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Der Funktionär Kant bleibt mir in unangenehmster Erinnerung als brutal und verlogen und bis zum Schluss zu wirklich selbstkritischer Einsicht weder fähig noch willens.« Wenn das keine zu Herzen gehende Würdigung eines bedeutenden Schriftstellers ist, dessen Romane und Erzählungen zu den herausragenden Werken der deutschen Nachkriegsliteratur gehören, was dann? Dabei kommen sie aus berufenem Munde, denn Thierse hatte nicht nur als Vertreter der SPD das höchste Amt im Deutschen Bundestag inne, er ist auch ein Literaturexperte par excellence, schließlich arbeitete er von 1977 bis zur Großen Friedlichen Freiheitsrevolution als hochqualifizierter wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentralinstitut für Literaturgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR und galt in den Nachrevolutionsjahren als moralische Instanz bei der Förderung und Verteidigung der deutschen Kulturlandschaft und ihrer Institutionen. Für Letzteres wurde er im März dieses Jahres vom Spitzenverband der Bundeskulturverbände, dem Deutschen Kulturrat, mit dem »Kulturgroschen 2016«, der höchsten Auszeichnung der Verbände, geehrt. Sagt der Volksmund über jemand, bei ihm sei endlich der Groschen gefallen, dann ist gemeint: Endlich hat er es kapiert. Bei unserem Hermann-Kant-Verehrer war er schon vor der Ehrung mit dem »Kulturgroschen« längst gefallen. Das half ihm, wiederholt klarer als manch andere zu sehen und zu urteilen. Hatte er sich einmal eine Meinung gebildet, dann wich er nicht mehr von ihr ab, er vertrat sie unbeirrbar und kompromisslos. In einem besonderen Maße galt das für die Verurteilung des Staates, an dessen Lebensende er Vorsitzender der Ost-SPD wurde, nachdem sein Vorgänger Ibrahim Böhme der Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) überführt worden war. Seine Haltung ist eindeutig, und er fasste sie in die Worte: »Das ist auch schlicht meine Lebenserfahrung der DDR –, es war ein Staat des Unrechts, ein Unrechtsstaat.« Doch als guter Christ ließ er es dabei nicht bewenden. Nach seiner Auffassung hat die DDR-Einheitspartei SED den Osten Deutschlands zum »religionslosesten Land der ganzen Welt« gemacht: »Das SED-Regime war auf keinem Felde so ›erfolgreich‹ wie in der radikalen Entkirchlichung der Menschen«, stellte er anlässlich des 25. Jahrestags der deutschen Einheit anklagend und zugleich resignierend gegenüber der Katholischen Sonntagszeitung fest. Mit diesem »Kulturbruch« müsse man leben. Die friedliche Revolution von 1989, bei der Christen eine führende Rolle gespielt hätten, habe zeitweise die Hoffnung genährt, dass dieser »Kulturbruch rückabgewickelt« werden könne. Jetzt müsse man sehr nüchtern feststellen, »dass sich diese Hoffnung nicht bewahrheitet hat«. Trost fand und findet der gläubige Thierse in ganz und gar weltlichen Dingen. Wo er geht und steht, preist er den Fall der Mauer, denn »die Mauer war Symbol unseres Unglücks und bitterste Wirklichkeit eines menschenverachtenden Regimes ... Die Mauer war das größte Bauwerk, das die SED-Herrschaften zustande gebracht haben.