von Sebastian Chwala
Es ist nochmal gutgegangen. So lauteten sinngemäß die Schlagzeilen der meisten französischen Medien am Morgen des 14. Dezembers, als nach Auszählung aller Stimmen der Stichwahlen in den französischen Regionen feststand, dass weder Marine Le Pen noch ihre Nichte, Marion Marechal-Le Pen, einen der erhofften Posten als Regionalpräsidentinnen erringen werden. Zwar sind die Ämter im strikt zentralistischen Frankreich ohne allzu großen politischen Einfluss, doch die Bedeutung, an die Spitze einer Verwaltungseinheit, die mehrere Millionen Menschen umfasst, gewählt zu werden, kann nicht unterschätzt werden. Der FN hätte mit der erneuten Legitimierung ihres fremdenfeindlichen und neoliberalen Programms einen gewaltigen Schritt nach vorne machen können, und die Hoffnung der Marine Le Pen, 2017 zur französischen Staatspräsidentin gewählt zu werden, hätte neue Nahrung bekommen. Doch eine massive Mobilisierung der wahrscheinlich eher der Linken nahestehenden Nichtwähler sorgte dafür, dass der Front National, der nach der ersten Wahlrunde in sechs Regionen noch deutlich vorne gelegen hatte, in der zweiten Runde prozentual stagnierte und noch überflügelt wurde.
Dennoch erreichte der Front National mit gut 6,5 Millionen Stimmen und 358 Mandaten in den Regionalversammlungen ein in diesem Ausmaß noch nie dagewesenes Ergebnis. So konnte der FN gerade in den Regionen, in denen ein Sieg möglich schien, auch noch einmal aus dem Lager der Nichtwähler mobilisieren. Für den Politikwissenschaftler und – laut "Libération" – "FN-Experten" Joël Gombin ein Hinweis darauf, dass der FN sein Wählerpotenzial noch lange nicht ausgeschöpft habe und Le Pen bei einer neuerlichen Kandidatur zur nächsten Präsidentschaftswahl 2017 mindestens mit einer Teilnahme an der Stichwahl rechnen könne. Absurderweise führte aber genau dieses Ergebnis dazu, dass sich die Sozialistische Partei besser behaupten konnte als im Vorfeld zu erwarten war. So konnte sie in den Stichwahlen, wo sich drei Listen für diese zweite Wahlrunde qualifiziert hatte, oftmals von der Spaltung der Rechten profitieren, obwohl man selbst weniger Stimmen als das rechte Lager erreicht hatte. Natürlich galt dies nur dort, wo man noch aussichtsreich ins Rennen gegangen war. In der Region "Nord-Pas-de-Calais und Picardie" sowie in der Regionen "Provence-Alpes-Côtes-D´Azur" waren die Listen für die Stichwahlen zurückgezogen worden, um einen Wahlsieg des FN zu verhindern. Gerade in erstgenannter Region, deren Kern das Pas-de-Calais ist, eine der "Wiegen der französischen Arbeiterbewegung", so der linke Historiker Roger Martelli, schmerzt es sehr, dass in der neuen Regionalversammlung nur noch Vertreter der bürgerlichen und extremen Rechten sitzen werden. Doch welche Alternative können die Bürgerlichen sein, die seit Nicolas Sarkozys Präsidentschaft zwischen 2007 und 2012 selbst eine Debatte darüber angestoßen haben, wie eine französische Identität auszusehen habe? Die Sozialdemokratie ist diesen Weg mitgegangen, der gerade von den Migranten eine einseitige Assimilation in die französische Gesellschaft fordert. Gleichzeitig wurden aber die finanziellen Mittel gestrichen, die in den bitterarmen Banlieugemeinden notwendig wären, um wenigstens über qualitativ gute schulische und außerschulische Bildungsangebote eine Integration in die französische Gesellschaft zu ermöglichen. Die Regierung Valls hat den Gebietskörperschaften kürzlich noch einmal 11 Milliarden Euro an Mittelzuweisungen weggekürzt – so bleibt der Leitsatz "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ein leere Floskel.
