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Für die öffentliche Sicherheit wird militärisch aufgerüstet, der gesetzgeberische Aktionismus lässt eine Suche nach sozialpsychologischen oder gar politischen Ursachen der Taten gar nicht erst zu. »Wir« befinden uns im »totalen Krieg« (Sarkozy), was einen dauerhaften Ausnahmezustand rechtfertigt (Frankreich) und den grundgesetzwidrigen, aber von Konservativen schon lang geforderten Einsatz der Bundeswehr im Inland (Deutschland). Stellen wir also die naive Rückfrage: Haben »sie« keine Gründe? Terror, Amok, Attentat: Die Definition, die politische Bewertung und die Reaktion auf die Taten sind sehr unterschiedlich. Rechtsextremer Gewalt fielen in Deutschland seit 1990 nach Angaben der Amadeu Antionio Stiftung 178 Menschen zum Opfer, ohne dass der Staat diesen Terror systematisch bekämpft hätte – ganz im Gegenteil, wie wir an der »Aufarbeitung« der Mordserie, die im Zusammenhang mit dem sogenannten NSU gesehen wird, verfolgen können. Für Politik und Medien ist Terror islamistisch, die Ursachen für Amok in individueller Pathologie zu suchen. Die Opfer werden unterschiedlich betrauert. Und offensichtlich lässt sich jeder Anschlag, jeder Amoklauf gut für politische Ziele oder zur Ablenkung von gravierenden gesellschaftlichen Problemen nutzen. Das alles ist nicht neu und hat System. Als hasserfüllte Jugendliche unter johlender Zustimmung von Zuschauern in Hoyerswerda und Rostock Jagd auf Asylbewerber machten und ihre Heime in Brand setzten, reagierte die Politik rasch: nicht mit der Bekämpfung von Rassismus, sondern mit der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl. Wenn islamistische Terroristen in Frankreich Menschen umbringen, findet das in Politik und Medien eine ganz andere Resonanz als die verbrannten Opfer faschistischer Terroristen in Odessa. Kurz nach dem entsetzlichen Massaker in Nizza fielen nach Darstellung des syrischen UN-Botschafters al-Dschafari 164 Dorfbewohner einem Angriff der französischen Luftwaffe zum Opfer – sie waren eine kurze Pressenotiz wert. Wenn ein junger Mann – zur Bestätigung öffentlicher Klischees als Deutsch-Iraner bezeichnet, obwohl in Deutschland geboren und aufgewachsen – aus rechtsradikalen, fremdenfeindlichen Motiven gezielt Jugendliche aus anderen Ländern ermordet, finden seine ideologischen Motive kaum Erwähnung. Eine allgemeingültige Erklärung für Amoklauf oder eine Typologie des Täters gibt es ebenso wenig wie für einen Terroranschlag aus religiösen oder religiös verbrämten Motiven. Immer vermischen sich individuelle Ursachen (unglückliche Kindheit, Gewalterfahrung, Perspektivlosigkeit) mit verstärkenden Faktoren: etwa einer Politik, die gegenüber menschlichen Bedürfnissen blind ist oder demütigenden Erfahrungen. Wie viele andere junge (meist) Männer auch sind »unpolitische« Amokläufer Außenseiter, die sich dem allseits geforderten Wettbewerb und der Selbstoptimierung nicht gewachsen und deshalb gedemütigt fühlen. »Der gefährlichste Krieger von heute ist der Loser aus der 10a, der sich in Killerspielen Selbstwirksamkeit und Mut antrainiert hat« (Christian Füller, der Freitag Nr. 30). Die Energie, die Attentäter antreibt, ist ein menschenverachtender Hass, der stärker ist als der Lebenswille. Hass erwächst aus dem Gefühl von Ausgeliefertsein und Demütigung. Als Gewalt entlädt er sich, wenn damit Handlungsfähigkeit und Bedeutsamkeit erlangt werden können und wenn Gewalt als Problemlösung – auch Armut und Ausgrenzung sind Gewalt! – politisch und kulturell hoch in Kurs stehen. Je weniger gangbare Wege und legitime Möglichkeiten für Problembewältigung bestehen, desto