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Dazu unerträgliche Geräusche, im Programm als »Musik« vermerkt. Sonst nichts, aber unaufhörlich, mehr als eine Stunde lang: das Schicksal der Menschheit eben. Aber der zweite Abend, weit weg von all dem: ruhig, leise, intensiv, auch mal komisch: »Avidya – das Gasthaus der Dunkelheit« von dem japanischen Regisseur und Ex-Psychiater Kuro Tanino und seiner Gruppe Niwa Gekidan Penino, eine Europapremiere. Auf einer Drehbühne, sehr realistisch, die Räume eines traditionellen japanischen Gasthauses mit heißen Quellen-Bädern in den Bergen, abseits, auch vom Dorf. Zwei Puppenspieler aus Tokio wurden per Brief zu einem Auftritt eingeladen. Die Herberge scheint menschenleer. Dann treffen dort einige, sehr unterschiedliche Menschen zusammen. Eine alte Frau, die sich von den Bädern Heilung verspricht, ein Blinder, der sein Gerbrechen nicht wahrhaben will, in einem Buch blättert, draußen Kräuter sammelt, und zwei Geishas, die ausspannen wollen. Und ein Mann, der bei uns Bademeister genannt würde, der den Gästen – in unterwürfiger Haltung – behilflich ist, für ein Trinkgeld. Denn, einen Herbergswirt gibt es nicht. Wer hat die Puppenspieler hierher beordert? Der Brief trägt keine Unterschrift. Eine kafkaeske Situation. Die neuen Gäste werden im Haus übernachten müssen, weil kein Bus mehr fährt. Bettzeug wird aus dem Wandschrank geholt, auf den Boden gebreitet. Alles scheint unkompliziert, wird sich jedoch zu einer psychischen Ausnahmesituation entwickeln. Die alte Frau versucht eine Kommunikation, ob ihnen etwas fehle – am Körper? Für den Blinden ist das »innere Auge« entscheidend. Der Puppenspieler – es ist der Ältere, der Vater – verneint die Seele, gibt nur kurze lakonische Antworten. Es wird deutlich, dass er sich selbst hasst, sich als »grässlich« empfindet. Warum? Er ist klein wie ein Kind, aber mit uraltem Gesicht. Sein großer Sohn hat sein Dasein nur ihm gewidmet, bemuttert den Vater, der erstaunlich selbständig ist und die übergroße Fürsorge barsch zurückweist. Immer wenn die Drehbühne einen anderen Raum zeigt, erklingt eine klagende Geige. Die Geishas bringen ihre Instrumente mit, dreisaitige Shamisen, die mit dem Plektron angerissen werden und aufreizend harte Töne erzeugen. Keine elektrische Verstärkung. Die Stille lässt das Zirpen der Grillen und Vogelgezwitscher hören. Eine intakte Natur? Eine Erzählerin gibt immer wieder in poetischen Worten Hinweise zur Handlung und zur Geschichte. Wichtiger sind die Gesten und die Atmosphäre, die unsichtbaren Fäden im Raum. Der Blinde möchte teilhaben, versucht den kleinen Puppenspieler zu berühren, er hört die Musik der Geishas von oben. Seine Finger nesteln an sich herum, um seine Anspannung zu bekämpfen? Oben sprechen die Mädchen von Bauarbeiten, die bald beginnen werden. Hier soll eine neue Bahnstrecke entstehen. Dann wird das alles verschwinden. Im Bad plätschert das Wasser, Dampf breitet sich aus über die Steine. Das lange Haar des Kleinen, das nun offen herunterhängt, hüllt ihn fast ein. Ist es eine Frau? Nicht wichtig. Der Bademeister massiert den Rücken und erntet Lob. Plötzlich wedelt er wild an sich herum, quält sich, Haltung zu bewahren, die menschliche Regung zu unterdrücken. Ein Fächer hilft. Später kommen die Geishas von einer Feier beschwipst zurück, sehr geräuschvoll, mit der Flasche in der Hand. Der Kleine soll auch trinken. Er lehnt ab. Was ist mit dem Puppentheater? Die Mädchen greifen zu ihren Shamisen, spielen, so intensiv, dass die alte Frau oben sich vor den Spiegel setzt, auch im Kimono. Ihr Wunschtraum, Geisha zu werden, zerschlug sich durch den Krieg. Sie verhüllt den Spiegel wieder. Unten lässt der Vater nun doch die Puppe auftreten, nackt und mit Riesenhänden: ein alter Mann. Der Spieler lässt sich umarmen von der Puppe, tanzt mit ihr auf dem Tisch. Dann legt er sich auf den Rücken, die Beine in der Luft, wie ein ausgelassenes Kind. Die Puppe leckt ihm mit langer roter Zunge das Gesicht. Was ist geschehen? Die Seele des Puppenspielers – der keine Seele haben will – ist sichtbar geworden. Berührt oder beschämt ziehen sich die anderen zurück. »Das war wunderbar« sagt die Alte. Hier hätte Schluss sein können. Doch philosophisch-buddhistische Erläuterungen über »Avidya«, die Ignoranz, eine der zwölf Ursachen für die Wiedergeburt, folgen. Der Puppenspieler kommentiert es mit »Aha«. Es passiert noch einiges – hinter den Fenstern im Nebenraum. Wir hören einen Orgasmus – der wohl ansteckend ist. Alle geraten außer sich. Eine Geisha hat sich den Bademeister geschnappt oder umgekehrt? Der Blinde spürt die Erregung, berührt die Puppe, stürzt nach draußen. Später heißt es: Die Menschheit sei »dem Irrsinn verfallen«. Die Bahn wird gebaut, man hört es. Ein Jahr ist vergangen. Das Gasthaus existiert noch. Vögel singen. Helles Licht zeigt beide Stockwerke. Eine Geisha mit Baby im Arm sagt: »Besuch ist jederzeit willkommen.« Ein irritierender, ein realistischer Schluss: der Beginn der Tourismusindustrie?
Erschienen in Ossietzky 17/2016 |
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