Es ist aber auch ein Teil der Wahrheit, dass gerade diese Region sinnbildlich für eine Entwicklung steht, die seit den 1990er Jahren zunehmend sehr starke Wahlergebnisse des Front National in ehemals "tiefroten" Regionen und unter Arbeitern insgesamt aufweist. Damals entbrannte eine Debatte in der Sozialwissenschaft, wie dieses Phänomen zu deuten sei. Schließlich hatte der Front National unter seinem damaligen Vorsitzenden Jean-Marie Le Pen vor allen Dingen als Kämpfer gegen den Kommunismus, glühender Reagan-Verehrer und als Lobbyist für das Kleinunternehmertum von sich reden gemacht. Eine sozialökonomisch relevante Gruppe, die in der französischen Sozialgeschichte immer in der ersten Reihe marschierte, wenn es gegen Gewerkschaften, sozialistische Parteien und die Stärkung des Sozialstaates, zum Beispiel durch die Front populäre (Volksfront)-Regierung ab 1936 zu streiten galt. Verständlicherweise fanden sich unter den "Kleinen Unabhängigen", wie sie auch gerne bezeichnet werden, viele Sympathisanten für das Kollaborationsregime der Vichy-Regierung unter Petain, dass mit seiner Betonung eines ständisch orientierten, antimonopolitischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells auf viel Wohlwollen bei jenen traf.
Auch der Antisemitismus, Rassismus und der ethnisch motivierte Nationalismus, der von den Theoretikern der extremen Rechten, Eduard Drumond, Maurice Barrès und Charles Maurras Ende des 19. Jahrhunderts ausgearbeitet wurde, stand in enger Verbindung zu den sozialen Abstiegsängsten der in den ländlichen, wenig industrialisierten Regionen Frankreichs dominierenden bäuerlichen und handwerklichen Milieus. Der mit einer strikten Ablehnung allen urbanen Lebens und der "Intellektuellen" einhergehende, antimoderne Diskurs der extremen Rechten romantisierte die Traditionen der ländlichen Produktionsweise und des konservativen Familienmodells und wandte sich gegen jede Form der Zuwanderung, die damals vor allem durch die Einwanderung vieler italienischer Migranten zustande kam, die ihr Auskommen in der sich langsam entwickelnden Schwerindustrie suchten.
Aus diesem ideologischen Fundus bediente sich der junge FN, der übrigens 1972 nicht von Jean-Marie Le Pen, sondern aus dem Umfeld einer rechtsterroristischen Gruppe mit Namen "ordre nouveau" ("Neue Ordnung"), die sich wiederum positiv auf den italienischen Nachkriegsfaschismus bezog, gegründet wurde. Für diese galt es, die Herrschaft der weißen Rasse durchzusetzen, die allen anderen als natürlich überlegen galt. Deren Führer Duprat wollte Le Pen, der sich schon als Parlamentarier für diverse, nach rechtsaußen offene Wirtschaftsparteien einen Namen gemacht hatte, als gemäßigtes Aushängeschild für seine neue Partei. Man beschwerte sich über den ausufernden Steuerstaat, über die monströse Bürokratie und forderte die Entstaatlichung der französischen Ökonomie. Allerdings nicht in Form einer einfachen Privatisierung, sondern man forderte die Zerschlagung der Großstrukturen zugunsten eines "Volkskapitalismus". Außerdem kokettierte man ganz offen mit traditionalistischen, reaktionären und antirevolutionären Kreisen.
