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Ich ging gedankenlos daran vorbei, ärgerte mich nur immer wieder über den oft pfützenreichen Holperweg, der vom Eingang hinführte zum Gleis der Stadtbahn Richtung Westen und zu den Treppen hoch zur sie kreuzenden Ringbahn. Dass er nicht mehr ausgebessert wurde, auch das war, ohne dass ich es ahnte, ein Vorzeichen. Als ich vor gut zwei Wochen wieder einmal von der Marktstraße hinüberlief zum Ostkreuz, bot sich mir ein völlig neues Bild: Man hatte den Eingang verlegt und den Damm zum größten Teil abgetragen; ich überblickte nun von der Straße aus fast den ganzen Bahnhof. Es war jener Damm, der in langer Nordwestkurve die Ringbahn mit der Stadtbahn verbunden hatte, so dass man von der einen zur anderen gelangte, ohne in Ostkreuz umsteigen zu müssen. In den siebziger Jahren wurde die Strecke noch von der S-Bahn bedient, einige Male bin ich an der Schönhauser Allee in einen der Züge dieser Linie gestiegen, sie waren wenig besetzt, verkehrten auch nur alle zwanzig Minuten, und bin ohne Halt vorbei am Ostkreuz, am Bahnsteig A, wo die Züge der Gegenrichtung hielten, zur Endstation Warschauer Straße gefahren. Einmal saß ein Paar mir schräg gegenüber, vorsichtig küsste der junge Mann die gut aussehende junge Frau neben sich, die es geschehen ließ, dabei aber stocksteif dasaß. Ein kleines Erinnerungsbündel, ich nehme es auf und verlagere es in eine Gegend meines Geistes, die ich Wunsch-Berlin genannt habe. In diesem Berlin kann ich noch immer an der Schönhauser Allee in einen der Züge nach Warschauer Straße steigen, nur das junge Paar fährt mit, und als wir am Ostkreuz vorbeikommen, am Bahnsteig A, legt sie den Arm um ihn und lächelt ihm zu. Der Hochbahnsteig A, ältester Teil des Bahnhofs, später nur noch Insel am Rande des Treibens hier, ist schon vor längerem verschwunden. Die großen Linden wurden gefällt, der gusseiserne Kabelschachtdeckel mit der preußischen Krone über dem Flügelrad, der dort oben ein Jahrhundert überdauert hatte, ist wahrscheinlich im Schutt untergegangen. Manches Mal hatte ich in den Jahren zuvor am Ostkreuz Halt gemacht, war die Treppe zu diesem Bahnsteig emporgestiegen, meist war ich allein an diesem Ort, bin langsam herumgewandert, habe Ausschau gehalten oder den Geräuschen der Stadt gelauscht: Lautsprecheransagen, Autohupen, fernes Rufen. Das alles lebt nun weiter in Wunsch-Berlin. Wieder gehe ich langsam auf und ab, finde im Gras unter den Linden ein Stück rotes Glas, einen zernarbten Groschen aus der Kaiserzeit, ein verwittertes Maiabzeichen aus den sechziger Jahren. Und die Gärten draußen in Birkenstein? Die Fabrikgelände in Alt-Stralau? Auch sie habe ich so bewahrt. Wann und wie ich auf diese Gärten gestoßen bin, kann ich kaum noch sagen. Es muss wohl schon zehn Jahre her sein; wahrscheinlich hatte ich sie von der S-Bahn aus gesehen. Umzäunt waren sie nicht mehr, verwilderte Apfelbäume standen zwischen hohem, hartem Gras, Brennnessel und Goldrute. Von da an fuhr ich jedes Jahr einmal im Frühherbst zusammen mit meiner Freundin B. bei schönem Wetter hinaus zu diesen Gärten, um die zwischen Gras und Blättern halb verborgenen rotgelben Äpfel zu sammeln, die herrlich dufteten, doch oft schon angefault und madig waren. Zu Hause am Küchentisch zerteilten und putzten wir sie, die meisten froren wir ein, und