irrationaler und destruktiver wird die Gegenwehr ausfallen. Gut nachvollziehbar hat E. L. Doctorow in seinem Roman »Ragtime« beschrieben, wie sich eine Spannung aufbaut, wenn Unrecht und Demütigung nicht aufgelöst werden können: Ein schwarzer Jazzpianist in den USA wird von Rassisten schikaniert und geschädigt. Als er Gerechtigkeit einklagen will, wird sie ihm entgegen allen Gesetzen und garantierten Verfassungsrechten verweigert. Er ist zutiefst gekränkt, verletzt und ohnmächtig – bis er mit Gewalt gegen die Staatsgewalt anzukämpfen beginnt und mit seiner tödlichen Rache zwar keine Gerechtigkeit schafft, aber wenigstens seine Opferrolle loswird. Was Terror ist, definiert die herrschende Elite. Nach den politischen Repräsentanten ist unsere politische Kultur durch Achtung der Menschenrechte und allzeit demokratische Entscheidungen und Handlungen geprägt. Genau diese Heuchelei, die offensichtliche Kluft zwischen weltweit hinausgebrülltem Anspruch und der täglich erfahrbaren schrecklichen Realität erzeugt nicht nur Elend und Verzweiflung, sondern auch Hass. Ein Wechsel der Perspektive zeigt: Wir, die »westliche Wertegemeinschaft«, reagieren nicht auf Terror, wir produzieren ihn. Der britische Regisseur und Schriftsteller Peter Ustinov sagte, Terrorismus sei der Krieg der Armen und der Krieg der Terrorismus der Reichen. Und angesichts der Menschheitsverbrechen Sklaverei und Kolonialismus, Eroberungs- und Vernichtungskriegen, Hunderten Millionen Armutstoten und einem Heer abgewehrter und dem Tod ausgelieferter Flüchtlinge ist es viel eher erklärungsbedürftig, dass Menschen trotz ihrer Traumata nicht häufiger durchdrehen. Wir sind die Guten. Andere mögen hinter diesem Bild Heuchelei, Menschenverachtung und Zynismus erkennen. Als die damalige US-Außenministerin Madeleine Albright gefragt wurde, ob die Sanktionen gegen den Irak den Preis – 500.000 tote Kinder – wert waren, antwortete sie: »... der Preis – wir glauben, es ist den Preis wert« (https://www.youtube.com/watch?v=MwXA1j9hqGA). Aufschlussreich auch die Schilderung des US-Generals Wesley Clark, wie nach 9/11 der Entscheidungsprozess in der Bush-Administration über die Kriege gegen Afghanistan und Irak ablief. Einen Zusammenhang zwischen Al Kaida und Saddam Hussein habe man zwar nicht gesehen, aber – wie ein Generalskollege sagte – »wir haben ein gutes Militär und wir können Regierungen platt machen ...« (vgl. Winfried Wolk, Ossietzky 18/2015, S. 645). Kurz danach seien die Pläne auf sechs weitere Länder – Syrien, Libanon, Libyen, Somalia, Sudan und Iran – ausgeweitet worden. Lügen zur Begründung der Kriege gegenüber der Bevölkerung, rabiate Durchsetzung wirtschaftlicher und strategischer Interessen der »westlichen Wertegemeinschaft« und die entsetzliche Zerstörung der Länder mit Bergen von Toten. Was tut das alles den Lebenden an? Einer der wichtigsten Strategen der US-Politik, Zbigniew Brzeziński, förderte Al Kaida, den Afghanistankrieg, die Destabilisierung des gesamten Nahen Ostens und den islamischen Extremismus. Die Schäden, die Toten und die Flüchtlinge, das Elend und Leid der Menschen, die Zerstörungen tat dieser »Großmeister der Geopolitik« ab mit der saloppen Bemerkung über »einige aufgebrachte Muslime« (zit. nach Alfred McCoy: »Schachbrett Welt«, Lettre International, 111; Übersetzung Bernhard Schmid).Könnte da ein Zusammenhang zum »islamischen Terror« bestehen? Die Menschen sind im Kalkül des Kapitals und seiner politischen Repräsentanten eine zu vernachlässigende Größe. Sie spielen einfach keine Rolle. Sie haben keine Rechte und keine Gefühle. Ihr Leben, das Leben von Millionen, taucht