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Es stinkt bestialisch – heute wieder in Berlins Mitte: Das Veilchenparfum trägt den Namen »Kaiser Wilhelm II.« Hätte ich den richtigen Weg genommen – nach links, zum Anfang, ein Reigen tanzender Nackter hätte mich begrüßt, Anhänger der Lebensreform-Bewegung vom Monte Verità im Tessin. Der Körper sollte befreit werden von allem, was ihn einengt. Und der Geist auch. Fotos: Nudisten bei der Feldarbeit mit Schubkarre. Alles ganz anders und neu und jung. Bewegung, Schönheit. Viel später kam: »Kraft durch Freude«. Hier war es noch jungfräulich, naiv, oft auch mit Ideologie verbunden. In Vitrinen Schriften von Rudolf Steiner, auch Nietzsches »Zarathustra« und – einleitend – das »Kapital« von Karl Marx. Daneben die Farblithografie: »Morgenröthe« nach Walter Crane. Der Kapitalismus als Raubvogel, der einen schlafenden Arbeiter angreift. Retter ein Engel mit Posaune und Fackel. Wichtig, die Sozialutopie: »News from nowhere« (Kunde von nirgendwo) von William Morris, 1834 bei London geboren, der als Kunsthandwerker (weniger als Sozialreformer) große Bedeutung für den europäischen Jugendstil hatte. Seine Utopie: Jeder ist kreativ, Klassenunterschiede gibt‘s nicht. Er sah die Verbindung von Industrialisierung, dem Zusammenbruch der sozialen Ordnung und dem Verfall des Geschmacks, ausgelöst durch die maschinelle Herstellung. Er schuf die »Arts and Crafts«-Bewegung in England. Zu sehen ein Dekorationsstoff aus seiner Werkstatt: »Strawberry Thief«. Auf blauem Grund viele Vögel, Blumen und Erdbeeren – schön. Zusammen mit der Marx-Tochter Eleanor gründete Morris 1885 die »Socialist League«, die jedoch ohne großen Einfluss blieb. In der Ausstellung, Beispiele von Kinderarbeit: junge Mädchen als Arbeiterinnen in einer Baumwollspinnerei in den Südstaaten der USA. Dann im Bild die Verhaftung von Suffragetten bei einer Demonstration für das Frauenstimmrecht in London. Die Rede der Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst: »Freedom or Death« von 1913. Ausgestellt auch ein grünes Tageskleid (hochgeschlossen und noch lang) einer »Suffragetten-Sympathisantin«, wie das Museum formuliert. Daneben Kleider des exklusiven Modedesigners Mariano Fortuny aus Venedig (um 1910). Alles weichfallend und edel – unbezahlbar. Die Nudisten brauchten so etwas nicht. Die Losung in der Vegetarier-Ansiedlung bei Ascona, 1904: »Kleidung möglichst kleiderlos«. Der ausgestellte Wurzelstuhl von dort muss für den nackten Rücken sehr unbequem gewesen sein. Die Sehnsucht nach Natur und Ursprünglichkeit, das ist der Jugendstil. Exotische Länder wurden entdeckt und der »edle Wilde«. Paul Gauguins »Noa Noa« als Anreiz. Arkadien, das konnte auch der Rückzug in ländliche Künstlerkolonien bedeuten. Und Kindheit als Unschulds- und Freiheitsort. Paula Modersohn-Beckers Gemälde »Kniender Mädchenakt vor blauem Vorhang« (1906/7) ähnelt Bildern Gauguins. Viele Entdeckungen fallen in die Zeit um 1900. Die Erforschung des Inneren. Röntgen und auch der Blick in die Seele: Freud. Alles spiegelt sich in der Kunst wider. Ausgestellt eines der Madonna-Bilder von Edvard Munch, Zeichnungen von Gustav Klimt. Bilder von Ferdinand Hodler. Darunter »Die Kindheit« (um 1894) – etwas kitschig. Aus seiner Zeit, als er den Rosenkreuzern zuneigte. Exotik war damals auch Japan, das die Künstler für sich entdeckten: die Verbindung zur Natur und die Einfachheit der Darstellung. Farbholzschnitte, das Vorbild: Hokusais »Die große Welle« und auch der heilige Berg Fuji. Wichtig ist, was nicht gezeigt wird – der Betrachter soll es für sich ergänzen. Pflanzen und Tiere bevölkern das Kunstgewerbe. Fische, Muscheln, Meerungeheuer auf Vasen, auf Stoffmustern. Aus Frankreich kommen neue Verfahren der Glasurbearbeitung. In New York experimentiert Louis C. Tiffany mit Lava-Glas, das er sich patentieren lässt. Lampen ähneln Blüten. Die Weltausstellung in Paris 1900: der Fixpunkt. Hier wurde gezeigt, was neu war. Und das war viel. Auch der Film. Erhellend, was Max Brod schon 1909 über das Kino sagte: »Wir wollen nicht mehr nüchterne Buchstaben zu Worten zusammensetzen, die beim Buchstabieren und Sinn-Erfassen den Geist anstrengen, sondern leicht und flüchtig die bildliche Lektüre genießen.