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Die deutsche Bundesregierung als treibende Kraft hinter der Abschreckung versucht, rechtsradikalen Gruppen den Wind aus den Segeln zu nehmen, und will nicht die Geistesverwandtschaft erkennen, die zwischen dieser Politik und rassistischen Parolen besteht. EU und NATO müssen zwangsläufig so handeln, die »Festung Europa« ist alternativlos – unter den Prämissen eines imperialen Wirtschaftssystems. Eine Lösung der Flüchtlingsprobleme wäre langfristig nur unter Bedingungen möglich, die heute wie ein Märchen klingen: Rücknahme der ungleichen »Freihandelsabkommen« wie EPA (Economic Partnership Agreement), Widerruf der »Strukturanpassungsprogramme«, die zahlreichen Ländern vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank aufgezwungen wurden, Verbot von Landraub, verbindliche Regeln für schonenden Umgang mit Ressourcen und Klima, Verfolgung aller PolitikerInnen durch den Internationalen Strafgerichtshof, die andere Länder militärisch angreifen und gegen Völkerrecht verstoßen, und vieles andere mehr. Die Länge der Liste märchenhafter Wünsche zeigt den katastrophalen Zustand der Welt an und die absolut illusorisch erscheinende Möglichkeit, ihn für die Hunderte von Millionen bewohnbar zu machen, die Leidtragende der Raubzüge der Reichen sind. Statt diese Dinge wenigstens anzugehen, greift die EU zu rabiaten Methoden, um die Folgen ihrer rücksichtslosen Interessenpolitik von Europa fernzuhalten: Krieg gegen wehrlose Opfer zerbombter Länder und ausgehungerter Landstriche. Das Grundgerüst der Maßnahmen bilden Militäreinsätze und Zusammenarbeit mit autokratischen Herrschern und Diktatoren. Mare Nostrum, die Operation der italienischen Küstenwache und der Marine zur Rettung von Flüchtlingsbooten in Seenot, musste im Oktober 2014 eingestellt werden; in einem Jahr hatte sie etwa 150.000 Menschen gerettet. Ersetzt wurde sie durch militärische Operationen der EU-Grenzschutzagentur Frontex, die vor allem der »Eindämmung des Schlepper-unwesens« dienen. Zwar hatte die Agentur selbst vor den Folgen gewarnt: Der Rückzug von Mare Nostrum habe wahrscheinlich einen Anstieg der Todeszahlen zur Folge. Jeden weiteren Rettungseinsatz vor der Küste Libyens wollte aber die EU-Agentur unterbinden: Dieser entspreche »nicht dem operativen Plan«, wie die taz aus einem Brief vom Dezember 2014 zitiert (18.4.2016). Die Zahl der Ertrunkenen stieg in den folgenden Monaten laut taz »steil nach oben«. Derzeit sind NATO-Kriegsschiffe zwischen Griechenland und der Türkei im Einsatz, um »Menschenschleuserei und illegale Migration in der Ägäis zu bekämpfen«, wie NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg sagte. Von den Flüchtlingen redet er nicht. Der unter deutscher Führung stehende Marineverband Standing NATO Maritime Group 2 (SNMG 2) soll gerettete Flüchtlinge in die Türkei zurückschicken, auch wenn sie sich schon in griechischen Gewässern befinden. Die deutsche Fregatte »Karlsruhe«, ausgerüstet und bewaffnet für die weltweite Kriegführung, nimmt zwischen Italien und Nordafrika an der Militäroperation »Sophia« von EUNAVFOR Med teil, zusammen mit 1800 SoldatInnen. Sie halten Boote an, durchsuchen und beschlagnahmen sie, um sie dann »zurückzuleiten«. Militärführung und EU-Politiker geben aber den Einsatz hochgerüsteter NATO-Kriegsschiffe als humanitäre Tat aus. Der tatsächliche Zweck – Abschreckung der Flüchtenden, Abschottung Europas – heiligt offensichtlich alle Mittel. Beim Deal mit der Türkei spielt Erdoğans Zerstörungskrieg gegen die Kurden ebenso wenig eine Rolle wie seine zielstrebige und effektive Bemühung um die Errichtung einer Diktatur. In einem offenen Brief an die EU-Staats- und Regierungschefs kritisieren 60 europäische Intellektuelle massiv den Deal der EU mit der Türkei als Menschenhandel. Immer mehr Länder, in denen Krieg herrscht und Menschenrechte nichts gelten, werden zu »sicheren Herkunftsländern« erklärt, um Asylanträge schnell ablehnen und Flüchtlinge sofort abschieben zu können. Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Kretschmann definierte seine Zustimmung zu solchen Maßnahmen zynisch als »pragmatischen Humanismus«. 