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Die Premiere im November 1953 war ein voller Erfolg, obwohl keiner der Zuchthäusler je zuvor auf der Bühne gestanden hatte. »Ihr Godot war ein Triumph, ein Rausch – Ihr Godot war ›unser‹ Godot, unser eigener, er gehörte uns! ... Wir alle sind diese Clochards, denen die Füße wehtun.« Das schrieb der Übersetzer, der seinen Brief an Beckett nicht mit seinem Namen sondern mit »un Prisonnier« unterzeichnete. Seine Inszenierung in einem deutschen Zuchthaus war eine Sensation. Mehr als 15 Mal gespielt, von der Presse hochgelobt, von Theaterkritikern, Dramaturgen und Regisseuren als »die allerbeste Aufführung des Werkes, die es je in Deutschland gegeben hat« gewürdigt. Tief gerührt und beim Lesen des Briefes geradezu überwältigt, entwarf Beckett sofort eine Antwort, dieser Entwurf ist noch erhalten. 1956 durfte die kleine Theatertruppe sogar als »Spielschar Wuppertal« zum Kirchentag nach Frankfurt am Main fahren und »Man wartet auf Godot« dort zehnmal aufführen. Seit der Uraufführung vom 5. Januar 1953 in Paris äußerst umstritten, fand fast gleichzeitig zur Gefängnisaufführung am 8. September 1953 im Berliner Schlosspark Theater die offizielle deutsche Erstaufführung statt: »Wir warten auf Godot« von Karl-Heinz Stroux inszeniert und übersetzt von Elmar Tophoven. Der Titel – ohne das Wir – wurde schnell zu einer geläufigen Redewendung. Erika Tophoven, die zusammen mit ihrem Mann Elmar jahrzehntelang Romane und Theaterstücke aus dem Englischen und Französischen übersetzt hat, geht jetzt in einem im Verbrecher Verlag erschienenen Band der Geschichte von »un Prisonnier« nach. Der phantasiereiche Godot-Übersetzer rührte diesseits und jenseits des Rheins nämlich nicht nur das Herz des großen Iren Samuel Beckett und zahlreicher Frauen. Mit Hilfe von Verführungskunst und Hochstapelei war es ihm nach seiner Flucht aus Deutschland Mitte der Dreißigerjahre bereits gelungen, in französische Regierungskreise vorzudringen und sich nach 1939 vor dem Zugriff deutscher Besatzer zu retten. Zuvor hatte er als Dr. Peter Martin (P. M.) an seinen Erinnerungen gearbeitet, die Madame Marthe Dutrèb, eine seiner prominenten Geliebten, aus dem Deutschen ins Französische übersetzte. Sie erschienen 1937 in Paris unter dem Titel »Là-bas … dans les geôles (Trente mois de camps de concentration)« (Dort drüben … in den Kerkern. Dreißig Monate in Konzentrationslagern). Ein deutsches Original ist bis heute nicht nachweisbar. P. M. widmete das Werk jenen »200.000 Gefangenen in den Konzentrationslagern des 3. Reiches, die gefangen gehalten werden und denen es nicht gelungen ist zu entkommen.« Mit ihnen hatte er angeblich unter dem Namen Dr. Hans Meinhardt dreißig Monate die Haft geteilt, unter anderem in den frühen Konzentrationslagern von Eutin, Ahrensbök und Oranienburg. Karl Franz Lembke (KFL) Doch wer war dieser »Prisonnier«, der Gefangene, der sich nach seiner Flucht nach Paris Pierre/Peter Holstenkamp nannte und im Laufe seines Lebens 18 Mal den Namen wechselte? Es handelt sich um den in Eutin aufgewachsenen Karl Franz Lembke (KFL). Der älteste Sohn des Gefängniswärters Carl Christian Lembke kam am 9. März 1903 zur Welt. Er wuchs gewissermaßen im Gefängnis auf, weil der Vater zeitweilig Regierungsbote war und deshalb die Dienstwohnung im Nebengebäude der Regierung, dem Amtsgerichtsgefängnis, zugewiesen bekommen hatte. Der zum Gefängnishauptwachtmeister aufgestiegene Vater blieb nach 1933 im Amt und musste mit ansehen, wie schon im März 1933 Theodor Tenhaaf zum KZ-Lagerkommandanten ernannt wurde, der die Bewachung der »Schutzhäftlinge« übernahm, die hier ab März 1933 in dem zum Konzentrationslager umgewandelten Amtsgerichtgefängnis der Willkür der SA-Leute ausgesetzt waren (ab Oktober 1933 auch in Ahrensbök). Aber die Eltern von Lembke kümmerten sich weiterhin fürsorglich während der Abwesenheit von Tenhaaf um die Häftlinge. Sie stellten ihre Wohnstube für Häftlingsbesuche zur Verfügung und sorgten sich um den Briefverkehr und den Umgang mit den Juristen, die die Häftlinge vor dem Landgericht Lübeck verteidigten. Karl Franz war hochbegabt und legte schon mit 17 Jahren die Abiturprüfung ab. Er teilte seinen Schulweg mit dem sieben Jahre älteren Johann Heinrich Böhmcker, dem als »Latten-Böhmcker« bekannten späteren SA-Gruppenführer Nordsee, der ab Juli 1932 Regierungspräsident der ersten NS-Alleinregierung in Deutschland und nach der Auflösung des Landesteils Lübeck Regierender Bürgermeister der Freien Hansestadt Bremen werden sollte. Nach dem Abitur wurde KFL im März 