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Juni die Bürger in Russland und anderen einstigen Sowjetrepubliken des Überfalls vor 75 Jahren gedenken, dann wird es offizielle Feierlichkeiten und Aufmärsche geben, vor allem aber lebendige Erinnerung an jene, die in diesem Krieg kämpften, arbeiteten, litten, starben. Wohl jede Familie der einstigen Sowjetunion hat ihre Opfer, ihr Leid. Der vertragsbrüchige Überfall des faschistischen Deutschland mit seinen Verbündeten auf die Sowjetunion veränderte das Jahrhundert. Der Zweite Weltkrieg bekam einen neuen Charakter: Er wurde zum Lebenskampf zwischen der Ausgeburt des Kapitalismus und einem sich sozialistisch verstehenden, keineswegs leuchtenden Sowjetstaat. Kommunisten und Sympathisanten in den von Deutschland bereits okkupierten Ländern konnten ihre Schockstarre nach dem geostrategisch wohl verständlichen, moralisch und politisch aber problematischen Vertragswerk vom 23. August 1939 und den Folgemonaten überwinden. Zum Glück ahnten sie mehr, als sie wussten, wie weit Stalin sich um des Friedens willen auf die deutschen Spielregeln eingelassen hatte. Sie hatten erlebt, dass die Rote Armee mit deutscher Duldung die russischen Staatsgrenzen von 1914 wiederherstellte und mit brachialer Gewalt im Baltikum, in der Westukraine, in Bessarabien die sowjetischen sozialen Umwälzungen der letzten Jahrzehnte nachholte. Eine soziale Befreiung um einen hohen Preis. Nun stand das Sowjetvolk an neuen Grenzen, die doch nicht zu halten waren, im Kampf gegen jene Macht, die bereits fast ganz Europa unter ihren Stiefel genommen hatte und sich nicht als »normaler« Besatzer, sondern als mörderischer Eroberer bewies. Der 22. Juni eröffnete aber auch die Chance, endlich all jene zusammenzuführen, die gegen Hitler kämpften. Der britische Premier Winston Churchill hatte noch am Tag des Überfalls im Wissen um die Widersprüche eines bis dato undenkbaren Bündnisses den Rundfunkhörern erklärt: Das Nazi-Regime »zeichnet sich in allen Formen der menschlichen Bosheit, in der Effizienz seiner Grausamkeit und wilder Aggression aus. Niemand war ein konsequenterer Gegner des Kommunismus als ich in den letzten fünfundzwanzig Jahren. Ich werde keine Worte zurücknehmen ... Aber all das tritt zurück vor dem Schauspiel, das sich jetzt abspielt. Die Vergangenheit mit ihren Verbrechen, ihren Torheiten und ihren Tragödien verblasst. Ich sehe die russischen Soldaten an der Schwelle ihres Heimatlandes stehen, sie bewachen die Felder, die ihre Väter seit undenklichen Zeiten bebaut haben. Ich sehe sie ihre Häuser bewachen, ihre Mütter und Ehefrauen beten für sie ... Die Gefahr für Russland ist Gefahr für uns und Gefahr für die Vereinigten Staaten ebenso wie der Grund für alle Russen, für ihr Haus und Hof zu kämpfen, ist Grund für freie Menschen und freie Völker in jedem Teil der Welt zu kämpfen.« (www.ibiblio.org/pha/policy/1941/410622d.html; eigene Übers.) Hitler sorgte mit seiner Aggression, bald auch mit der Kriegserklärung gegenüber den USA, dafür, dass sich eine Antihitlerkoalition aller demokratischen, friedliebenden Länder bildete, ungeachtet ihrer gesellschaftspolitischen Ausrichtung. Diese Staatenkoalition fand ihre Entsprechung in vielfältigen gemeinsamen Widerstandsaktionen im besetzten Europa und im Zusammenwirken von Antifaschisten weltweit. Gegen einen tödlichen Feind, gegen Völkermörder, die Juden, Sinti und Roma und Slawen umbrachten, zusammenzustehen, ist die fundamentale Erfahrung dieses nun tatsächlich neuartigen Krieges. Auch wenn sich rasch zeigen sollte, dass es nur ein Waffenstillstand in der großen Systemauseinandersetzung war, so legte dieses Bündnis die Grundlage für den Sieg über das Deutsche Reich, später auch Japan. Das Bündnis bot kurzzeitig nach der Befreiung die Chance, auch in Europa, auch in Deutschland, mit Denazifizierung, Demilitarisierung, Dezentralisierung und vor allem Demokratisierung eine neue Ordnung zu errichten. Leider gaben Wissenschaftler und Militärs der US-Führung den nuklearen big stick, den »großen Knüppel«, in die Hand. Die reaktionäre Fraktion der Herrschenden mit ihrer Skepsis hinsichtlich eines friedlichen Zusammenlebens mit der Sowjetunion und eines gemeinsamen Handelns von Demokraten, auch Kommunisten, konnte so wirksam zerschlagen werden. Die Opfer des Krieges und die Entwicklung nach 1945 mussten den Führern in Moskau nachdrücklich vor Augen führen, dass eine solche Situation wie 1941 nie wieder eintreten sollte, nämlich in eine Lage zu kommen, in der letztlich unerwartet ein Gegner das große Land im Osten überfallen könnte. Sowjetische Handlungsweisen im Kalten Krieg sind auf dieser Basis eher zu verstehen: Der Versuch, dem potentiellen Gegner, den USA, zumindest Paroli bieten zu können, auch die nach dem NATO-Doppelbeschluss rasende Angst vor einem westlichen Erstschlag mit dem Höhepunkt der Krise um das NATO-Manöver »Able Archer« im Herbst 1983. Insofern war Gorbatschows Entspannungsversuch, schließlich die Preisgabe des östlichen Bündnisses mit der faktischen Kalter-Krieg-Kapitulation in Jalta im Dezember 1989 der Höhepunkt des Suchens nach Auswegen. Genau dies wurde nicht honoriert. Den Westen, die USA und ihre Verbündeten stören nicht schlechthin die Kommunisten, sondern jede Großmacht, die das US-Primat nicht anerkennt. Darum die Einkreisung Russlands (und Chinas), die Welle von »bunten Revolutionen« und das Vorschieben von NATO-Strukturen und mittlerweile auch regulären Streitkräften. Moskau sieht sich erneut bedroht. Noch einmal wird es sich, wenn irgend möglich, nicht auf einen Kuhhandel wie 1939 oder 1989/90 einlassen. Die Toten des Großen Vaterländischen Krieges sind nicht nur im »Ewigen Regiment« als Mahnung präsent. Vom Autor erschien dieser Tage: »Meinst du, die Russen wollen Krieg? Über deutsche Hysterie und ihre Ursachen«, Verlag am Park, 192 Seiten, 14,99 €
Erschienen in Ossietzky 13/2016 |
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