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Als Ursachen für den neu ausgebrochenen Bürgerkrieg werden unter anderem genannt: der IS-Anschlag in Suruç, nahe der syrischen Grenze, bei dem 34 hauptsächlich junge Menschen ermordet und mindestens 76 teils schwer verletzt wurden und die Tolerierung und zum Teil Unterstützung des IS durch die türkische Regierung zu diesem Zeitpunkt; die daraufhin erfolgte Tötung von zwei türkischen Polizisten im Juli 2015; die Gewaltakte der Polizei und des Militärs; die Weigerung der prokurdisch-linken Demokratiepartei der Völker HDP, dem vom türkischen Präsidenten Erdoğan gewünschten Präsidialsystem zuzustimmen; das schlechte Abschneiden der Regierungspartei AKP im Juni 2015 bei der Parlamentswahl und die von verschiedenen kurdischen Städte ausgerufene Selbstverwaltung im Südosten der Türkei als Reaktion auf die Beendigung des Friedensprozesses durch die türkische Regierung. Seit August 2015 riefen zwölf kurdische Städte, darunter auch der Bezirk Sur, das antike Zentrum von Diyarbakır, die Selbstverwaltung aus. Die Organe des türkischen Zentralstaats sollten nicht mehr anerkannt werden. Auf die Gewalt des Militärs und der Spezialeinheiten der Polizei antworteten die Kurden mit Selbstverteidigung. Daraufhin verhängte die türkische Regierung über diese Städte häufig eine uneingeschränkte, Tag und Nacht andauernde Ausgangssperre. Insgesamt waren davon nach Schätzung der Menschenrechtsstiftung TIHV gut 1,6 Millionen Menschen in 22 Distrikten betroffen. Nach Schätzung der Stiftung töteten Militär und Polizei insgesamt 338 Zivilist*innen, darunter 78 Kinder. Aufgrund der alarmierenden Berichte und der Hilferufe der bedrohten Bevölkerung trafen verschiedene Beobachterdelegationen in der Region ein. Eine davon wurde Ende Januar 2016 von zwei progressiven europäischen Juristinnen-Organisationen durchgeführt, der Europäischen Vereinigung von Juristinnen & Juristen für Demokratie und Menschenrechte in der Welt (EJDM, www.ejdm.eu, Dachverband der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen e. V.; www.vdj.de) und den Europäischen demokratischen Anwältinnen und Anwälten (EDA, www.aeud.org, Dachverband des Republikanischen Anwältinnen- und Anwältevereins, www.rav.de) sowie der italienischen Strafverteidigerkammer. Die zehn Teilnehmer*innen dieser Delegation, zu denen auch ich gehörte, kamen aus Belgien, Deutschland, Italien und Österreich. Unser Auftrag beschränkte sich auf die Untersuchung der Auswirkungen der Ausgangssperre auf die Einwohner*innen von Sur und die indirekten Auswirkungen auf die 1,6 Millionen Einwohner im Bezirk von Diyarbakır sowie die rechtlichen Schlussfolgerungen. Unterstützt wurden wir von den Progressiven Anwälten in der Türkei ÇHD. Bei unserer Ankunft fanden wir mehr als die Hälfte des Stadtzentrums von Diyarbakır (Sur genannt) abgeriegelt vor, leicht erkennbar an den Sperrgittern der Polizei. Die Ausgangssperre wurde mit Maschinengewehren, Artillerie, gepanzerten Fahrzeugen und Kampfhubschraubern durchgesetzt. Die 120.000 Bewohner von Sur waren in Geiselhaft genommen worden. 22.000 von ihnen hatten Sur verlassen können. Ein Zutritt für Besucher, aber auch für Einheimische war unmöglich, selbst für Ärzte, die Verwundeten helfen wollten. Tag und Nacht hörten wir Maschinengewehrfeuer und schwere Geschütze. Die von der Regierung verhängte Ausgangssperre sowie die monatelange totale Abriegelung von Sur machten eigene Recherchen in Sur praktisch unmöglich. Auch die andere Hälfte des Stadtzentrums war zur besonderen Sicherheitszone erklärt worden. Die Polizei konnte jederzeit ohne Begründung die Bewegungsfreiheit einschränken und andere Zwangsmaßnahmen verhängen. Die begleitenden türkischen und kurdischen Anwält*innen rieten uns aufgrund der Sicherheitslage davon ab, einen Besuch dieses Stadtteils zu versuchen. Unsere Juristendelegation stützte sich daher auf das Befragen von Vertreter*innen der Anwaltskammer, der Ärztekammer, von zwei Menschenrechtsorganisationen, der HDP, der Co-Bürgermeisterin, der kurdischen Frauenorganisation KJA (Free Women’s Congress), einem Anwalt von betroffenen Bürger*innen von Sur und