1920 in den von Wilhelm Harders, dem Direktor des Gymnasiums, als Eutiner Haupträdelsführer angeführten Kapp-Putsch verwickelt. Deshalb von der Universität Kiel verwiesen, ging er zur Schwarzen Reichswehr, die 1923/24 in die Reichswehr überführt wurde. Nach einer Degradierung vom Leutnant zum Unteroffizier flüchtete KFL und wurde bald darauf wegen Fahnenflucht, Unterschlagung, Untreue, schwerer Urkundenfälschung und Diebstahl verurteilt. Bis 1933 stand er in Frankfurt, Köln, Kiel und Essen immer wieder vor Gericht. Enthüllungen über eine angeblich ernst zu nehmende Darstellung des NS-Systems Nicht zu übersehen ist, dass der intelligente Hochstapler, der ab 1948 in Deutschland erneut gutgläubige Leute um kleine Summen und große Träume bringen sollte, ein gutes Gedächtnis hatte, gepaart mit der Fähigkeit, auch Ereignisse vor Ort einzuordnen, die bis heute umstritten sind. So gelang es ihm, seinen letzten Aufenthalt bei den Eltern in Eutin dazu zu nutzen, um diese »Probebühne des Dritten Reiches« (Stokes) so zu verdichten, dass wir ein überraschend reales Bild des Alltagslebens in einer Nazi-Hochburg Norddeutschlands erhalten. Eine Kleinstadt, die »für tausend andere« in Deutschland steht, wie Hans Fallada in seiner romanhaften Darstellung von 1931 über »Bauern, Bonzen und Bomben« die Krisenjahre in Schleswig-Holstein beschrieben hat. Folgt man KFL alias Dr. Peter Martin und seiner 1937 in Frankreich veröffentlichten Darstellung, dann verbrachte er eine lange Haftzeit in den frühen Konzentrationslager Ahrensbök und Eutin. Kenntnisreich schildert er die politische Situation nach 1932 in Ausein (d.i. Eutin) mit den SA-Führern um Heinrich Boutz (Böhmcker), Telge (Tenhaaf), Bürgermeister Christ (Kahl) und ihren Auseinandersetzungen mit der KPD und SPD in der Mulackenstraße (Königsstraße) und in der Kneipe Schön (Stadt Kiel). Es kommen prominente NS-Gegner nicht nur aus den Reihen der SPD und KPD zu Wort, sondern auch aus denen der Deutschnationalen Volkspartei, die Böhmcker illegal mit Geldbußen erpresst hatte. Präzise gibt Lembke Auskunft über den Transport von 20 Häftlingen aus Ahrensbök zur Arbeitsstelle und beschreibt den Weg zu den täglichen Straßenarbeiten im Regierungsbezirk. Die Fahrten fanden mit dem LKW vom »Viehhändler Müller aus der Marthastraße 45« statt. Hinter dem Namen verbirgt sich in Realität der ehemalige Sozialdemokrat Franz Koop vom Mösberg. Lemke gelang es angeblich, aus dem KZ in Ahrensbök am 25. August 1935 zu entfliehen – mit Hilfe von Müller (Koop), weil dieser ihn in seinem Viehwagen auf dem Ferkeltransport nach Hamburg versteckt. Von dort fuhr er mit dem Zug nach Potsdam. »La route dangereuse« durch Deutschland endet in Frankreich. Ich breche hier die Spurensuche über einen Mann mit außergewöhnlichen Eigenschaften ab, glänzend dargestellt und solide recherchiert von Erika Tophoven. – Aber ich füge eine Anmerkung hinzu: Lembke irrt sich gelegentlich in den Daten ein wenig. So war das KZ in Ahrensbök schon Anfang Mai 1934 geschlossen worden. Irrt er auch, wenn er an anderer Stelle auf eine Begegnung mit dem damaligen Bremer Bürgermeister Böhm-cker in Paris 1941 hinweist? Oder ist das ein weiterer Beleg für Kai Artingers Recherchen über den zum »Kunstfreund« sich wandelnden »Latten-Böhmcker«, der in Bremen den umstrittenen Leiter der Bremer Kunsthalle Waldmann förderte, sich am Erwerb von wertvollen arisierten Kunstgütern beteiligte und die »Bremer Pfeffersäcke« beim Kunstraub in Amsterdam und Paris begleitete? Noch am 19. Juli 1949 verteidigte der Eutiner Landesprobst Kieckbusch vor dem Bremer Senat Johann Heinrich Böhmcker, den »schlichte[n] Sohn seiner Heimat«, mit Lobeshymnen über dessen edlen Charakter. Ohne fremde Hilfe bewies dagegen der »ehemalige Schulkamerad« von Böhmcker noch einmal seine Überlebenskunst. Als Peter Martin Holstenkamp schrieb Lembke im Februar 1957 eine Postkarte an das Amt für Wiedergutmachung in Hamburg und forderte mit Hinweis auf seinen fiktiven KZ-Bericht von 1937 eine Wiedergutmachung, wahrscheinlich um sich anschließend an der Côte d’Azur zur Ruhe setzen zu können. Ein neuer Fall seiner schwer durchschaubaren Hochstapelei. Denn noch heute dient sein Pariser Lebensbericht von 1937 als ernst zu nehmende Informationsquelle, ausleihbar unter anderem in den Universitätsbibliotheken von Freiburg, Tübingen oder Berlin. Erika Tophoven: »Godot hinter Gittern. Eine Hochstaplergeschichte. Mit unveröffentlichten Dokumenten«, Verbrecher Verlag, 144 Seiten, 21 €
Erschienen in Ossietzky 9/2016 |
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