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Geschlossene Räume der Gewalt – und kein Ausgang?

Die zutiefst pessimistische Analyse der Gewalt von Baberowksi blendet Alternativen aus

von Wilfried Gaum

Rezension: Jörg Baberowski, Räume der Gewalt, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015; 263 Seiten

Selten hat mich ein Buch einerseits so gefesselt und andererseits so ratlos zurückgelassen wie dieses. Jörg Baberowski, seit 2002 Professor für Geschichte Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin, soll dem Klappentext nach schildern, "was Gewalt mit Menschen macht, warum sie zum Menschen gehört und wie sie entsteht. Eine neue, grundlegende Auseinandersetzung mit dem Wesen der Gewalt, provokant und fesselnd", verspricht uns die Verlagsankündigung.

Aber werden diese Ankündigungen wirklich erfüllt? Ich denke, im Endeffekt werden längst bekannte Thesen neu aufgelegt, wird das Entsetzen, das Baberowski insbesondere in seiner langjährigen Auseinandersetzung mit der Gewaltgeschichte des Stalinismus und anderer Gewaltherrschaften zu einer im Ergebnis trivialen These konzentriert: Gewalt gibt es, weil es Gewalt gibt, weil sie im Menschen angelegt ist und nicht verschwinden wird. Dafür benötigt das Buch 213 Seiten. Und schon im Vorwort dichtet der Autor seine Auseinandersetzung gegen Kritik ab: "Ich habe in diesem Buch Fragen gestellt, die mich bewegen, und Antworten gegeben, die ich für plausibel halte. Wer nach anderen Fragen und anderen Antworten sucht, soll ein anderes Buch lesen."(S. 12) Nun, was erfahren wir über die Gewalt?

"Das Erleben der Gewalt ist wie eine Reise in eine neue Welt, in der andere Regeln gelten und andere Menschen leben, In ihr verschieben sich die Maßstäbe für Normalität; was man für selbstverständlich halten konnte, erscheint im Licht der Gewalt seltsam fremd, und Außergewöhnliches wird zum Alltäglichen. Man betritt einen Gewaltraum und erfährt, dass nichts mehr ist, wie es war."(S. 17) Diese Aussage setzt voraus, dass man aus einem friedlichen, befriedeten Raum heraus die "Räume der Gewalt" betritt. Baberowski verwendet aber nicht wenig Energie darauf, Gewalt als unabänderlich, ubiquitär und zumindest latent zu allen Zeiten vorhandenes menschliches Potenzial darzustellen. Zudem scheint mir das Bild von den "Räumen der Gewalt" seltsam schräg zu sein: Räume begrenzen etwas, sie hegen ein, sie trennen Aufenthaltsorte voneinander. Das sieht Baberowski ein paar Seiten selber so (S. 32 unten). Aber diese Frage geht unter in der dichten Beschreibung der verschiedenen Situationen und Konfigurationen, in denen Menschen Gewalt ausüben oder ausgesetzt sind. So werden denn auch in der Dunkelheit dieser Gewalträume Baberowski die Katzen alle grau. Natürlich gibt es verschiedene Grautöne. Das ist nicht zu leugnen. Aber letztendlich ist auch das Gewaltmonopol des Staates, dass als Einhegung und Verregelung von Gewalt gedacht ist, letztlich dann doch nur ein schlafendes Monster, das, wenn Staat, Militär und Ideologie es erlauben, noch monströsere Verbrechen wie im stalinistischen Russland und dem faschistischen Deutschland möglich macht.

Apodiktisch verwirft Baberowski gängige Erklärungsansätze für Gewalt. Deshalb ist es für ihn auch sinnlos, nach Gründen und Ursachen zu suchen: "Was immer vorher auch geschehen sein mag, es erklärt nicht, warum unter bestimmten Umständen Menschen andere Menschen umbringen. Alles hätte auch anders kommen könne. Die Suche nach dem Ursprung der Gewalt ist vergeblich." (S. 26) Und warum? "Der Mensch wird nicht, was er ist, er ist immer schon komplett gewesen. Deshalb war die Gewalt zu allen Zeiten eine Möglichkeit und kein Aufklärungsprogramm hat Menschen je daran gehindert, sich das Verletzen und Töten anderer Menschen vorzustellen. Nicht die Gewalt ist das Rätsel, sondern dass wir uns über sie wundern. Gewalt ist eine Handlungsressource, die nicht nur für jeden zugänglich ist, sondern von jedem genutzt werden kann."(S. 27) Dieses im Ansatz ja wichtige Staunen über "das Böse unter der Sonne" führt aber auch zu problematischen Aussagen: so wenn er unterstellt, die deutschen Soldaten seien 1941 aus einer befriedeten Gesellschaft nach Russland gekommen – einer Gesellschaft mit der Unterdrückung jeder Opposition, mit Konzentrationslagern, mit einer offen gewalttätigen und zu Gewalt auffordernden Partei an der Regierung (S. 34)? Oder: "Niemand wird dort, wo Gewalt zur Normalität geworden ist, nach ihren Ursachen fragen, denn das Selbstverständliche bedarf keiner Begründung."(S. 36) Das ist schlicht Unsinn: was war denn mit dem gewaltfreien Widerstand im Zweiten Weltkrieg, was war denn mit dem gewaltfreien antikolonialen Widerstand in Indien, was war denn mit dem gewaltfreien antirassistischen Widerstand in den USA? Alle diese Bewegungen stellten Gewalt doch in Frage. Und so sucht man auch vergeblich nach den Namen Gandhi und Martin Luther King im Personenverzeichnis.

