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Jetzt dagegen komme ich – ist es eine Alterserscheinung? – über den östlichen Ringbahnbereich kaum noch hinaus; westwärts schaffe ich es meist nur bis Gesundbrunnen, wo ich fast jeden Tag einkaufe. Auf eine Route, ein genaues Ziel wollte ich mich an jenem Morgen nicht gleich festlegen; am besten über Alexanderplatz zum Zoo und dann mal sehen. An der Hufelandstraße fuhr mir wie üblich die Straßenbahn vor der Nase weg, die nächste ließ neun Minuten auf sich warten und war knallvoll. In der S-Bahn, so dachte ich mir, wird es um die Zeit nicht besser sein, stieg um in die M5, die neuerdings bis zum Hauptbahnhof fährt, machte es mir bequem und beschaute die Gegend. In der Friedrichstraße waren auffallend viele Polizeiautos unterwegs, sausten mit Geheul straßauf, straßab. Einer der Wagen hielt, drei Männer sprangen heraus, rannten auf einen Hof – mein Gott, dachte ich, was man diesen biederen Menschen alles abverlangt! Ob sie für alle Fälle Gummiknüppel trugen, war so a tempo nicht zu erkennen. Schupo, Tschako, Gummiknüppel, das war ja früher mal geradezu eine Dreieinigkeit. Vielleicht gibt es da auch Kataloge: Modell Gorleben ... Modell Wackersdorf ... Lieferant: Erste Berliner Gummiknüppelfabrik. Inhaber: Horst ... Schnauze? Das wäre etwas billig. Schnauzke? Oder Schnauzky. Horst Schnauzky OHG. Neuanfertigung Reparatur. Aha, Reparatur auch? Und schon, eben erst erschaffen, meldet sich dieser Schnauzky zu Wort: Also ick wüll ma saren, Repratur, dis is heute doch eher die Ausnahme. Höchstens wenn eem dit jute Stück so richtig ant Herz jewachsen is, denn kommtet schon ma vor. Ja, danke. Kein Verkauf an Privat! Schade. Oder wenigstens Verleih? Ooch nich. Valeihn tu ick se höchstens an meine drei besten Kumpels. Da weeß ick wenigsns, dasse damit keen Blödsinn machen. Was für einen Blödsinn denn? Na saren wa ma, Pullizisten vatrimmn. Herr Schnauzky sagt nicht Bullen, sondern Polizisten, denn er ist, kein Wunder bei dem Beruf, staatstreu bis ins Mark. Die Staatsform ist ihm wahrscheinlich piepe: Hauptsache Staat und eine Polizei, die kräftig draufhaut. Ansonsten ist er aber eine Seele von Mensch, hat sogar, wie er sagt, nüscht jejen Auslända – wennse bei sich zu Hause bleihm. Aber Herr Schnauzky, stellen Sie sich mal vor, Sie fahren ins Ausland – da gelten Sie nämlich als Ausländer! Junga Mann, det is doch Quatsch mit Soße, tschuljung. Auslända kommn ausm Ausland, deshalb heißtet ja ooch so. Ick komme aber, Sie wern staun, aus Deutschland, ick bin nehmlich n Deutscha, und da kann ick jetz hinfahn, wo ick will, in sonst wat fürn Ausland, n Deutscha bleibick ooch! Ich glaube, das reicht für heute. Inzwischen waren wir längst in die Invalidenstraße eingebogen; ich war ausgestiegen, um zwischendurch ein Stück zu laufen. Am Scharnhorstplatz, letzte Station im Ostsektor, schräg links vor sich sieht man schon den Hauptbahnhof, stand ein großer Beutel, und da ich stets neugierig bin, schaute ich hinein: Ein Regenschirm und ein paar aufgeweichte Servietten steckten darin, eine leere Fischbüchse und ... ein Paar abgelatschter Schuhe? Eine leere Schnapsflasche? Eine Bombenattrappe? Nein, es war ein schwarz gewandetes Buch: die Bibel. Vielleicht, so dachte ich, hätte ein Sherlock Holmes dies surreale Ensemble zu deuten gewusst. An großen alten Bauten kam ich darauf vorbei, Minister residieren hier; ich kam vorbei am Museum Hamburger Bahnhof und überquerte einen Wasserlauf, den ich für die Spree hielt – es ist aber irgendein Kanal. Am rechten Seitenflügel des Hamburger Bahnhofs war Restaurant Sarah Wiener zu lesen. Und ich dachte: Wiener, mit dem Namen kann ja nichts schiefgehen in der Gastronomie. Wer dagegen Bockwurst heißt, Sandra Bockwurst meinetwegen, der kriegt nichts geschenkt und muss sich mühsam durchbeißen. Rund um den Hauptbahnhof breitet sich noch immer einiges Steppenland aus, nur langsam geht es hier mit dem Bauen voran. Dem Bahnhof gegenüber ist ein großes hässliches Hotel entstanden, direkt davor führen Stufen hinunter zu einem saalartigen Zwischengeschoss und dann weiter zum U-Bahnhof der Linie 55. Ich war sogleich in einer anderen Welt: oben Leben und Treiben, Autos hupen, Straßenbahnen bimmeln, Menschen hasten und eilen; im Untergrund, diesem Saal also, Leere und Stille wie in einer Grabkammer. Jrabkamma, jenau, für unsre Steuajelda nehmlich, hörte ich eine wutschnaufende Stimme – kein Zweifel, es war noch einmal Herr Schnauzky; er musste sich irgendwo bei mir verkrochen haben. Allet von unsre Steuajelda, allet zum Fensta raus ... Ist ja gut, Herr Schnauzky, ist ja gut, sehnse mal, da vorn sind sogar Fahrgäste. Drei oder vier waren es, sie kamen von der U-Bahn und bogen nach rechts, wo es hinabgeht zu den unteren Bahnsteigen des Hauptbahnhofs. Ich sah die Anzeige Senftenberg über Südkreuz 9.30 Uhr, es war gerade 9.30 Uhr – na prima, sagte ich mir, fahre ich die zwei Stationen und bummele dann in Schöneberg herum. Aber es ließ sich kein Zug blicken, es war auch niemand auf dem Bahnsteig; war Verspätung angezeigt? Dann erlosch die Anzeige, und eine andere erschien: Gesundbrunnen 9.38 Uhr. Ausgerechnet Gesundbrunnen. »Jedes Unglück«, heißt es in Novalis’ Fragmenten, »ist gleichsam das Hindernis eines Stroms, der nach überwundner Hinderung nur desto mächtiger durchbricht.« Ich wollte aber nichts überwinden und sagte mir daher, die Sache sei kein Unglück, sondern ein Test meiner Flexibilität. Man fährt vom Hauptbahnhof bis Gesundbrunnen nur wenige Minuten. Der Zug war fast leer, ich wanderte darin herum, genoss die Aussicht und dachte an dieses und jenes. »Validate your ticket here«, hatte ich in der Straßenbahn gelesen … Validität … Invalidenstraße … Invalide: Jemand, der nichts wert ist, ein Wertloser. Ich beschloss, dieses menschenfeindliche Wort, über das ich nie zuvor nachgedacht hatte, nicht mehr zu verwenden. Vielleicht war das der Hauptertrag dieses Vormittags.
Erschienen in Ossietzky 2/2016 |
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