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Premierminister Yıldırım sowie Präsident Erdoğan schalteten sich in den Nachrichtensender CNN Türk ein, verurteilten den Putsch als Angelegenheit einer »verräterischen Minderheit« und riefen das Volk dazu auf, auf die Straßen zu gehen und gegen den Putsch anzukämpfen. Und in der Tat: Tausende folgten dem Ruf. Innerhalb weniger Stunden wurde klar, dass der Putsch zum Scheitern verurteilt war. Von Anfang an fehlte es den Putschisten an Unterstützung seitens der Gesellschaft und der restlichen Teile des Militärs. Sie hatten darauf gebaut, dass die große Anti-AKP-Stimmung dafür sorgen würde, dass die Menschen schnell den Putsch unterstützen. Das klappte nicht. Außerdem konnten die putschenden Kräfte weder zentrale Staatsinstitutionen wie das Hauptquartier des Geheimdienstes und der Sondereinsatzkräfte der Polizei in Ankara, die beide regierungstreu sind, erobern, noch hochrangige politische Gegner ausschalten. Für den von Anfang an umstrittenen Putsch erwiesen sich die vielen niedrigrangigen Soldaten, die an zentralen Orten des Putsches eingesetzt wurden, nicht als überzeugt und brutal genug, um zivile Massaker größeren Ausmaßes in Kauf zu nehmen, was notwendig gewesen wäre, um die Oberhand behalten oder erlangen zu können. Noch während sich alle fragten, was dieser Putsch sein sollte und von wem er warum ausging, fing Erdoğans Gegenputsch an. Unter den von ihm auf die Straße gerufenen »Demokratiehelden« befanden sich Tausende militante AKP-Anhänger und islamistisch-faschistische Banden. Sie griffen bewaffnet in die Auseinandersetzungen ein, erniedrigten, folterten und lynchten Soldaten, die sich ergeben hatten. In der gesamten Türkei marschierten derartige Banden mit islamistischen Slogans auf und griffen sofort linke, mehrheitlich alevitische und kurdische Viertel mit Unterstützung der Polizei an. Es war klar: Den gescheiterten Putschversuch wollte Erdoğan dafür nutzen, um mittels einer faschistoiden Straßenmobilisierung in die Offensive zu gehen und alle seine Gegner restlos auszuschalten. Dabei beschränkte er sich bei weitem nicht auf den Putschistenkreis im engeren Sinne, den er als Mitglieder der »Fetullah-Gülen-Terrororganisation« diffamierte, sondern holte weit aus. Es setzte eine Entlassungs- und Verhaftungsfurie ungekannten Maßstabs ein: Bis zum 20. Juli waren über 15.000 Angestellte des Bildungsministeriums entlassen und 21.000 PrivatlehrerInnen die Lizenz entzogen worden. Über 8700 Mitarbeiter des Innenministeriums wurden ihres Amtes enthoben, 6000 Soldaten wurden inhaftiert (darunter über 100 Generäle und Admiräle), über 7800 Polizisten entlassen, mehr als 2700 Richter und über 1500 Angestellte des Finanzministeriums sowie fast 500 Mitglieder der Religionsbehörde ihres Amtes enthoben. Zusätzlich wurden über 250 Mitarbeiter des Ministerialamtes und 70 Gouverneure entlassen, alle Universitätsdekane (1577) zum Rücktritt gezwungen und ein Ausreiseverbot für alle AkademikerInnen verhängt. Gleichzeitig wurde für drei Monate der Ausnahmezustand verhängt. Dabei lässt sich keinesfalls behaupten, dass der Putschversuch eine bloße Inszenierung von Erdoğan gewesen ist. Der Putsch war echt. Nur, und das wissen wir mittlerweile, haben die Behörden vom bevorstehenden Putsch erfahren, so dass die Putschisten eilig und verfrüht handeln mussten. Die AKP-nahen Institutionen und Militärs konnten noch vor dem Beginn des Putsches anfangen, Vorkehrungen zu treffen, und schnell auf den Putsch reagieren, sobald er sich im Gange befand. Den Putsch organisierten diejenigen Teile des Militärs – vermutlich in Bündnis mit Militärs der Fetullah-Gülen-Gemeinschaft –, die gegen den außen- und innenpolitischen Kurs der AKP aus Angst um die bestehende Ordnung am meisten opponierten. Seit 2013 sorgte der aggressive und autoritäre Kurs der AKP regelmäßig für wirtschaftliche und politische Krisen in der Türkei. Mit der NATO hatte man Probleme wegen Syrien, gegen die Kurden war man sehr »ineffektiv«, mit Russland hatte man es sich