Von der faschistischen Sekte zur "Partei der französischen Interessen" Die Strategie der Partei änderte sich, als sie mit ihrer resoluten Rhetorik gegen die Linke nach dem Wahlsieg Mitterrands 1981 die antikommunistischen Reflexe des rechtsbürgerlichen Lagers ansprach und auf einmal für die unteren Fraktionen des Kleinbürgertums interessant wurde, die den FN ab 1983 in wachsendem Ausmaß wählten. Die zentrale Figur, die diesen Erfolg möglich machte, war Bruno Mégret. Dieser Absolvent der elitären Nationalen Verwaltungshochschule (ENA) durchlief seine erste "Politisierung" innerhalb der Strukturen der Verwaltungsspitze in einer Phase, in der der fiskalpolitische Konservatismus um sich zu greifen begann. Diese Fiskalpolitik legitimierte durch Kostengründe die "antimigrantische" Wende in der französischen Regierung, wie der Soziologe Slyvain Laurens in einer Studie über die Rolle der hohen Beamten und ihren Beitrag zur Migrationspolitik ausführt.
Mégrets Hauptaufgabe bestand darin, dem FN Respektabilität in der "bürgerlichen Mitte" zu verschaffen, indem die Positionen des FN, die zu diesem Zeitpunkt neben einem radikalen Neoliberalismus eine aggressive Antimigrationskomponente beinhaltete, sich jedoch nicht gegen die Europäische Union richtete, mehrheitsfähig gemacht werden. Dafür galt es allerdings, technokratische und "wissenschaftlich objektive" Argumente zu finden, ohne allzu große Polemik zu produzieren. Und auch die ultrareaktionären Kräfte wurden nicht unbedingt aus der Partei gedrängt. Die "Eisenfaust müsse sich Samthandschuhe überziehen", formulierte Mégret seine Strategie für den FN.
Als mit dem Verschwinden des Realsozialismus der alte Feind abhandenkam, brauchte es einen neuen Feind. Und dieser neue Gegner wurde in der Ablehnung des "Globalismus" und der EU gefunden, und zwar nicht nur mit all ihren ökonomischen Folge, sondern vor allen Dingen mit ihrer Bedrohung der Kultur, die mit der Öffnung nach außen einhergehen sollte. Die "US-Kultur", die unbegrenzte Zuwanderung und, ein zentraler, von Maurice Barrés geprägter Begriff, die Entwurzelung und die Heimatlosigkeit durch den allseits um sich greifenden ökonomischen und kulturellen Liberalismus waren nun zentralen Probleme, die durch eine "préference française" (französische Präferenz) in allen Bereichen des Lebens und der Ökonomie bekämpft werden sollte.
Diese Punkte übernahm Marine Le Pen in ihr Konzept der "priorité française", ergänzte sie aber durch ein heuchlerisches Bekenntnis zum Laizismus und der von den Ideen der französischen Revolution getragen Republik. Wie wenig man davon allerdings wirklich hält, zeigte sie in ihrer Rede während der diesjährigen Sommerakademie des FN, als sie die großen Errungenschaften Frankreichs – ganz zentral hob sie dabei das Bildungssystem heraus – bewusst als der französischen Revolution vorausgehend bezeichnete und sich über die Betonung der Fixierung der postrevolutionären Geschichtsschreibung beschwerte.
Der Vordenker des FN wurde bereits Ende 1998 von Le Pen Senior, der sich vom Einfluss Mégrets bedroht sah, aus dem "Front" ausgeschlossen. Dennoch ist ganz im Sinne des Kampfes um gesellschaftliche Anerkennung den Strategen der Partei in der Nachfolge Mégrets bewusst geworden, dass eine ultraliberale Argumentation möglicherweise auf Dauer viele Wählerstimmen kosten könnte. Deshalb thematisiert der FN seit den 1990ger Jahren offensiv die Existenz der Massenarbeitslosigkeit und auch der wachsenden Armut, und seit Marine Le Pens Übernahme des Parteivorsitzes auch den zunehmenden Abbau des Öffentlichen Dienstes. Das hat wiederum in Teilen der Sozialwissenschaften zu der vorschnellen Behauptung geführt, der FN hätte tatsächlich eine Linksverschiebung erlebt. Tatsächlich stimmt das so nicht. Wenn Marine Le Pen vom öffentlichen Dienst spricht, meint sie fast ausschließlich Militär und Polizei. Schließlich herrsche ja an allen Ecken Gewalt und Unsicherheit vor. Alle anderen Bereiche könnten ruhig zusammengekürzt werden. Hier wird Le Pen nicht müde, das alte Bild des teuren und ineffektiven Monstrums zu betonen.
