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Wir müssen leben – einerlei, wie viele Himmel eingestürzt sind.« Mit diesen Zeilen beginnt »Lady Chatterley«, die deutsche Fassung des berühmten Romans von D. H. Lawrence (anonyme autorisierte Übertragung aus dem Englischen, Reinbek 1973, S. 5). Sie beschreiben zumal die Stimmungslage, in der sich ein Großteil der Bevölkerung jenseits des Ärmelkanals gegenwärtig befindet. Am 23. Juni, einem ganz normalen Werktag, stimmten rund 46,5 Millionen wahlberechtigte Briten darüber ab, ob ihr Vereinigtes Königreich ein Mitglied der Europäischen Union bleiben oder aus dem Staatenbund austreten solle. Als sie in die polling stations beziehungsweise Wahllokale strömten, hielt ich mich bei Freunden in der Nähe von Oxford auf. Als wir um Mitternacht die von der BBC übertragenen ersten Auszählungsergebnisse verfolgten und es gegen zwei Uhr die ersten von den Redakteuren nicht erwarteten Abweichungen – sprich Gewinne für das Brexit-Lager – gab, zeichnete sich ab, was am frühen Morgen des 24. Juni Gewissheit wurde: Nach Auszählung aller 382 Wahlkreise stand fest: Für den Austritt aus der EU hatten sich 51,9 Prozent entschieden, für den Verbleib nur 48,1 Prozent. Nach der Verkündung des Brexit-Votums erklärte Premierminister David Cameron umgehend seinen Rücktritt. Allerdings nicht wie allgemein erwartet mit sofortiger Wirkung, sondern erst nach der Ernennung eines Nachfolgers oder einer Nachfolgerin. Er wollte damit sicherstellen, dass nicht das britische Volk, sondern lediglich die 150.000 Mitglieder der Conservative Party den nächsten Premier ins Amt heben würden. Die demokratisch eigentlich gebotene Ausschreibung von Neuwahlen, die allen britischen Wahlberechtigten die Chance gegeben hätte, darüber abzustimmen, wem sie die Verhandlungen mit der EU über die Zukunft der gegenseitigen Beziehungen anvertrauen wollen, unterblieb aus naheliegendem Grund: dem Machterhalt der mit einer absoluten Mehrheit im Parlament ausgestatteten Tories. Während in den Medien die möglichen Folgen dieses von den Brexiteers als Independence Day – Unabhängigkeitstag – ausgerufenen historischen Ereignisses ausgelotet wurden, recherchierte ich das Abstimmungsverhalten in einzelnen Wahlbezirken und fragte mich, warum ich nicht wirklich überrascht vom Votum für den Austritt war, obwohl ich eigentlich ein knappes Bremain, das Verbleiben in der EU, erwartet hatte. Schließlich hatten die Umfragen seit dem März ein Kopf-an-Kopf-Rennen vorhergesagt. Am 24. Juni, dem von den Remainers sogenannten Black Friday, erwies sich die in den deutschen Medien gern als pragmatisch und abwägend, als weltoffen und multikulturell erprobt dargestellte britische Welt als Fiktion. Und das lässt sich nicht zuletzt auf die überwiegend auf London fixierte Berichterstattung zurückführen. Der englische Süden mit der prosperierenden Metropole London ist nicht gleich Großbritannien, ist von den anderen britischen Regionen gleichsam abgeschieden – geographisch, politisch, wirtschaftlich und kulturell. Und genau das zeigte sich nach der Abstimmung. Während die Wahlbezirke im Großraum London und Umgebung wie erwartet überwiegend Bremain-Mehrheiten geliefert hatten, gab es in Mittel- und Nordengland zum Teil deutliche Brexit-Mehrheiten. Gewiss, die Schotten hatten erwartungsgemäß deutlich für Remain gestimmt, die Nordiren ebenso, aber die Waliser hatten die Vorhersagen ad absurdum geführt und mehrheitlich das NO angekreuzt – trotz all der EU-Förderprogramme für dieses Land. Selbst die zweitgrößte britische Stadt Birmingham mit den vielen dort lebenden Studenten hatte mehrheitlich für Leave votiert, genauso wie Sheffield. Immerhin, die Leute in den berühmten Universitätsstädten Cambridge und Oxford votierten massenhaft für Remain, auch in Liverpool, Manchester und Brighton überwogen die IN-Voten klar. Obwohl die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs in der EU für die Einwohner bislang gewiss nicht nachteilig war und obwohl die Remain-Kampagne mit ihren ökonomischen Austritts-Horrorszenarien dafür auch ausreichend Zahlen und Argumente lieferte, entschied sich die Mehrheit der