verdorben, Tourismus und Landwirtschaft brachen ein, Kapital zog ab und der Berg an Auslandsschulden des Privatsektors stieg mit jedem Wertverlust der türkischen Lira gegenüber dem US-Dollar und dem Euro. Deswegen traten schon seit 2013 Spaltungen und Risse innerhalb der herrschenden Klasse zutage: Immer mehr Teile der herrschenden Klassen waren der Meinung, dass sich die kapitalistische Hegemonie so nicht weiter aufrechterhalten lasse beziehungsweise der Kurs zu riskant sei und deswegen geändert werden müsse. Der fehlgeschlagene Putschversuch ist ein Teil und Ausdruck jener Spaltungen und Risse innerhalb der herrschenden Klasse. Dabei befand sich das Militär als politischer Akteur im Aufschwung. Seit der AKP die Gülen-Gemeinschaft als Partner im Staate wegbrach und es klar war, dass die Sondereinsatzkräfte der Polizei nicht allein den Krieg in Kurdistan führen können, wurden alle Militärs, die auf Veranlassung der AKP in den Jahren ab 2006 eingesperrt worden waren, wieder auf freien Fuß gesetzt. Das Militär, das in der Gesellschaft kein hohes Ansehen genoss, wurde Schritt für Schritt rehabilitiert. Es entstand ein organisches Bündnis zwischen dem Militär und der AKP. Praktisch betrachtet konnte seither das Militär in Nordkurdistan/der Südosttürkei vorbei an allen zivilen staatlichen Stellen schalten und walten, wie es wollte, ein Gesetzespaket, das erst vor kurzem verabschiedet wurde, sorgte de facto für eine juristische Immunität des Militärs bei seinem barbarischen Vorgehen. Das hieß aber nicht, dass sich das Militär der AKP unterordnete. Beide Akteure entstammen unterschiedlichen politischen und ideologischen Traditionen und weisen eine relative Autonomie bei ihren Handlungen auf. Der Generalstab scheint durchaus zufrieden zu sein mit dem Bündnis mit der AKP und rechnet sich aus, dass sich das Ansehen des Militärs dadurch noch weiter erhöht und das Militär weiter erstarkt. Deshalb stellte sich der Generalstab gegen den Putsch, nicht weil er besonders AKP-treu oder demokratisch ist. Aber es ist auch klar, dass ein beachtenswerter Teil des Militärs sich dafür entschied, die Notbremse zu ziehen, bevor die AKP das Land weiter in Instabilität versinken lassen würde. Bemerkenswert ist dabei Folgendes: Unter den unmittelbaren Putschisten befinden sich zwar sehr wohl auch hochrangige Generäle, aber die Zahl der aktiven Putschisten war insgesamt recht niedrig (ein paar Tausend). Dennoch hat es in der Putschnacht erstaunlich lange gebraucht, bis die internationale Gemeinschaft und diejenigen Teile des Militärs, die sich gegen den Putsch stellten, ihre Unterstützung für die Regierung und ihre Ablehnung des Putsches offenen artikulierten. Und auch nach dem Putsch intervenierten die regierungstreuen Militärs nur zaghaft und langsam. Es ist klar: Große Teile des Militärs und der internationalen Gemeinschaft warteten ab, ob der Putsch gelingen oder misslingen würde, und stellten sich erst dann auf die Seite der Regierung, als das Misslingen des Putsches absehbar war. Dies und der Umstand, dass überhaupt ein Putsch stattfand, zeigen auf, dass der Thron Erdoğans weitaus wackliger ist, als er sich nach außen präsentiert. Erdoğan und sein Kreis befinden sich nun allerdings in der Offensive eines Gegenputsches. Sehr schnell können sie aber siegestrunken ihre eigene Kraft überschätzen und sich übernehmen. Die nächste Krise stünde dann an. Vielleicht sogar in Form eines erneuten, diesmal aber großangelegten Militärputsches. Unter dem Titel »Türsteher Türkei« erschien im Mai ein Ossietzky-Themenheft mit Beiträgen von Karin Kulow, Ulla Jelpke, Inge Höger, Jane Zahn, Anja Flach, Murat Çakır, Winfried Wolk, Werner Ruf, Alp Kayserilioğlu, Thomas Schmidt, Axel Gehring, Rolf Gössner, Eckart Spoo, Werner Rügemer, Lothar Zieske, Harald Kretzschmar und Matthias Biskupek. Das Heft mit 36 Seiten kann unter ossietzky@interdruck.net zum Preis von 2,80 € zzgl. 1,50 € Versandkosten bestellt werden.
Erschienen in Ossietzky 15/2016 |
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