Wer dies nicht glauben mag, dem sei ein Blick in die vom FN geführten Kommunen angeraten. Hier kürzen die Bürgermeister reihenweise die kommunalen Sozialleistungen zusammen, vor allen Dingen bei der kostenfreien Kinderbetreuung oder den subventionierten Gebühren für die Schulkantinen. Dies wird mit massivem Sozialrassismus begründet. So wird den Familien, die auf diese Unterstützungsleistungen angewiesen sind, generell unterstellt, Betrüger oder Arbeitsverweigerer zu sein, während sich die Bürgermeister munter die Gehälter erhöhen. Gleiches dürfte wohl auch den Erwerbslosen auf nationaler Ebene drohen, sollte dort der FN jemals das Sagen haben. So wird jenen im Wahlprogramm von 2012 eine Verschärfung der Repression durch die Arbeitsvermittlungsagenturen angedroht. Zudem hat der FN seit 2012 noch kein einziges Mal einer progressiven Forderung, wie zum Beispiel der Erhöhung des Mindestlohnes, zugestimmt. Für den FN kann demzufolge die Aufrechterhaltung der sozialstaatlichen Leistungen nur über Leistungsverweigerung bzw. Einsparungen bei "Marginalisierten" wie Migranten und Arbeitslosen erfolgen. Außerdem gelten die Vertreter der (Arbeiter)gewerkschaften nach wie vor als politischer Hauptfeind, die auf Interessengegensatz statt auf Konsens mit dem für Frankreich schaffenden Kapital setzten. Deshalb müssen sie auch ihrer Rechte beraubt und durch "korporatistische" Organisationen ersetzt werden.
Wer ist der typische Front national Wähler? Einige Anmerkungen zur Debatte Doch all diese Betrachtungen der Parteistrategie geben natürlich keine Antwort auf die Frage, wer letztendlich die Wählerbasis der Partei bildet. Ziehen wir die Nichtwähler ab, so kommen wir auf einen Anteil von ca. 13 bis 15 Prozent der registrierten Wählerinnen und Wähler, die an den letzten beiden Sonntagen eine Liste des Front National unterstützt haben. Insgesamt eine kleine, aber relevante Gruppe von Menschen, über deren wirklichen Motive nach wie vor nicht allzu viel bekannt ist. Ziemlich einhellig jedoch werden in den letzten gut 20 Jahren relativ global "die Arbeiter" verantwortlich gemacht. Diesen wird generell unterstellt, von der wirtschaftlichen Abwärtsentwicklung der letzten Jahre nicht profitiert zu haben. Aus Frust, aber auch aufgrund wachsender gesellschaftlicher und ökonomischer Ausgrenzung, hätten sie maßgeblichen Anteil am Anwachsen des Rechtsextremismus. Phasenweise wurde sogar ein direktes Überwechseln der Wähler der kommunistischen Partei zum FN behauptet. Tatsächlich ist es bis heute nicht gelungen, die besondere Affinität der "alten Arbeiterklasse, also der Berg-, Stahl- oder Facharbeiter in der Automobilindustrie nachzuweisen. Verantwortlich ist der Mangel an qualitativem empirischem Material, dass die Aussagekraft der quantitativ durchgeführten Telefon- bzw. der in Frankreich üblichen Methode der Onlineumfragen übersteigt und Einblicke in das Leben der Menschen jenseits bereits vorformulierter Fragen samt eingeschränkter Antwortmöglichkeiten bietet. Dafür bieten sich ethnographische Ansätze an, die versuchen, die mit den zu erforschenden Einstellungsmustern verbundene alltägliche Lebens- und Arbeitswelt in den Mittelpunkt zu rücken. Ebenso wichtige Einblicke geben sozialhistorische Studien.