Wahlberechtigten für den Brexit. Und das hatte Gründe: Zum einen stellte die Leave-Kampagne der auf Angst vor dem ökonomischen Super-GAU setzenden Remain-Kampagne gezielt die Panikmache vor überbordender Einwanderung, Überfremdung und überhandnehmender Macht der Bürokraten in Brüssel gegenüber. Zum anderen gelang es den Remainers nicht, ihren Landsleuten die EU als chancenreiches Zukunftsprojekt zu vermitteln, während die Brexiteers es verstanden, den Austritt als große Chance zur Erlangung von »Unabhängigkeit«, neuer »machtvoller Größe« und »Wiedererlangung der Kontrolle über das Land« darzustellen. Dabei nahmen es manche Vertreter beider Kampagnen mit der Wahrheit nicht so genau, bezichtigten sich gegenseitig der Lüge und verstanden es, die komplexe Angelegenheit EU durch extrem simplifizierte Ausführungen so zu verwischen, dass es bei der Abstimmung weniger um die Union als vielmehr um die britische Innenpolitik ging. Jedenfalls stimmten Umfragen zufolge genau jene Wählerschichten für den Ausstieg, die der Regierung und dem Establishment nicht mehr über den Weg trauen. Präziser: Neben konservativen EU-Gegnern waren dies vor allem die Verlierer der Globalisierung und wirtschaftlichen Umstrukturierung, die Masse der prekär Beschäftigten und Geringverdiener in den heruntergekommenen ehemaligen Industrieregionen in Englands Mitte und Norden. Bei ihnen verfing besonders die heftige Agitation einiger Brexiteers gegen Immigranten, zumal gegen EU-Bürgerinnen und -Bürger, obwohl Schatzkanzler George Osborne kurz vor der Abstimmung noch gedroht hatte, im Falle eines Brexit die Steuern auf Alkohol, Benzin und anderes mehr zu erhöhen. Einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf das Abstimmungsergebnis hatte zudem eine Macht, der es heutzutage eigentlich gar nicht so zugetraut wird: die Presse. Laut einer wissenschaftlichen Studie wurde in den Monaten vor dem Referendum in den reichweitenstarken britischen Zeitungen in 59 Prozent der Artikel der Austritt aus der EU propagiert. Unter Berücksichtigung der Auflagen hatten die Austrittsbefürworter sogar einen 82-prozentigen Medienanteil für ihre Botschaften. Von einem informativ angemessenen Mediendiskurs über die gewiss nicht nur lobenswerte Unionspolitik konnte folglich nicht die Rede sein. Um zu verdeutlichen, in welcher Form die reichweitenstarke Presse ihrer »Informationspflicht« nachkam, hier die Schlagzeile des Daily Express vom 23. Juni: »Get Britain out of the EU. It’s time to change the course of history. Vote Leave.« Nachdem Premierminister Cameron am 24. Juni seinen Rücktritt erklärt hatte, verkündete die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon, sie würde die rechtlichen Bedingungen für ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum prüfen lassen, weil Schottland die EU keinesfalls verlassen wolle. Auch thematisierten einige Kommentatoren besorgt die durch den Brexit-Entscheid entstandene Sandwich-Situation Nordirlands und spekulierten über mögliche neue Unruhen und Gefahren für den Friedensprozess. In der politischen Landschaft des Königreichs ihrer Majestät Elisabeth II. lief nach dem Referendum offenbar etwas gewaltig schief. Inzwischen liegt der Black Friday beziehungsweise Independence Day bereits einige Zeit zurück, sind die danach ausgebrochenen politischen Chaostage jedenfalls im Regierungslager beendet, haben sich die Gemüter vorerst halbwegs beruhigt. Die entgegen den Planungen nicht von den Parteimitgliedern der Tories, sondern von der Unterhausfraktion kurzerhand »hochgewählte« und bereits am 13. Juli inaugurierte Premierministerin Theresa May beteuerte umgehend: »Brexit bedeutet Brexit«. Fürwahr. May, die bis zur nächsten Parlamentswahl im Jahre 2020 die Regierung führen will, etablierte im Zuge ihrer Regierungsbildung sogleich das neue »Ministerium für den Austritt aus der Europäischen Union«. Ich komme demnächst darauf zurück. Von Johann-Günther König erscheint am 19. August bei Rowohlt rororo das Taschenbuch: »Die spinnen, die Briten. Das Buch zum Brexit« (128 Seiten, 10 €).
Erschienen in Ossietzky 15/2016 |
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