Aber Baberowski hält auch nicht viel von dergleichen Bewegungen: "Die Gewalt gehört zu unserem Schicksal. An allen Orten und zu allen Zeiten haben Menschen einander verletzt und getötet. Deshalb sei es zwecklos,….Gedanken auf das Ende der Gewalt zu verschwenden…..Wem ist überhaupt aufgefallen, dass seit Jahrzehnten behauptet wird, es seien die Verhältnisse, die Gewalttäter produzierten, dass aber keine einzige Reform die Gewalt aus der Welt geschafft hat…..Über Körper, Aggressionen und ihre Entfaltungsräume hat eine Forschung, die soziale Ursachen beschreibt, nichts mitzuteilen."(S. 136f.) Warum um alles in der Welt unterscheiden sich dann Kriminalitätsraten in den USA und den skandinavischen Ländern, wenn nicht zumindest auch nach dem Grad sozialer Ungleichheit und den Chancen für Menschen auf gesellschaftliche Teilhabe und Integration? Und warum soll es keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen sozialen Verhältnissen und Ausmaß und Grad von Gewalttätigkeit geben – und damit einen Ansatz zumindest für die Reduzierung von Gewalt? Immer wieder sind es solche apodiktischen und totalen Aussagen von Baberowski, die mein Unwohlsein begründen und Kopfschütteln hervorrufen. So auch, wenn er ausführt: "Nur durch Abschreckung werden Menschen davon abgehalten, zu tun, was sie denken."(S. 148) Nun ist doch aber die Anzahl der Morde in den Ländern besonders hoch, in denen Abschreckung Strafdoktrin und Todesstrafe und überlange Gefängnisstrafen gang und gäbe sind, wie z.B. in den USA?

Und zu diesen sehr anzweifelbaren Aussagen passt ins Bild, wenn er ein paar Seiten zuvor ausführt: "Es gibt keine Ordnung, die nicht auf Ungleichheit beruhte. Aber Ungleichheit und Ungerechtigkeit sind nicht Gewalt, denn wäre es so, müsste jede hierarchische Ordnung als Gewaltverhältnis beschrieben werden. In Wahrheit sind komplexe und abstrakte Ordnungen gesellschaftliche Versicherungen gegen Willkür und Gewalt."(S. 121) Denn: "Es ist keine Ordnung vorstellbar, die nicht auf Hierarchien und soziale Ungleichheit gegründet wäre, weil Lebenschancen und Fähigkeiten unterschiedlich verteilt sind."(S. 123) Spätestens an dieser Stelle wird es schwer, Baberowski zu folgen. Warum sollen Lebenschancen und Fähigkeiten denn naturnotwendig zu Hierarchien und sozialer Ungleichheit führen müssen? Warum soll keine Ordnung vorstellbar sein, die ohne diese auskommt? Sind da Ethnologen und Anthropologen nicht schon weiter? Beweist nicht die Historizität von Staat, verfestigten Hierarchien und Gewaltordnungen, dass auch Alternativen denkbar sind?

Nein, das ist die Antwort dieses bedrückenden Buches, solche Alternativen gibt es nicht: "Ohne klare Machtverhältnisse gibt es keinen Frieden. Ist das Gleichgewicht von Gehorsam und Sicherheit erst einmal erschüttert, ist es mit dem Frieden schnell vorbei… Die Ordnung schützt uns vor der Gewalt, aber nur deshalb, weil sie jederzeit durch Gewalt erzwungen werden kann. Ein Leben ohne Macht ist nicht vorstellbar, weil es ein Leben ohne Gewalt nicht gibt."(S. 213) Insgesamt ein zutiefst pessimistisches Buch. Es sieht an keiner Stelle wirklichen Fortschritt in der Bekämpfung um das Einhegen und das Überwinden von Gewalt. Es ist daher eine Prüfung, es zu lesen und auf sich wirken zu lassen. Am Ende aber darf es uns nicht überwältigen. Wir sind aufgerufen, ebenso aktiv und entschlossen gegen alles anzutreten, was zu Gewalt zwischen Menschen und Völkern führt wie auch zu Gewalt gegen andere Lebewesen und unseren Planeten. Auseinandersetzungen sind unausweichlich und dürfen weder unterdrückt noch ignoriert, sondern müssen sorgfältig analysiert und bearbeitet werden. Wir dürfen uns unsere Fähigkeit nicht nehmen lassen, auch angesichts der Übermacht von Gewalt und Unterdrückung auf diese Missstände zu reagieren und sich die Kompetenz nicht nehmen zu lassen, gegen solche Verhältnisse anzugehen. Baberowskis Buch ist dabei nur sehr bedingt eine Hilfe. Wenn man sich aber die Lektüre dieses Buches zu etwas Positivem angedeihen lassen will, dann, dass es eine Mahnung ist, weiter an diesem Ziel zu arbeiten. Und am Ende geht es nicht darum, andere Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen. Es geht darum, die Antworten, die wir auf die gestellten Fragen immer wieder zu hören bekommen haben, zu hinterfragen.

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sopos 4/2016