Letztere zeigen auf, dass in Bezug auf die Arbeitermilieus alles andere als allgemeingültige Antworten über deren politisches Bewusstsein gegeben werden können. So lassen sich zwei unterschiedliche Arbeiterbewegungen erkennen, nämlich einerseits eine sozialdemokratische, die unter den Bergarbeitern im Pas-de-Calais vorherrschend und die sehr stark "paternalistisch" geprägt war, und die kommunistische Traditionslinie, die im Kern eine Bewegung von unten war und auf die Vermittlung kritischen gesellschaftlichen Bewusstseins setzte. Im Pas-de-Calais dagegen begnügte sich die Sozialdemokratie seit Beginn des Jahrhunderts damit, die Belange einer im Interesse der Bergbaugesellschaften von der katholische Kirche ideologisch verwaltet und geformten Arbeiterklasse einfach nur auf niedrigstem Niveau ökonomisch zu befriedigen. Auf eine Politisierung ihrer Interessen verzichtete sie weitgehend. Der Soziologe Olivier Schwarz hat in seiner Studie "Das Privatleben der Arbeiter" schon in den 1980er Jahren auf die Existenz einer formal eher ungebildeten und gesellschaftspolitisch konservativen Arbeiterschaft hingewiesen, die von der lokal mächtigen Parti Socialiste über klientelistische Netzwerke zur richtigen Stimmabgabe ermuntert wurde, und die von Obrigkeitsgläubigkeit geprägt war. Zahlreiche Studien haben diese Befunde bestätigt. Dieses System funktionierte bis in die 2000er Jahre. Nachdem allerdings schon in den 1960ern die Kohleminen stillgelegt worden waren und ab den 1980ern auch die metallverarbeitende Industrie folgte, konnte dieses Prinzip aus Gründen der Überforderung der kommunalen Haushalte durch ausbleibende Steuereinahmen nicht mehr aufrecht erhalten werden. Im Falle Henin-Beaumonts führte sie sogar zur Verhaftung und zur Verurteilung des sozialdemokratischen Bürgermeisters wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder. Diese Vetternwirtschaft wurde vom lokalen Front National immer thematisiert und mag im allgemeinen Zustand der ökonomische Krise der Region beim ein oder anderen Wähler den Wunsch ausgelöst haben, mit denen da oben einmal abzurechnen und Schluss mit dem "System UMPS" (Slogan des Front National), zu machen.
Allerdings ist der Nordwesten Frankreichs keine Region, die sich durch einen generellen Niedergang auszeichnet. So liegt zum Beispiel die Rate an jungen Menschen mit Hochschulabschluss europaweit im vorderen Drittel. Gleichzeitig gehören viele junge Menschen einer "neuen Arbeiterklasse" an, die oft weder gewerkschaftliche Organisierung für nötig hält, noch sich der Existenz von Klassenwidersprüchen bewusst ist. Diese sind so allerdings der Unsicherheit, die Arbeitsverhältnisse im neoliberalen Kapitalismus mit sich bringen, weitgehend ausgeliefert. Ärger über die vermeintlich privilegierte Stellung von Erwerbslosen oder Migranten durch ihre angeblich generöse finanzielle Unterstützung zum Lebensunterhalt oder aber die hohe Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt durch "Nichtfranzosen" könnte die oben beschriebenen programmatischen Aspekte des Front National für junge Menschen attraktiv machen. Allerdings enthalten sich die Jungwähler_innen eher der Stimmabgabe als Rechts zu wählen – gerade einmal 34 Prozent der 18- bis 24jährgen nahm am ersten Wahlgang der Regionalwahl teil.