424 Bundestagsabgeordnete kürten am 13. Mai Marokko, Algerien und Tunesien zu sicheren Herkunftsländern. Wie intensiv die Zusammenarbeit der EU mit afrikanischen Diktatoren funktioniert, ungeachtet der Berichte über Folter und Unterdrückung, verschweigt die Bundesregierung. Nach Recherchen des ARD-Magazins »Report Mainz« sowie des Spiegel soll die deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Rahmen eines Europäischen Fonds zur Bekämpfung von Fluchtursachen ein quasi militärisches Grenzschutzprojekt zwischen Eritrea und Sudan leiten; das versteht also die EU und die Bundesregierung unter »Entwicklungshilfe« und unter »Bekämpfung der Fluchtursachen«. Das heimliche Staatsziel »Flüchtlingsabwehr« wird ohne Skrupel verfolgt: Der SPD-Chef und Bundeswirtschaftsminister Gabriel adelte bei seinem Besuch in Ägypten zusammen mit 60 ausgewählten Konzernchefs den Machthaber al-Sisi zum »beeindruckenden Präsidenten«, obwohl immer wieder über Folter, Todesurteile und Polizeigewalt berichtet wird. Ferner bemüht sich die EU, in Libyen möglichst schnell eine Marionettenregierung zu installieren, um mit ihr einen ähnlichen Handel abschließen zu können wie mit der Türkei. Dann könnten die Kriegsschiffe in Küstennähe erfolgreicher operieren und Flüchtlingsboote bereits an Land zerstören. Weiterhin sollte eine libysche Regierung von EU-Gnaden »Auffanglager« für Flüchtlinge bauen; die Bundesregierung allerdings setzt stattdessen eher auf Inhaftierungseinrichtungen. Auf der griechischen Insel Lesbos hat das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR wegen der dortigen abgeschlossenen Internierungslager seine Hilfe eingestellt. Militäreinsätze von Frontex und EUNAVFOR Med, Deals mit Diktatoren, Internierung von Flüchtlingen, Abschiebung in Kriegs- und Folterstaaten: Die Bundesregierung und die EU verstricken sich in eine inhumane und rechtswidrige Politik der Abschottung unter Missachtung von Grund- und Menschenrechten und Genfer Flüchtlingskonvention. Die Menschenrechte verkommen zu Worthülsen, sie gelten nur noch nach Maßgabe höherwertiger Kapitalinteressen; dafür ist die Flüchtlingspolitik ein weiterer Beweis. Zur Austeritätspolitik, die großen Teilen der Bevölkerung in den EU-Ländern Ungleichheit und Armut gebracht und eine Demontage der parlamentarischen Demokratie bewirkt hat, kommt jetzt ein Umgang mit Flüchtenden jenseits aller menschlichen Regungen von Mitgefühl und Hilfsbereitschaft. Die EU mit ihrer von Sozialdarwinismus und Militarisierung geprägten Politik ist dabei, die in sie gesetzten Hoffnungen zu zerstören. »Nationale Egoismen« einzelner EU-Staaten, die Kritiker der Flüchtlingspolitik beklagen (so etwa Steffen Vogel in Blätter, 5/2016), sind eher Symptom und Folge denn Ursache dieser Entwicklung. Völkerrechtswidrige Kriegseinsätze und Aufrüstung, NATO-Erweiterung nach Osten, Wirtschaftskrisen, von denen nur Banken und Konzerne profitieren, systematische Verarmungspolitik, Geheimverhandlungen über CETA und TTIP, dazu die Enthüllungen der LuxLeaks und Panamapapers – zeigt das die Werte, die die Menschen zu überzeugten Europäern machen sollen? Zumal Jean-Claude Juncker, der »Pate« der Steuerflucht internationaler Großkonzerne wie Apple, Ikea, Amazon, Eon oder McDonald´s, bekanntlich Präsident der EU-Kommission ist, während der Whistleblower Antoine Deltour, der den Skandal aufgedeckt hat, vor Gericht gestellt wird. Für ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das auf solchen »Werten« basiert, können sich allenfalls die Profiteure begeistern. Diese EU-Politik verschärft nicht nur die Krisen, verschlechtert nicht nur die Lebensbedingungen der Mehrheit, wie Kinder- und Altersarmut, Jugendarbeitslosigkeit, Erosion der Sicherungssysteme und der Daseinsvorsorge zeigen. Sie unterhöhlt auch demokratische Überzeugungen und stärkt nationalistische und rassistische Kräfte. Ein wachsender Teil der Bevölkerung sieht, dass eine Änderung nicht von den bürgerlichen Parteien und von PolitikerInnen zu erwarten ist, die keine soziale Einstellung und humane Überzeugungen, sondern nur Interessen haben oder solche bedienen, die denen der meisten Menschen zuwiderlaufen. Die »Leitkultur« der EU ist von Gleichgültigkeit und Verachtung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern geprägt. Viele EuropäerInnen versprechen sich keine Verbesserung ihres Lebens von der EU. Die Wahlbeteiligung in den östlichen EU-Ländern bewegte sich bei der letzten Wahl zum Europa-Parlament zwischen zwölf und 30 Prozent. Die südlichen Länder haben ihre eigenen Erfahrungen mit der »Solidarität« der EU gemacht. Wenn kürzlich erneut veröffentlicht wurde, dass von den knapp 220 Milliarden vorgeblicher Griechenland-Hilfe über 95 Prozent bei den Gläubiger-Banken gelandet sind, also Banken, nicht Menschen im Fokus einer Politik Schäublescher Provenienz stehen, sind die Skepsis und die Wut der Betroffenen verständlich. Wenn elementare Rechte und Bedürfnisse der Mehrheit in geheimen Deals mit Konzernen und ihren Lobbyisten verraten werden, schwindet die Zustimmung zu EU-Repräsentanten und -Gremien. Wenn Menschenrechte nur nach Gutdünken gepredigt werden, geht jede Glaubwürdigkeit verloren. Fatal ist, dass die Opfer der (Globalisierung genannten) neoliberalen Radikalisierung des Kapitalismus hier wie im globalen Süden sich immer noch gegeneinander ausspielen und aufhetzen lassen.
Erschienen in Ossietzky 11/2016 |
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