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Der gemeinhin als Flüchtling bezeichnete Asylbewerber, der doch eigentlich bei seiner Ankunft in der Kommune gar kein Flüchtling mehr ist, sondern vielmehr ein Neubürger oder Neuling, stellt Gesellschaft und Individuum vor große Herausforderungen. Begriffe wie Flüchtlingswelle und Flüchtlingskrise implizieren eine allgemeine Überforderung; andererseits ist von Willkommenskultur die Rede. Die Unterkunft teilt sich Mohamed mit weiteren jungen Männern: gemeinsame Küche, gemeinsames Bad; unterschiedliche Vorstellungen von Schlafrhythmen, Sauberkeit – egal, sie verstehen sich glücklicherweise ganz gut. Die Wohnung wurde ihnen zugewiesen. Sie sind alle aus Syrien geflohen und hier nun endlich in Sicherheit, kommen erstmals zu Ruhe – wären da nicht Asylverfahren, Fingerabdrücke, Sprachkurse, Erwartungen der Gastgeber – ein unschönes Wort, das wie zu Zeiten der Gastarbeiter direkt eine Nichtzugehörigkeit erzeugt; ja sie geradezu manifestiert – und die eigenen Erwartungen. Alles ist anders im neuen Land: Von den sprachlichen Barrieren und kleineren Banalitäten einmal abgesehen zählt eine nicht ordnungsgemäß durchgeführte Mülltrennung keinesfalls zu den Bagatellen – deren Ignorieren wird von Anwohnern nicht selten als beleidigend aufgenommen, und die Verursacher werden als integrationsunwillig abgetan. Neben dem Recyclingthema und den vielen anderen zu beachtenden großen und kleinen Dingen bekommt Mohamed nicht sonderlich viel Schlaf. Da sind diese Erinnerungen in seinem Kopf, Bilder: vom Töten und vom Sterben, von seiner Familie, von seinem zerstörten Zuhause. Zumindest der Sprachkursbesuch ist für Mohamed schnell möglich. Wenige Tage, nachdem er einer Kommune zugewiesen wurde, darf er schon zu einem Intensivkurs an fünf Tagen jede Woche. Anders gestaltet sich die Situation für Luan aus Albanien. Er und seine Familie leben seit zwei Jahren in Deutschland. Sie gehören den Roma an, fühlen sich in ihrer Heimat diskriminiert und baten um Asyl. Luan, so wird häufig suggeriert, sei Wirtschaftsflüchtling. Dass in der Regel nicht allein wirtschaftliche Gesichtspunkte, entkoppelt von sozialen oder politischen, für eine Flucht entscheidend sind, wird meist ausgeblendet. Politische und soziale Faktoren sind Urheber wirtschaftlicher Benachteiligungen – so hat es auch schon der Soziologe Pierre Bourdieu festgestellt – und lassen sich nicht stringent voneinander abgrenzen. Einen solchen Intensivsprachkurs wie Mohamed durfte Luan nie besuchen. Das liegt an seiner Bleibeperspektive, die ihm aufgrund der Nationalität von vornherein abgesprochen wird. Institute, die sich mit dem Aufbau von Willkommenskulturen auf verschiedenen Ebenen beschäftigen, entstanden in letzter Zeit geradezu inflationär. Beim näheren Hinsehen erkennt man, dass sich zwar erstaunlich viel in Richtung Willkommenskultur in Form von Sprachkursen und anderen Willkommenspaketen entwickelt hat, sie allerdings besonders Asylsuchenden aus Syrien und dem Irak zugutekommt. So dürfen Asylbewerber aus Albanien oder dem von Unruhen geplagten Sudan an vielen Sprachkursen nicht teilnehmen. Nach zwei Jahren des Aufenthalts ist die Wahrscheinlichkeit gegeben, dass genau jene Menschen aus Albanien gefragt werden, weshalb sie denn noch immer so schlecht Deutsch sprechen. Naheliegend, dass mitunter als Reaktion – die dann in letzter Instanz die Abschiebung moralisch erleichtern dürfte – die Vermutung folgt, sie wollten sich gar nicht integrieren. So kommt es dazu, dass eine Familie, die einer Minderheit angehört und im Heimatland Restriktionen erwartet, ausgewiesen wird. Es sind ungewollte Menschen, egal ob Kind oder Erwachsener, die nirgendwo ihr Zuhause finden können. Sie fallen durch alle Raster nationalstaatlich geprägter Konstrukte und gehören nirgends dazu. Nach wie vor fehlt es an der Vorstellungskraft für eine heterogene Gesellschaft mitsamt ihrer Neulinge, unabhängig der sozialen und ethnischen Herkunft. Sie verhindert letztlich auch die Umsetzung einer nachhaltig gelebten Willkommenskultur. Sinti und Roma sind in Deutschland im besonderen Maße geschützt, da sie hierzulande zu einer von vier national anerkannten Minderheiten zählen. Angehörige der Roma, die aus Mazedonien, Albanien oder einem anderen Balkanstaat kommen, fallen nicht darunter (s. auch Ossietzky 2/2016). Doch worauf berufen wir uns eigentlich, wenn wir manchen Menschen ein Bleiberecht einräumen und manche ausweisen? Letzlich führen Argumentationsmuster, die ein solches Verhalten rechtfertigen auf ein ethnisch geprägtes Nationenkonstrukt zurück. Auf der einen Seite werden Grenzen mit Herkunft, mit ethnischer Herkunft, begründet und aufrechterhalten, während auf der anderen Seite in erheblichem Maße von Entgrenzungsprozessen in Form von Globalisierung und Modernisierung profitiert wird. Jene Diskrepanz zwischen dem aktiven Begrenzen und Entgrenzen ist moralisch kaum begründbar. So sind es auch heute noch der subjektive Gemeinschaftsglaube – um es in den Worten Max Webers zu sagen – einer ethnischen Verbundenheit und die soziale Herkunft, die allzu häufig über den künftigen Sozialisationsprozess und über Chancen auf Partizipation hierzulande entscheiden. Die Namen wurden geändert.
Erschienen in Ossietzky 6/2016 |
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