geschieht: Dieser Wandel ist irreversibel. Er wird bleiben.« Christian Jakob: »Die Bleibenden. Wie Flüchtlinge Deutschland seit 20 Jahren verändern«, Ch. Links Verlag, 256 Seiten, 18 €
Erschienen in Ossietzky 19/2016 |
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