in keiner strategischen Planung als relevantes Entscheidungskriterium auf.Konsequenterweise wird an die Überlebenden bevorzugt in Kategorien ihrer Beherrschbarkeit und Ausbeutbarkeit gedacht. Während es jedem einleuchtet, dass eine Gemeinschaft langfristig nur auf der Basis von Gleichheit, Empathie und Solidarität funktionieren kann, ist diese Einsicht der Politik in einem neoliberal organisierten Land fremd, sie ist sogar kontraproduktiv. Der entfesselte globale Kapitalismus hinterlässt radikalisierte Verlierer. Wenn diese schon alles verloren haben, wollen sie wenigstens die Selbstachtung retten. Wenn sie für die vorherrschende Politik nur Nutzlose sind, wollen sie sich machtvoll ins Gedächtnis einbrennen und gleichzeitig die Handlungsinitiative an sich reißen. Zum Menschsein gehört existenziell das Bedürfnis nach Anerkennung, Wertschätzung, Selbstbestimmung. Deshalb ist jede Form von Ausbeutung, Unterdrückung, Besatzung fremder Territorien Gewalt. Sie führt zwar nicht unmittelbar zu Auflehnung oder zu organisiertem Widerstand. Viel häufiger folgt Resignation und Apathie, oder aber eine irrationale Reaktion, die nicht die Ursachen bekämpft, sondern Projektionsflächen etwa religiöser Art oder Sündenböcke sucht. Das Gefährliche an der Entwicklung ist nicht nur die Radikalisierung der Verlierer, sondern die Tatsache, dass die »Schlafwandler« der Politik nicht verstehen können und dürfen, welchen Beitrag sie zu dieser Entwicklung leisten. Würden sie auch nur die richtigen Fragen nach den Ursachen der Hassausbrüche stellen, müssten sie die Grundlagen der Politik ändern. Sie verkünden den »totalen Krieg« gegen den IS und für Sicherheit und treiben damit die Eskalation voran. In ihrer Realitätsverleugnung vertauschen sie Ursache und Wirkung von Terror und Hass und vermeiden tunlichst eine offene Diskussion über mögliche Hintergründe. Welche Sicherheit meinen sie – und wessen Sicherheit? In Frankreich wird im Windschatten der tödlichen Anschläge nicht nur der Ausnahmezustand verlängert, sondern gleichzeitig die neoliberale »Arbeitsmarktreform« im Schnellverfahren ohne parlamentarische Abstimmung erzwungen. Auch in Deutschland geht es offenkundig nicht um Analyse der Ursachen und rechtsstaatliche Verhinderung und Verfolgung der Taten. Die Angst nach den Attentaten wird vielmehr genutzt, um gesetzliche Grundlagen für das Aushebeln demokratischer Rechte zu schaffen: Ein »Integrationsgesetz« wird verabschiedet, das nach Einschätzung des Deutschen Instituts für Menschenrechte grund- und menschenrechtswidrig ist. Bundesinnenminister de Maizière legt Pläne für weitere Sicherheitsgesetze vor, die ganz gewiss nicht Attentate und Amokläufe verhindern, sondern den autoritären Staat befördern. All die hektischen Aktivitäten richten sich übrigens nicht gegen die Zunahme von Gewalt und Terror deutscher Rassisten gegen Flüchtlinge. Wir können nicht erwarten, dass die »Schlafwandler« zur Vernunft kommen. Der Widerstand gegen sie kann nur dann wirksam werden, wenn er sich gegen die Ursachen – und nicht gegen Sündenböcke – richtet: also gegen ein System, das Menschen mit all ihren Bedürfnissen und Gefühlen nur für Profitinteressen nutzt und dabei vor keiner Lüge, keiner Gewalt zurückschreckt. Egoismus und Gewalt (oder Ausbeutung und militärische Expansion) schaffen Hass und müssen verhindert werden. Menschen sind nicht von Natur aus gut oder schlecht; was sie denken und fühlen und tun, zu welchen Mitteln sie dabei greifen, ist sehr stark dadurch geprägt, ob sie Mitgefühl und Respekt erfahren.
Erschienen in Ossietzky 17/2016 |
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