Familienangehörigen, überwiegend Mütter getöteter Kinder. Letztere konnten erst durch zum Teil wochenlangen Hungerstreik durchsetzen, dass sie ihre getöteten Kinder von der Straße holen und beerdigen durften. Inzwischen ist die Ausgangssperre in Diyarbakır nach fünf Monaten aufgehoben, die geflüchteten Bürger konnten zurückkehren. Für viele war dies nicht möglich, weil ihre Häuser zerstört sind. Nach Schätzungen sind 80 Prozent der Häuser in dem abgeriegelten Teil von Sur schwer beschädigt. Die Strom- und Wasserversorgung ist in weiten Teilen des Altstadtgebietes weiterhin unterbrochen. Die türkische Regierung hat die Verstaatlichung des überwiegenden Teils der Altstadt beschlossen. Unsere Juristendelegation kam aufgrund der Zeugenaussagen und der rechtlichen Würdigung der Sachverhalte zu folgenden Feststellungen: Der stellvertretende Gouverneur der Provinz Diyarbakır verletzt mit der von ihm verhängten Ausgangssperre die türkische Verfassung, weil der dafür erforderliche Ausnahmezustand nicht erklärt wurde, wozu es eines vom türkischen Parlament beschlossenen Gesetzes bedurft hätte. Die Ausgangssperre selber und die mit ihrer Durchsetzung verbundenen Gewaltakte (die massenweise Tötung und Verletzung von Menschen, die massenweise Zerstörung von Häusern, die monatelange Abriegelung eines größeren Stadtgebiets) verletzen die Europäische Menschenrechtskonvention, die von der Türkei ratifiziert wurde, sowie auch türkisches Recht. Die verhängte Ausgangssperre war völlig unverhältnismäßig und daher rechtswidrig. Das gilt für ihre Dauer. Das gilt für die Art ihrer Durchsetzung mit Militärgewalt. Das gilt für die Verhinderung medizinischer Hilfe. Hilfsdelegationen der Ärztekammer wurden von der Polizei regelmäßig zurückgewiesen. Vorübergehende Unterbrechungen und anschließende Wiederverhängung der Ausgangssperre wurden von den Behörden unzureichend an die Bevölkerung kommuniziert. Infolgedessen wurden Personen, darunter auch Schulkinder, die nach Wiederverhängung der Ausgangssperre noch über die Straße liefen, vom Militär oder von Polizisten erschossen. Durch die Ausgangssperre war auch die Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln nur unzureichend gesichert. Dies wurde in zahlreichen Eilentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte bestätigt, der die türkische Regierung anmahnte, wenigstens die medizinische Versorgung der eingesperrten Bevölkerung sicherzustellen. Durch die vom Militär vorsätzlich herbeigeführte Zerstörung von Häusern, Strom- und Wasserversorgung verloren tausende Menschen in Sur auf Dauer ihre Wohnung. Viele hatten keinen Zugang mehr zu sauberem Trinkwasser und konnten infolge der Stromunterbrechung Wasser nicht sterilisieren und keine warme Nahrung zubereiten. Das Militär nahm durch den Einsatz schwerer Waffen, aber auch durch undifferenzierten Schusswaffengebrauch in Kauf, dass hunderte von Zivilist*innen getötet und noch wesentlich mehr verletzt wurden. Aber auch die mit dem Ziel der »Eliminierung der PKK« praktizierte Tötung von tausenden Personen, die sich gegen Militär- und Polizeigewalt zur Wehr setzten, entbehrte jeglicher rechtlichen Grundlage. Diyarbakır ist nur ein Beispiel für die gegenüber der kurdischen Bevölkerung (und auch gegenüber der gesamten politischen Opposition) begangenen Verbrechen. Die Bevölkerung zahlreicher anderer kurdischer Städte in der Region musste ähnliches erleiden. Besonders zu erwähnen ist Cizre. Zu den Forderungen der Jurist*innendelegation gehörte daher: die vollständige Aufklärung dieser Verbrechen und die strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen. Noch ist es nicht der deutsche Bundesinnenminister, der den Verzicht auf Menschenrechtsschutz verfügen kann. Der gegenwärtige Kurs der Bundesregierung lässt allerdings nicht erwarten, dass die Opfer in den kurdischen Städten und die Opposition in der Türkei von dieser Seite Unterstützung erhalten werden. Rechtsanwalt Thomas Schmidt ist Generalsekretär der Europäischen Vereinigung von Juristinnen & Juristen für Demokratie und Menschenrechte in der Welt e. V.
Erschienen in Ossietzky 10/2016 |
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