« Fernsehen gab es noch nicht. Wer Jugendstil sagt, denkt auch an »Art Nouveau«, die französische Spielart. Auf der Weltausstellung 1900 in Paris war dem Erfinder Siegfried Samuel Bing ein eigener Pavillon eingerichtet. Gebrauchsgüter, Möbel vor allem, verbinden wir mit dem Jugendstil. Bekannt der Deutsche Peter Behrens, der Architektur und Innenausstattung als Einheit sah – sein Haus auf der Darmstädter Mathildenhöhe ist berühmt. Zu sehen hier sein »zarathustrischer Salonflügel«. In seinem Büro in Berlin arbeiteten später Le Corbusier, Walter Gropius und Mies van der Rohe. Henry van de Velde gestaltete nicht nur Innenräume. Buchillustrationen zu Nietzsches Schriften sind in der Ausstellung zu sehen. Das Streben nach dem Gesamtkunstwerk schwebte den Künstlern des Jugendstils vor. Die Schönheit im privaten Raum gegen die Hässlichkeit der Industrialisierung. Das Haus als Bühne für die Selbstinszenierung der Bewohner. Art Nouveau in Frankreich, das die Natur imitierende ausufernde Ornament – in Deutschland geht man andere Wege. Frankreich spricht von einer »Demokratisierung des Luxus« in Deutschland. Gartenstädte, die auch Häuser für Arbeiter berücksichtigen. Der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe klagt 1900 in seinem Aufsatz »Wie wir wohnen sollen« über die Realität: »billig und schlecht«. In Österreich wird 1903 die Wiener Werkstätte gegründet. An erster Stelle soll die »Gebrauchsfähigkeit« der Dinge stehen. Hier wird die Bedeutung der »Marke« erkannt, das »Branding« beginnt wichtig zu werden. Die Neueinrichtung der festen Jugendstil-Sammlung des Museums zeigt komplette Räume. Hier erst kommen die Möbel, Lampen, Tapeten, Bilder, Wandteppiche voll zur Geltung. Zum Schluss ein Gang durch die Plakatgalerie – dahin, wo ich mich am Beginn des Rundgangs verirrte. Herausragend, die prachtvollen Plakate von Alfons Mucha, der diese Lithografien zur Kunst erhob. Wunderschöne Mädchen mit Blumenkränzen im Haar, sehr idealisiert. Ein Blick zurück zur Weltausstellung. Die Beleuchtung dort wird als »wahre Lichtorgie« beschrieben. Eine Tänzerin, Loïe Fuller aus Chicago, entdeckte dieses Licht für sich. Als »Lichtfee« ist sie in Paris so etwas wie ein Pop-Idol. Mit Schleiergewändern und Tüchern, die sie um sich kreisen lässt mittels Stäben, die ihre Arme verlängern, führt sie ihren »Serpentinentanz« vor. Das wechselnde Licht spielt mit. Im Grunde bewegt sie nur ihren Oberkörper und ist fast immer völlig verdeckt. Kurze Filme zeigen die Tänzerin. Die Auflösung des Körpers im Stoffgewölk – alles flüchtig, vergänglich. Keine Persönlichkeit, nur Stoff – so empfand ich ihre Auftritte. Eine Tanz-Performance im Spiegelsaal des Museums, von Loïe Fuller inspiriert, gab Anlass, dass die Ausstellung bis zum 28. Februar verlängert wurde. Der schwarze Tänzer Trajal Harrell, zwei weiße Tänzer und eine Tänzerin zeigten die Vor-Aufführung einer Veranstaltung bei Kampnagel (am 5. und 6. Februar). In Form einer Modenschau zelebrierten sie gekonnt exaltiert und virtuos die Bewegungen von Models, ihre Blasiertheit, ihr Stelzen, und zeigten dabei furchtbar gemusterte Stoffstücke, die auch mal ihr Gesicht verdeckten. Barfuß auf Spitze oder in roten Stöckelschuhen. Kein Tanz, aber eine raffinierte Persiflage, Anti-Tanz auf die einlullende Schönheit. Harrells Bewegungen, geduckt, wie zum Sprung – gewollt verschlagen, ein böser Schwarzer, kein »edler Wilder«. Einer wie wir.
Erschienen in Ossietzky 3/2016 |
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