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Tonio rammt diesem daraufhin sein Messer in den Bauch und wird dann von seinen deutschen Kollegen gelyncht, indem sie ihn siebzig Meter vom Hochhaus in die Tiefe werfen. Dort schlägt er auf das Pflaster auf, vor »zehn dünne Männer, die waren müde und schlapp«. Degenhardt hat diese Ballade damals nicht in erster Linie als politisches Lied gegen Ausländerhass verstanden wissen wollen: Als Kommunist, der an Marx‘ Vision vom »proletarischen Internationalismus« glaubte, brandmarkte er mit ihr vor allem den Mangel an Klassenzusammenhalt von Arbeitern, die sich nicht gegen die nationalistisch-chauvinistischen Verhaltensmuster eines der Ihren verwahren. Und selbstverständlich war Degenhardt als promovierter Jurist nicht so naiv anzunehmen, dass die Dynamik hinter dem Handeln des Tonio ohne den beim Aufrichten eines Hauses üblichen Alkoholgenuss wohl genauso blutig verlaufen wäre. Aber die damalige Bundesrepublik in ihrem Spannungsfeld zwischen wirtschaftlicher Wachstumssucht und restaurativem Gesinnungserhalt war Degenhardt ein unerträgliches gesellschaftliches Umfeld, das solche Vorgänge wie den um Tonio Schiavo erst möglich machte. Denn inmitten der straffrei gebliebenen braunen Eliten, der dreisten Verdränger der nazistischen Vergangenheit, der vom Wirtschaftswunder selbsttrunkenen Nachkriegsgenerationen und der aufs Neue korrumpierten Arbeiterschaft entstand ein reaktionäres Klima, das sich heute, fünfzig Jahre später, unter ähnlichen Vorzeichen und mit gegenwärtigen Attributen, zu restituieren scheint. Als Degenhardts Tonio Schiavo starb, lief gerade das achte von insgesamt neun Anwerbeabkommen, die die verschiedenen Kabinette von Adenauer bis Kiesinger unter anderem mit Italien, Spanien, Griechenland, der Türkei und Tunesien in den Jahren von 1955 bis 1968 abgeschlossen hatten. Bis zum Anwerbestopp ausländischer Arbeitskräfte im Jahr der weltweiten Ölkrise 1973 kamen ungefähr 14 Millionen dieser Arbeitskräfte in die Altbundesrepublik, von denen zwölf Millionen schließlich wieder in ihre Heimat zurückkehrten. Wohlgelitten unter den deutschen Arbeitskollegen waren sie dennoch nicht. Besonders die Italiener, Griechen und Spanier wurden als Billiglohnkräfte zu Tarifgefährdern, und es schien vielen schon damals klar, dass nicht etwa die gewinnorientierten Unternehmen die wahren Verursacher der Arbeitsmarktkämpfe waren, sondern die Fremden, die »Spaghettifresser« und »Katzelmacher«. Dabei spielte auch keine Rolle, dass viele dieser Arbeitssuchenden aus europäischen Ländern kamen, in denen bis dahin autoritäre oder offen faschistische Regimes herrschten (Spanien, Portugal, Griechenland). Viele dieser Arbeitsemigranten waren als »Gastarbeiter« die Ausputzer an Arbeitsplätzen, deren Gesundheitsgefährdungen, technische Unzulänglichkeiten oder arbeitsethische Unwürdigkeit aus schlichtem Profitinteresse (zum Beispiel Kanalisationsarbeiten ohne Pumptechnik) deutschen Arbeitskräften für die dabei kalkulierte Entlohnung nicht mehr vermittelbar waren. Von einer Integration dieser nach Millionen zählenden Generation von Billigentlohnten in die Gesellschaft der Altbundesrepublik kann nicht die Rede sein, wenn man sich verdeutlicht, dass es im Ruhrgebiet oder in Süddeutschland tatsächlich Schilder an Gaststuben gegeben hat, die Gastarbeiter als »nicht erwünscht« ausschlossen. Doch auch die Situation der sogenannten Vertragsarbeiter aus Vietnam, Mozambique oder Algerien, die ab den siebziger Jahren in der DDR ihre nicht minder harte Arbeiten verrichteten mussten, konnte nicht gerade als klassensolidarisch bezeichnet werden. Diese ungefähr 94.000 Arbeitskräfte wurden relativ isoliert in für sie errichteten Wohnblöcken untergebracht und außerhalb des Fließbandalltages und verordneter Feierstunden mehr oder weniger sich selbst überlassen. Während die Partei- und Staatsführung ab 1980 in ihrer Kampagne »Ich leiste was – ich leiste mir was« zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität auf kleinbürgerliche Instinkte bei den ostdeutschen Werktätigen setzte, brachen sich auch hier dumpfe Ressentiments gegen die Fremden ihre Bahn, die Schimpfwörter gegen sie waren die gleichen wie im Westen, und das dumpfe Überlegenheitsgefühl manches sozial deklassierten Ostdeutschen war kein anderes als das des Verlierers in Duisburg oder eben Herne. Das Bild vom Fremden unter uns – es hat sich in beiden deutschen Teilen als stets negativ konnotiert durchsetzen können, hat Adjektive wie frech, respektlos, schmutzig, faul, kriminell, unzuverlässig, hinterlistig oder dumm als charakterlich determiniert festgeschrieben und gehört damit zum Arsenal populistischer Manipulation. Es scheint eine besondere Virulenz in der deutschen Abwehr »fremder« Menschen zu liegen, besonders dort, wo sich wirtschaftliche Interessen mit zivilgesellschaftlichen Regeln die Klinge kreuzen. Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen«, diese Feststellung des Schweizers Max Frisch brachte es auch für die Altbundesrepublik auf den Punkt. Heute spricht man im uckermärkischen Städtchen Schwedt und Umgebung wieder von den »Fremdarbeitern«, die in den spärlichen Wirtschaftsstandorten der Region arbeiten und in Pensionen untergebracht werden müssen. Dieser Begriff aus der NS-Zeit verrät mehr Kontinuität im Denken, als es die Abwesenheit des »Gastarbeiters« im Osten Deutschlands erklären würde. Doch wenn jegliche wirtschaftliche Legitimation des »Gastes« entfällt, wenn also offiziell nach keinen Arbeitskräften mehr gerufen wird, entlädt sich die gesamtdeutsche Angst vor dem vermeintlichen Überfremder nicht nur in sprachlichen Nuancen. Wo Bildungsbürger vor einigen Jahren noch von »Asylbewerbern« sprachen, ist jetzt »Asylant« vollkommen hinreichend. Und wenn der Fremde schon gar nicht mehr arbeitet, sondern dem »Volk« »auf der Tasche liegt«, so wird er zum Freiwild. Das begann mit dem Mord am angolanischen Arbeiter Amadeu Antonio in Eberswalde 1990 und setzt sich seitdem in den pogromähnlichen Brandanschlägen auf Wohnheime in ganz Deutschland fort. Hier eine Trennlinie zwischen ost- und westdeutschem Rassismus ziehen zu wollen, ist angesichts der deutschen Vergangenheit völlig abwegig. Seit uns in den vergangenen Monaten die wohl eine Million zählende Gruppe von Flüchtlingen erreichte, hat sich das hässliche Antlitz des gesamtdeutschen Ressentiments gegen Fremde wie nie zuvor seit 1945 gezeigt, haben sich Hass und Ausgrenzung in verschiedensten Nuancen derart manifestiert, dass man verzweifeln möchte angesichts des ausbrechenden Nationalchauvinismus. Und es sind nicht etwa die vermeintliche Islamisierung oder die »Flut« von angeblichen »Wirtschaftsflüchtlingen«, die das urdeutsche Gefühl der »Angst« beflügeln. Es sind nun einmal der schiere Egoismus, das nahezu infantile Nicht-abgeben-Wollen und die dabei in der deutschen Seele stets allgemeingegenwärtige Sehnsucht nach einer starken Hand, die es »denen da oben« zeigen soll. Einer starken Hand, die gleichzeitig aber auch »denen da unten«, den also noch unter mir Stehenden, verdeutlicht, wo der Hammer des Volkes hängt. Das abgrundtief Widerliche an rechtem Denken und Empfinden ist sein Reflex, sich für die eigene Misere, die eigenen Minderwertigkeitsgefühle oder individuellen Probleme an Schwächeren zu rächen, die strukturellen Urheber sozialer und gesellschaftlicher Ungerechtigkeit »da oben« jedoch insgeheim schweifwedelnd zu verehren. Im tiefsten Innern ist der nationalchauvinistische Deutsche auf den Fremden angewiesen, denn an ihm kann er seinen Hass verorten, den Kurs seiner Vorurteile ausrichten und sich selbst als den Stärkeren ansehen. Leider ist dies keine Vulgärpsychologie, sondern nachweisbarer Status quo. Abertausende Facebook-Einträge, Blogs und Kommentare in den Online-Medien sind Beweis genug.
Erschienen in Ossietzky 14/2016 |
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