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Der EU-Türkei-Deal beinhaltet fernerhin eine Intensivierung der festgefahrenen EU-Beitrittsverhandlungen und Visaerleichterungen für türkische Staatsbürger bei Reisen in die EU. Bundesinnenminister Thomas de Maizière betonte in einem am 13. Dezember 2015 in der Welt veröffentlichten Interview die »Schlüsselrolle« der Türkei bei der Sicherung der EU-Außengrenzen. Die aktuellen Verhandlungen hätten das Ziel einer größtmöglichen Unterbindung der Einreise von Schutzsuchenden in die EU von der Türkei aus. Dafür sei die EU bereit, der Türkei in vielen Bereichen entgegenzukommen. Der Bundesinnenminister lobte »erkennbare türkische Bemühungen, den Grenzübertritt zu verhindern«. So nahm die türkische Polizei bereits einen Tag nach dem EU-Türkei-Gipfel in Küstennähe rund 1300 Flüchtlinge fest, die wohl eine Überfahrt in Richtung der griechischen Inseln geplant hatten. Die Festgenommenen wurden in Haftzentren verbracht und zum Teil bereits abgeschoben. Schon vor dem EU-Türkei-Gipfel beklagte der Europäische Flüchtlingsrat, dass die Türkei an ihrer Grenze zu Syrien zunehmend rigider gegenüber Schutz-suchenden agiere. Es war die Rede von im Grenzgebiet auf syrischer Seite gestrandeten Flüchtlingen und illegalen Rückführungen in das Bürgerkriegsland Syrien. Seit September 2015 haben türkische Behörden laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International hunderte Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak an der Grenze festgenommen und vor die Wahl gestellt, entweder in ihre Heimatländer abgeschoben oder auf unbestimmte Zeit inhaftiert zu werden. Im osttürkischen Erzurum und im südtürkischen Osmaniye wurden bereits aus EU-Geldern finanzierte Haftzentren für Flüchtlinge errichtet, deren Insassen in der Regel der Kontakt zur Außenwelt untersagt wird. Die Maßnahmen zur Unterbindung einer Weiterflucht nach Europa führen in der Praxis dazu, dass die Flucht für die Betroffenen noch teurer, länger und gefährlicher wird, da Schlepper mehr Geld für ihre Dienste verlangen und auf längere Fluchtrouten über die Ägäis ausweichen. Allein in den ersten zehn Tagen des Monats Dezember kamen nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) 86 Menschen in der Ägäis ums Leben – fast ebenso viele wie im gesamten Vormonat. Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl spricht von einem »Deal auf Kosten der Menschenrechte«, bei dem die EU ihre eigenen demokratischen und menschenrechtlichen Standards hintanstelle. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan werde für seine »Türsteherdienste« nicht nur finanziell fürstlich entlohnt. Die Abschottung der europäischen Außengrenzen sei zudem mit dem Stillschweigen der EU zu Menschenrechtsverletzungen durch den innenpolitisch zunehmend autoritär agierenden Präsidenten erkauft. Tatsächlich hatte die EU noch in ihrem im November veröffentlichten Fortschrittsbericht der Türkei gravierende Rückschritte unter anderem bei der Presse- und Meinungsfreiheit, der Rechtsstaatlichkeit und dem Umgang mit Minderheiten konstatiert. So häuften sich Übergriffe auf oppositionelle Medien. Ende November wurden der Chefredakteur der liberalen Tageszeitung Cumhuriyet, Can Dündar, und der Leiter ihres Hauptstadtbüros, Erdem Gül, unter Spionagevorwürfen verhaftet, weil sie über Waffenlieferungen des türkischen Geheimdienstes an syrische Dschihadistengruppierungen berichtet hatten. Zudem wurden mehrere regierungskritische Medienhäuser aus dem Umfeld der religiös-konservativen Gülen-Bewegung unter zweifelhaften Terrorismusvorwürfen auf Weisung eines Gerichts kurzerhand unter staatliche Aufsicht gestellt. Zahlreiche Journalisten der betroffenen Zeitungen und Sender wurden entlassen, die Zeitungen schwenkten quasi über Nacht auf eine Pro-Erdoğan-Haltung um. Ein Jugendfunktionär der Regierungspartei AKP, der im September den Angriff eines faschistischen Rollkommandos auf die Redaktion der Erdoğan-kritischen Tageszeitung Hürriyet angeführt hatte, wurde im Dezember für diese »Heldentat« mit einer Ernennung zum Vizeminister für Jugend und Sport belohnt. Besonders scheint die AKP-Regierung den Deal mit der EU als Freifahrtschein für eine weitere Eskalation ihres Krieges gegen die Kurden verstanden zu haben. Laut eines Berichts der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) von Mitte Dezember 2015 hat es unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung – gemeint ist die Arbeiterpartei Kurdistans PKK – innerhalb von fünf Monaten bereits 52 unbegrenzte und rund um die Uhr anhaltende Ausgangssperren von insgesamt 163 Tagen in 17 Kreisen in sieben kurdischen Provinzen im Südosten der Türkei gegeben. Davon waren rund 1,3 Millionen Menschen betroffen. Die Ausgangssperren richteten sich gegen Städte wie Cizre, Silvan, Nusaybin und die Altstadt von Diyarbakır, in denen die prokurdische HDP weit überdurchschnittliche Wahlergebnisse von 70 bis 90 Prozent erreicht hatte. Diese Städte hatten sich, nachdem Erdoğan den Friedensprozess mit der PKK abbrach, für autonom und durch Volksräte in den einzelnen Vierteln verwaltet erklärt. Auf die Verhaftung von Bürgermeistern und Räteaktivisten reagierten Jugendliche mit dem Bau von Gräben und Barrikaden zum Schutze der selbstverwalteten Viertel. Diese Verteidigungsanlagen dienen den Sicherheitskräften nun wieder als Vorwand, die dortige Bevölkerung mit Ausgangssperren kollektiv in Geiselhaft zu nehmen. Seit Sommer haben Sicherheitskräfte rund 150 Zivilisten in den belagerten Städten erschossen. Unter den Opfern waren zahlreiche Kinder und Jugendliche, Mütter sowie alte Menschen. Guerillakämpfer fanden sich keine unter den meist von polizeilichen Scharfschützen oder parastaatlichen Todesschwadronen Ermordeten, schließlich ist die Guerilla derzeit noch nicht in den Städten aktiv. Durch den Beschuss von Wohngebieten mit Kriegswaffen wurden zahlreiche Wohnhäuser sowie in Diyarbakır auch historische Monumente beschädigt oder zerstört. Bis zu 200.000 Kurden sind innerhalb der Türkei auf der Flucht. Von Seiten der EU und ihrer Mitgliedsregierungen fehlt derweil jede Kritik an Erdoğans Krieg gegen die eigene kurdische Bevölkerung ebenso wie an dessen Willkürmaßnahmen gegenüber Schutzsuchenden. »Die EU hat ihre eigenen Grundsätze verkauft. Die EU befindet sich heute in einer Position, in der sie zu Menschenrechten und den Kopenhagener Kriterien [zur EU-Aufnahme der Türkei] befragt werden muss«, beklagte dementsprechend der Kovorsitzende der links-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) Selahattin Demirtas den Ausverkauf der vielbeschworenen europäischen Werte durch die EU selber.
Erschienen in Ossietzky 1/2016 |
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