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EU-Parlamentspräsident Martin Schulz spricht von »Staatsstreich-Charakter« und Lech Wałęsa, seinerzeit Solidarność-Führer und ehemaliger Präsident Polens, warnt vor einem Bürgerkrieg. Die Brüder Kaczyński hatten ja schon einmal das Land nationalkonservativ regiert. Lech Kaczyński, Mitbegründer von PiS, war vom 23. Dezember 2005 bis zu seinem Tod durch den Flugzeugabsturz 2010 Präsident des Landes, sein Bruder Jarosław bekleidete von 2006 bis 2007 das Amt des Ministerpräsidenten. Die Regierung damals war innenpolitisch auf extrem rechtem Kurs, gleichzeitig aber bemüht, in wirtschaftlichen und sozialen Fragen nicht zu starke neoliberale Ausschläge zuzulassen. Ähnliches hatten die Bürger auch diesmal erwartet. Im Wahlkampf hatte die PiS sich für die Interessen derjenigen eingesetzt, die durch die Wirtschaftsentwicklung benachteiligt wurden. Doch vergessen wurde bei alledem, wie sehr sich der Vorsitzende der PiS, Jarosław Kaczyński, nach dem Tod seines Bruders verändert hat. Er hält nach wie vor die These von einem russischen Anschlag gegen das Flugzeug, in dem sein Bruder zusammen mit vielen ranghohen Vertretern des Landes ums Leben gekommen ist, aufrecht. Diese Behauptung bestimmt sein Handeln. Kaczyński sieht sich jetzt in der Rolle seines großen Vorbildes, Józef Piłsudski. Er wurde 1920 nach dem Sieg über die Rote Armee (»Wunder an der Weichsel«) zum Nationalheld, gleichzeitig markierte seine Machtergreifung 1926 den Weg von der Demokratie zur Diktatur. Tatsächlich ist das, was in den letzten Wochen in Polen geschah, weit entfernt von dem, was man sich unter Demokratie vorstellt. Die kürzlich regulär neu ernannten Verfassungsrichter waren kurz vor der Parlamentswahlvon Präsident Andrzej Duda (parteilos, vorher PiS) nicht vereidigt worden, nun hat die Regierung unter Ministerpräsidentin Beata Szydło (PiS) verfassungswidrig neue Richter ernannt. Polizeipräsidenten, Amtsleiter wurden fast im Handstreichverfahren ausgetauscht. In einer Nachtaktion sind Beamte des polnischen Verteidigungsministeriums und der Militärpolizei in das der NATO nahestehende polnisch-slowakische Spionagezentrum mit Nachschlüsseln eingedrungen und haben den Leiter für abgesetzt erklärt. Rundfunk, Fernsehen und die Nachrichtenagentur PAP sollen verstaatlicht und jeweils von durch die Regierungspartei bestimmte Chefs geführt werden. Wie sehr das alles das Werk Kaczyńskis ist, wird deutlich, wenn Beobachter davon sprechen, dass die neue Ministerpräsidentin nicht einmal ihre Minister selbst auswählen durfte. Das Ergebnis sieht entsprechend aus. Mariusz Kamiński, Minister mit dem Aufgabenbereich »Koordinator für spezielle Aufgaben«, wurde noch im März 2015 erstinstanzlich wegen Kompetenzüberschreitung, Urkundenfälschung und illegaler Telefonüberwachung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren sowie einem zehnjährigen Verbot der Ausübung eines öffentlichen Amtes verurteilt. Das Urteil war noch nicht rechtskräftig, da wurde er im November vom neuen Präsidenten begnadigt (was normalerweise erst nach rechtskräftigen Verurteilungen möglich ist). So konnte er jetzt Minister werden. Verteidigungsminister Antoni Macierewicz, einer der umstrittensten Politiker des Landes, »gehörte 1976 zu den Mitbegründern des ›Komitees zur Verteidigung der Arbeiter‹ (KOR), der wichtigsten antikommunistischen Bewegung neben der Gewerkschaft Solidarność« (Tagesspiegel). In einem Interview mit dem rechtskatholischen Radio Maryja versuchte der Historiker (Spezialgebiet Lateinamerika) 2002 seine These von einer jüdischen Weltverschwörung in Medien und Politik zu »beweisen«. In Polen ist Macierewicz vor allem als Verfechter der These eines russischen Attentats auf die Präsidentenmaschine im April 2010 bei Smolensk bekannt. Im Europaparlament erklärte er Putin dafür für verantwortlich. Nun wird Macierewicz, der in Brüssel als »unberechenbar« gilt, für die Ausrichtung des Warschauer NATO-Gipfels 2016 mitverantwortlich sein. Während PiS immer mehr WählerInnen für sich interessieren konnte, hat die polnische Linke in den letzten Jahren vor allem durch Korruptionsaffären von sich reden gemacht und keine Alternativen geboten. Obwohl sich sechs linke und grüne Parteien zu einem Wahlbündnis zusammengeschlossen hatten, erreichten sie die Hürde von acht Prozent, die für Bündnisse besteht, nicht. Somit ist keine Partei links von der neoliberalen PO mehr im Parlament vertreten. Doch inzwischen regt sich massiver Widerstand gegen die neue Regierung im Land. Zehntausende gehen in zahlreichen Städten auf die Straße, um gegen den Weg Polens nach dem Muster von Ungarns Viktor Orbán zu protestieren. Polen hat eine Chance auf eine neue außerparlamentarische Opposition. Und beim Protest auf den Straßen singt man die Nationalhymne: »Noch ist Polen nicht verloren.« Karl Forster ist Leitender Redakteur der Zeitschrift »Polen und wir« und Vorstandsmitglied der Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland.
Erschienen in Ossietzky 1/2016 |
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