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Nicht zum ersten Mal steht der Kleinbürger und Leberwurstesser Semjon Semjonowitsch Podsekalnikow, der durch seine Art nicht zu leben und nicht zu sterben weiß und auf lächerlich-schäbige Weise weiterlebt, was große Komik in sich birgt (weil der Typus ewig bleibt), auf der Bühne am Schiffbauerdamm: 1989 hatte der damalige Hausherr und Chefregisseur Manfred Wekwerth das Stück bereits inszeniert. Zwischen den Inszenierungen von 1989 und 2016 besteht ein Band in der Person einer Schauspielerin der Sonderklasse: Carmen-Maja Antoni, damals und heute als Schwiegermutter Serafina Iljinischna. Das Stück hat keine Genrebezeichnung – am ehesten dürfte die Bezeichnung Farce stimmen; doch steht es in großer Tradition, sowohl in literarischer als auch theatralischer, vor allem in der russischen. Sogar Stanislawski hatte sich 1931 für das Stück interessiert, 1932 inszenierte es Mejerhold und wurde verboten. So kam es zur russischen Erstaufführung erst 1981/82 im Moskauer Theater durch Valentin A. Plutschek. Autor Erdman war Verfolgung und Verbannung ausgesetzt, konnte sich erst nach Stalins Tod 1953 wieder als Schriftsteller behaupten; den Rang mit seinen beiden satirischen Komödien »Das Mandat« und »Der Selbstmörder« erreichte er nicht wieder. Zur Weltwirkung kamen sie erst postum. Die wichtigsten Lexika und Literaturgeschichten nennen sie nicht, doch der Literatur- und Theaterkritiker Bernhard Reich (»Im Wettlauf mit der Zeit, Erinnerungen«, 1970), der seit 1926 in der Sowjetunion lebte, hatte mich auf Erdman aufmerksam gemacht: »Einer der wichtigsten russischen Komödienautoren des Jahrhunderts! Aber Jude, daher konnte ihn Stalin nicht leiden, hatte ihn zum Glück nur verbannt und mit Schreibverbot belegt.« Als ich in den späten Sechzigern und frühen Siebzigern mehrfach zu Theaterreisen in der UdSSR war, nahm ich so oft wie möglich das Taganka wahr, etwa »Im Morgengrauen ist es noch still«, »Hamlet« mit Wyssotzki, »Leben des Galilei«, riesige Theatererfolge, schon am Vorabend einer Aufführung bildeten sich Schlangen an den Kassen. Ein damaliges Ensemblemitglied versorgte mich mit Billets und erzählte mir viel über Theater und Dramatik, besonders über Erdman, just nicht im Spielplan. Erdmans Bearbeitung von »Ein Held unserer Zeit« wurde zeitweise gespielt, »Der Selbstmörder« blieb verboten. So kam es zur Uraufführung 1969 in Göteborg und zur deutschsprachigen Erstaufführung 1970 am Zürcher Schauspielhaus. Danach bereicherte die bittere Farce-Comedy viele Spielstätten, auch in Berlin: 1970 die Schaubühne (Inszenierung: Hagen Müller-Stahl); 2009 kam als eine der letzten Arbeiten von Dimiter Gotscheff ein recht skurril-boshafter »Selbstmörder« auf die Bretter der Volksbühne. Es gibt viele Erfahrungen mit dem Werk. Der für die DT-Aufführung verantwortliche Regisseur Jean Bellorini, der bei Ariane Mnouchkine gearbeitet hat und derzeit das Theatre Gerard Philipe in Saint-Denis leitet, gleichzeitig für Szene und Musik zuständig, und sein Kollektiv hatten es leicht und schwer zugleich: historisch-philologisch-dramaturgisches Material gibt es reichlich, eine gut spielbare Übersetzung von Thomas Reschke liegt vor; doch daraus einen neuen Pfad, einen eleganten Zugang, der so nachdenklich wie lachen macht, wirkliche Komik erzeugt, zu finden, war gewiss nicht leicht. Ich habe mich überzeugt. Was hat man nun in diesem so schwierigen wie schönen Stück entdeckt, welche Einsicht können wir gewinnen, welch ästhetisches Erleben kann es bringen? Es ist Angriff gegen das unsterbliche Kleinbürgertum, den saturierten wie feigen Besitzegomanen, egal in welchem Kostüm, gegen die alles beherrschende Phrase. Das Spiel vollzieht sich auf offener Bühne, die als Dachboden erkennbar ist, im Zentrum ein Bett, der Ort des Podsekalnikow, also der da etwas mit einem Selbstmörder zu tun haben und mit einem Gegenüber reden will, das er zwischen allerlei »Leuten« und einem Gott nicht finden kann – seine Schwäche – Schwäche der Zeiten!? Man hat noch einen Brief Bulgakows an Stalin hinzugefügt – deutlicher geht es nimmer. Hie Realität, Macht, da Kunst und Vision! Es gibt wunderbar komödische Auftritte wie den des »Intelligenzlers« (Veit Schubert) oder den des Vaters Elipidus (Ursula Höpfner-Tabori). Es vereinen sich erfahrene Actores mit jungen Spielern – die Szenik des Ensembles macht Vergnügen und bildet Erkenntnis. Man fühlt sich fast wie in alten Zeiten in diesem Theatron. Der »Selbstmörder« mit einem langen Monolog, der zugleich Ansprache ans Publikum ist und mit hehren Sätzen und Zitaten schon beinahe ganz ernst wird: Von der Seele ist die Rede, die »Hosianna« ruft und einem Gott begegnet, der die lahme Podsekalnikow-Seele auffordert zu tanzen: »Die Seele fängt an zu tanzen und zu singen. ›Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf Erden, die eines guten Willens sind.‹ [Übrigens die genauere Übertragung als die üblich vorgetragene vom Wohlgefallen ...] Das verstehe ich. ... Was dann? Wie denken Sie darüber? Gibt es ein Leben nach dem Tode oder nicht? Ich frage Sie: eins oder nicht? Ja oder nein? Antworten Sie mir! Antworten Sie! Also morgen um zwölf.« Ein großer Text mit einigen Unbekannten. Georgios Tsivanoglou hat den Text ziemlich dialektisch angeboten, mit Verve. Wir gehen schnell aus der Himmels-Seelen-Ethik in die Kunst zurück, in die Sicht des Dichters, die auch unsere ist: »Ich ziehe meine zerfetzten Wolkenschuhe an,/ Und einsam/ Werde ich meine Straße gehen/ Und starrsinnig/ weiter Verse kauen.«
Erschienen in Ossietzky 15/2016 |
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