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Die kurdische Freiheitsbewegung, die aus den revolutionären Aufbrüchen der 1970er Jahre hervorgegangen war, sah die Unterdrückung von Frauen von Anfang an nicht als Nebenwiderspruch, sondern als tragenden Pfeiler des Kolonialismus in Kurdistan. Noch in den 1980er Jahren waren laut einer Studie aus dem Jahr 1991 der Zeitschrift Özgür Halk 80 Prozent der Frauen und Mädchen in den kurdischen Gebieten der Türkei Analphabetinnen, sie waren ökonomisch abhängig, wurden oft schon als Kinder einem Mann versprochen, Zwangsheirat und Polygamie waren vielerorts verbreitet. Mit der Gründung der Guerillaorganisation 1984 gingen tausende, oft sehr junge Frauen »in die Berge«. Für sie war es eine Möglichkeit, gegen die Vernichtung ihres Volkes zu kämpfen und gleichzeitig aus den feudalen Unterdrückungsverhältnissen auszubrechen. Dies ist keineswegs ein kurdisches Phänomen, auch andere Guerilla-organisationen, wie der FARC in Kolumbien oder die Naxaliten in Indien, haben einen hohen Frauenanteil. Frauen sind neben der Jugend der Teil der Gesellschaft, dessen Wunsch nach Freiheit am größten ist. In Kolumbien oder Indien jedoch entwickelten sich keine autonomen Frauenstrukturen wie in der PKK-Guerilla. Zunächst reorganisierten sich auch hier feudale Verhältnisse, Frauen fanden sich statt im Kampf in Logistik- oder Kücheneinheiten wieder. »Der schwerste Kampf war der Kampf gegen unsere eigene Sozialisation«, erklärte mir eine Kämpferin 1995. »Wir mussten lernen, uns selbst und damit auch den anderen Frauen zu vertrauen, Verantwortung zu übernehmen.« Viele Männer versuchten, die Frauen aus den bewaffneten Einheiten herauszuhalten, denn es war ihnen klar, wenn sie ihr Herrschaftssymbol, die Waffe, aus der Hand geben, müssen sie über kurz oder lang auch die Macht teilen. Frauen begannen jedoch mit Unterstützung des Vorsitzenden der PKK, Abdullah Öcalan, eigene Bataillone aufzubauen; 1993 wurde das erste Mal darüber diskutiert, eine Frauenarmee zu schaffen, und im März 1995 wurde tatsächlich Wirklichkeit. Die Frauen stellten eine eigene Kommandantur auf und begannen, das Leben unabhängig von Männern zu organisieren, von der Logistik bis hin zu Kampfeinsätzen. Die Guerilla gilt seither als befreites Gebiet für Frauen in Kurdistan. Die türkische Armee griff mit aller Härte an, zerstörte mehr als 6000 Dörfer, um der Guerilla die Unterstützung durch die Bevölkerung zu entziehen. 18.000 Menschen wurden in den 1990er Jahren von »unbekannten Tätern«, paramilitärischen Organisationen, ermordet, zehntausende verschwanden in Kerkern. Guerillafrauen, die der türkischen Armee in die Hände fielen, wurden grausam gefoltert, ihre Leichen zur Schau gestellt. Dennoch schlossen sich immer mehr junge Frauen dem Verband der Freien Frauen Kurdistans (YAJK) an. Nachts gingen sie heimlich in die Dörfer, um den Kontakt zur Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Die Augen der Dorffrauen, die es bis dahin gewohnt waren, ihren Blick zu senken, wenn sie einem Mann begegneten, und sich in ihr Schicksal zu fügen, begannen zu leuchten, wenn sie die starken Frauen sahen, die Reden vor der versammelten Dorfbevölkerung hielten, Männern Befehle gaben und die Bevölkerung verteidigten. Frauen, die darüber sprachen, dass es ehrlos sei, Kinder zu verheiraten oder Frauen zu schlagen. In Kurdistan wurden neue Werte definiert, und es wurde eine neue Ästhetik geschaffen. Eine der Parolen der kurdischen Bewegung lautet: »Eine freie Frau ist eine schöne Frau.« In den Bergen erforschen die Guerilleras die Rolle der Frauen in den matriarchalen Kulturen des Neolithikums in Mesopotamien und entwickeln die »Jineoloji«, die kurdische Variante der Frauenforschung, die Praxis und Theorie immer miteinander verbindet. In der Zivilgesellschaft organisieren sich Mütter, Ehefrauen oder Schwestern von gefangenen Kämpfer*innen, von Getöteten und Verschwundenen. Im Verborgenen wurden Frauenräte aufgebaut. In »Akademien«, die in Hinterhöfen genauso wie in den Bergen eröffnet wurden, lernen Frauen Organisationsaufbau, demokratische Autonomie, eine frauenzentrierte Gesellschaft ohne Staat. Ein Mann, der in der kurdischen Bewegung organisiert ist und eine Frau schlägt, wird ausgeschlossen. In selbstorganisierten Schulen lernen Jungen und Mädchen Selbstbestimmung genauso wie gemeinsam kochen, unterrichtet wird auf Kurdisch, welches als Unterrichtssprache in der Türkei nach wie vor verbotenen ist. Jede Institution der kurdischen Bewegung hat eine Doppelspitze, bestehend aus einem Mann und einer Frau. Jeder Bereich, ob in der Stadtverwaltung oder einem Volksrat soll mit mindestens 40 Prozent Frauen besetzt sein. Prinzipien, die von der Frauenguerilla übernommen wurden, in Jahrzehnten des Kampfes entwickelt und durchgesetzt. Der Kongress Freier Frauen (KJA), Dachorganisation der Frauenbewegung in Kurdistan, hat in den letzten Jahren nicht nur Frauenräte, sondern auch -kooperativen, -akademien und -selbstverteidigungseinheiten in vielen Städten aufgebaut. In einer Presseakademie wird angehenden Journalist*innen eine herrschaftsfreie, geschlechtsneutrale Sprache vermittelt. Der KJA hat sich zur Aufgabe gesetzt, das Patriarchat in Kurdistan abzuschaffen. 2011 wurde die »Demokratische Autonomie« ausgerufen, ein System, das auf geschlechtergerechter, basisdemokratischer Selbstorganisation beruht, von der Kommune – einer Straßenselbstorganisierung – bis zu den Stadtparlamenten. Der türkische Staat greift jede dieser Institutionen an, ließ Tausende Frauenrechtler*innen, Akademiker*innen, Anwält*innen, Journalist*innen verhaften. Die Selbstverwaltung auf der Basis von Frauenorganisierung steht dem Weltbild der türkischen Regierung diametral entgegen. Mit allen Mitteln soll das frauenzentrierte, basisdemokratische nicht-etatistische Modell, das zukunftsweisend nicht nur für den Nahen und Mittleren Osten sein könnte, verhindert werden. Literatur: Ceni - Kurdisches Frauenbüro für Frieden e. V. und ISKU – Informationsstelle Kurdistan e. V. (Hg.): »Widerstand und gelebte Utopien. Frauenguerilla, Frauenbefreiung und Demokratischer Konföderalismus in Kurdistan«, 2015; Anja Flach: »Frauen in der kurdischen Guerilla: Motivation, Identität und Geschlechterverhältnis«, 2007; Anja Flach /Michael Knapp/Ercan Ayboğa: »Revolution in Rojava«, 2015.
Erschienen in Ossietzky 10/2016 |
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