im Winter nahm B. sie für den Kuchen. Das letzte Mal war ich allein in Birkenstein, B. war krank. Schon im Vorjahr hatte man Bauarbeiten angekündigt, jetzt brauchte ich einige Zeit, das Gartenland zwischen den vielen halbfertigen Häusern überhaupt noch zu finden. Auch dieses Land hatte man fast völlig überbaut, ein letzter Rest mit zwei, drei Bäumen war von rotweißem Band umspannt. Eilends sammelte ich ein paar Äpfel ein, es lagen auch nur wenige herum, das Einfrieren lohnte nicht, ich machte Kompott daraus. Stralau, eine stille Gegend, nicht weit vom Ostkreuz gelegen, hatte ich schon in den achtziger Jahren erkundet. Es reihte sich da fast alles entlang einer wenig befahrenen Straße, die bis zur Spitze der Halbinsel reichte: Wohnhäuser aus der Zeit um 1900, Gärten, Kirche und Friedhof, Werksgelände, die Baracken eines Pflegeheims und zuletzt die Kneipe. Karl Marx hatte als Student einige Monate in Stralau gewohnt; Mitte der Sechziger wurde auf einem Grundstück nahebei eine Erinnerungsstätte eingerichtet. Hier kam man nun auch bis ans Ufer; manchmal saßen Leute auf einer der Bänke, schauten über die Spree hinüber nach Treptow und tranken Schnaps. 1990/91 mussten die Stralauer Betriebe allesamt schließen. Ich war in der Gegend weiterhin unterwegs, kam auch auf die Gelände der stillgelegten Fabriken. 1997 habe ich dort noch viel fotografiert: Werkstätten, Garagen, betonierte Höfe, wo im matten Licht der Novembersonne mal ein Wolga stand, mal ein vergessener Bauwagen. Im Hintergrund, vor dunklen Wolken, die ersten hohen Kräne. Bald war hier alles abgerissen und neu bebaut. Zu jener Zeit standen die Fabrikräume längst leer. Doch selbst wenn ich die kurze Zeit hätte nutzen können, in der schon nicht mehr gearbeitet wurde, aber noch alles an seinem Platze war, gefunden hätte ich doch bloß vergilbte Arbeitsschutz-Hefte, Wettbewerbs-Konzeptionen, Prämienlisten, zerrissene Mitgliedsbücher. Nur der große Schrank im Pausenraum bietet mehr, die Gewerkschaftsbibliothek nämlich, ein Buchgemisch aus allen Jahrzehnten der DDR; das meiste, kaum gelesen, aus den Fünfzigern: »Fern von Moskau« und »Der Ritter des Goldenen Sterns«, »Straßen in den neuen Tag«, »Gigant Atom« und »Unsere Welt von morgen«. Es ist eine Welt der großen Neubauten, der Schnellstraßen, der Autos mit den Riesenheckflossen. Genauso ein Auto steht nun vor dem Haus des Kindes am Strausberger Platz. Alle meine Freunde haben sich versammelt, die lebenden wie die toten; kaum sitzen wir, schon geht es los: Gemeinsam fahren wir auf der Stalinallee, die aber nicht mehr so heißt, Richtung Osten. Fahren vorbei an Wohnblocks, die geschmückt sind mit Säulen, Erkern und Arkaden, ein immerwährendes Fest scheint im Gange zu sein, überall Fahnen und bekränzte Bilder, Luftballons steigen in die Höhe. Die Fahrt wird schneller, die Allee noch breiter, nicht Häuser, Paläste stehen hier, in den Vorgärten Bananenstauden, man braucht nur zuzugreifen; ich schaue auf den Tacho: Zweihundert Kilometer pro Stunde, die Heckflossen sind mannshoch inzwischen, heben wir jetzt etwa ab? Doch wir schaffen es zu bremsen, und ich merke: Wir sind in Birkenstein. Da steigen wir alle aus, sammeln die duftenden Äpfel ein und vom großen Baum nahebei die ersten Nüsse.
Erschienen in Ossietzky 17/2016 |
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