« Und in seiner Freude darüber, dass dieses Bauwerk erfolgreich niedergerissen werden konnte, reihte er sich mit Eifer in die Kampfgruppe jener ein, die sich zum Ziel gesetzt hatten, eine andere Baulichkeit dem Erdboden gleich zu machen. Vor allem die »Bürgerrechtler« aus DDR-Zeiten, die Eppelmanns und Nookes, konnten es gar nicht erwarten, dass der Palast der Republik vom zentralen Platz der wiedergewonnenen Hauptstadt verschwindet. Und im früheren Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR und späteren Bundestagspräsident hatten sie einen eifrigen und einflussreichen Mitkämpfer. Als der Bundestag schließlich im Dezember 2006 über den endgültigen Abriss des Palastes debattierte, wies der SPD-Politiker Thierse (nunmehr nur noch Parlamentsvizepräsident) Forderungen nach einem Abrissstop energisch zurück und verteidigte mit Verve das Vorhaben, auf dem Areal das frühere Hohenzollernschloss, wenn auch nunmehr »Humboldt-Forum« genannt, wieder zu errichten. So wurde es unter dem Jubel der Schlossfreunde beschlossen. Doch einige Jahre später wurde die Freude getrübt. Vor rund zwei Monaten legte der Haushaltsausschuss des Bundestags das Einheitsdenkmal neben dem Schloss, die »Einheitswippe«, für die Thierse so gestritten hatte, auf Eis. Der Ex-Bundestagspräsident war außer sich und startete umgehend mit dem früheren Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, dem CDU-Politiker Günter Nooke, eine neue Initiative für die »Wippe«. Ein wahrer Demokrat und Einheitssieger gibt niemals auf! Seine Kämpfernatur hatte sich auch offenbart, als die PDS-Fraktion im Bundestag dem früheren Top-Aufklärer der DDR in der NATO-Zentrale, Rainer Rupp, Anfang 1999 eine Arbeit als sicherheitspolitischer Berater anbot. Höchst empört ob dieser Dreistigkeit spuckte der SPD-Bundestagspräsident Gift und Galle und kündigte an, von seinem Hausrecht Gebrauch zu machen und Rupp höchstpersönlich rauszuwerfen, sollte dieser den Bundestag betreten. Diese Reaktion war nur allzu verständlich, denn der Nordatlantikpakt ist, wie gut bekannt, ein Friedensbündnis oder, wie es der Hausrechtsinhaber bei anderer Gelegenheit formulierte, »kein Bündnis zur Umsetzung des Pazifismus«. Getragen von dieser tiefen inneren Überzeugung unterstützte er, wenn auch schweren Herzens, den 78-tägigen Bombenkrieg der NATO gegen Jugoslawien und charakterisierte die Gegner der Aggression als »einen Chor derer, die durch ihre massive Kritik an den NATO-Bombardements ihr jämmerliches Stillschweigen zu Miloševićs ethnischer Vertreibungs- und Mordpolitik zu kaschieren versuchen«. In einem offenen Brief an den Autor dieser Worte erlaubte sich Günter Gaus zu konstatieren, dass die Gleichsetzung der kritischen Warner vor dem Krieg der NATO mit Leuten, die jämmerlich stillschweigen, eine »Beleidigung« ist und damit für ihn das »Ende der Geduld« erreicht sei. Das war im höchsten Maße ungerecht, denn Wolfgang Thierse ist nicht nur in seiner Haltung zu den großen Fragen der Weltpolitik, wie eben zum Aggressionskrieg gegen Jugoslawien, mutig, sondern auch zu den kleinen Ärgernissen des Alltags im wiedervereinigten Deutschland. Wer erinnert sich nicht an sein tapferes Eintreten für die Berliner »Schrippen«, die die in seinen heimatlichen Stadtteil der Hauptstadt, dem Prenzlauer Berg, zugezogenen Schwaben angeblich »Wecken« nennen. Und er fügte gleich noch ein Ansinnen hinzu: »Ich wünsche mir, dass die Schwaben begreifen, dass sie jetzt in Berlin sind und nicht mehr in ihrer Kleinstadt mit Kehrwoche.« Genug der Lobhudelei für den Ex-Bundestagspräsidenten, er ist nun einmal ein Allerweltskerl. Mit seinem Nekrolog für den langjährigen Vorsitzenden des DDR-Schriftstellerverbandes hat er es ein übriges Mal offenbart. Und was sagt der tote Kant zu Thierses freundlichem Nachruf? »Der Mangel an Urteilskraft ist eigentlich das, was man Dummheit nennt, und einem solchen Gebrechen ist gar nicht abzuhelfen.« Allerdings stammt die treffende Replik nicht von Hermann, sondern von Immanuel Kant.
Erschienen in Ossietzky 18/2016 |
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