Neuere ethnographische Daten lassen allerdings erkennen, dass eher Facharbeiter und weniger junge und prekäre Menschen für den FN stimmen. Diese leben aber oftmals fern der Städte und arbeiten in der Kleinindustrie. Da sie die Lebenswelt des Unternehmers teilen, denken sie in denselben Kategorien wie die Arbeitgeber, sie sehen für sich reale Möglichkeiten, schneller sozial aufzusteigen, wenn sie sich voll in den Dienst des Unternehmens stellen. Fast durchweg sind sie Immobilienbesitzer und sehen im Eigentum die Vollendung ihres Wunsches nach gesellschaftlicher Autonomie, da für sich und die Familie ein Raum geschaffen wurde, der nicht nur eigenständig gestaltet werden und dem individuellen Bedürfnis nach Unabhängigkeit nachkommt. Die Immobilie sichert auch die eigene Rente und damit die geringere Abhängigkeit von sinkenden staatlichen Leistungen, wie es allgemein von der Politik auch in Frankreich gefordert wird. "Wer hart arbeitet, soll auch belohnt werden" ist ein Slogan, der hier gut ankommt. Und Forderungen nach Regulierungen der Arbeitszeit oder Ausbau der Verpflichtungen der Unternehmen gegenüber ihren Mitarbeitern, wie sie die Gewerkschaften und die Linksparteien fordern, stoßen hier auf Ablehnung, da dies möglicherweise die eigenen Verdienstmöglichkeiten einschränkt oder sogar den Arbeitsplatz gefährden könnte. Diese Strukturen werden aber gestört durch den Einfluss der Globalisierung, die gerade diese kleinen Unternehmen einem verschärften Konkurrenzdruck aussetzt. Deshalb dürften die Forderungen des FN nach einem nationalen Kapitalismus hier auf Zustimmung stoßen. Da das Kleinunternehmertum heute ein ganz zentraler Wirtschaftsfaktor ist, dürfte diese Interessenkongruenz zwischen Unternehmern und Angestellten für viele Angehörige der "neuen Arbeiterklasse" zutreffen. Die Zustimmung zum FN aus der Arbeiterklasse, die man durchaus schon zur "unteren Mittelklasse" rechnen kann, findet nicht aus sozialem Protest und der Forderung nach einem Ausbau des Sozialstaates statt, sondern hier geht es in erster Linie darum, den sozialen Abstieg zu verhindern.
Es war dieses Milieu, dass 2007 Nicolas Sarkozys Wahlsieg ermöglichte und bei denen sein Slogan verfing, dass das hart arbeitende Frankreich profitieren müsse, nicht die däumchendrehenden "Alt-68er". Sarkozy, der eine Erleichterung der Finanzierung des Einfamilienhausbaus und eine Stärkung der Kaufkraft versprochen hatte, stand am Ende seiner Amtszeit mit leeren Händen da, nachdem sich nicht nur sämtliche ökonomischen Indikatoren verschlechtert hatten, sondern er auch noch vor den deutschen Interessen im Kampf um die geld- und wirtschaftspolitische Ausgestaltung der EU kapituliert hatte. Ein großer Teil seiner ehemaligen Anhängerschaft hat sich nun in noch größerem Ausmaße dem Front National zugewandt.
Es wird sich in den kommenden Jahren zeigen, ob dieses Milieu der Kern einer Strategie zur Macht für den FN werden kann, oder ob die Partei mit dem 13. Dezember ihren Zenit bereits überschritten hat. Die sozialdemokratische Regierung hat in der Vergangenheit durch zahlreiche Deregulierungen im Sozial- und Arbeitsrecht samt Privatisierungen erfolgreich die eigene Basis demobilisiert. Sollte sie in der Hoffnung, mit einer "Law and Order"-Politik die jetzt "Republikaner" heißende UMP auf Kosten des FN zu schwächen, könnte der FN als lachender Dritter aus den Wahlen 2017 hervorzugehen – eine solche Strategie würde bedeuten, mit den Feuer zu spielen und Frankreich vollends den fremdenfeindlichen und neoliberalen Plänen der Rechten auszuliefern.
Sebastian Chwala ist Politikwissenschaftler und Autor des Buches "Der Front National. Geschichte, Politik, Wähler", erschienen im PapyRossa Verlag Köln.
https://sopos.org/aufsaetze/5674131bd048d/1.phtml
sopos 12/2015