von Simon Birnbaum
Rezension: Peter Hudis: Marx' Concept of the Alternative to Capitalism, Haymarket Books, Chicago 2013
Kapitalismuskritik wird gerne entgegengehalten: Aber wie soll es denn besser gehen? Auf die staatsbürgerlichen Sorgen, etwa vor der Abschaffung des Privateigentums an Zahnbürsten, die dabei in Stellung gebracht werden, gibt es bekanntlich verschiedenste Antworten. Sie fangen mit dem "(Bilder-)Verbot" von Vorstellungen über eine Alternative an und hören bei ausgefeilten Programmen auf, nicht selten mit Verweis auf den "real existierenden Sozialismus".
Peter Hudis' Antwort bzw. seine Interpretation von Marx' "concept" der Alternative zum Kapitalismus ist zwar nicht völlig neu. Er kann dennoch die alte marxistische Diskussion um Sinn und gegebenenfalls Gestalt von Ideen einer Alternative zum Kapitalismus mit einem wegen seiner umfassenden Marx-Auswertung wohl einzigartigen Beitrag bereichern.
Der Ausgangspunkt der Arbeit ist nicht für alle Kapitalismuskritiker, aber für Hudis eine Selbstverständlichkeit: Die Arbeit am Konzept der Alternative ist nicht nur möglich, sondern auch nötig. Normative Überlegungen seien ein unausweichliches Element von Sprache selbst. Marx habe überdies nicht nur eine spezifische Zukunftsvision gehabt, sondern ihr sei seine gesamte Kapitalismuskritik verpflichtet. Nicht zuletzt mache Marx im Fetischkapitel des "Kapital" – die unmittelbar vor dessen endgültiger Fertigstellung niedergeschlagene Pariser Commune vor Augen – deutlich, dass der Schleier des Warenfetischismus nur vom Standpunkt der Transzendenz des Kapitalismus zu lüften sei.
Hudis lehnt zur weiteren Begründung der Suche nach einer Alternative voluntaristische Experimente ab und wendet sich ausführlich gegen den (Post-)Operaismus vor allem Antonio Negris, der die Alternative allein der Spontaneität des Proletariats oder der Multitude überlassen wolle. Andererseits verwirft Hudis jedoch die Idee eines detaillierten Zukunftsprogramms mit Verweis auf Marx' Freiheitsorientierung. Außerdem lehnt er ausdrücklich Avantgarde-Konzepte ab, indem er notwendig spontan entstehendes Klassenbewusstsein von revolutionärer Theoriebildung geschieden wissen will. Mit Adornos "Bilderverbot" setzt sich Hudis nicht ausdrücklich auseinander; aber es ist offensichtlich, dass er zumindest einer strikten Version dieser Idee, unser Denken sei derart kapitalistisch geformt, dass das Nachdenken über Alternativen in der Reproduktion des Bestehenden enden müsse, nicht folgt. Denn er geht von emanzipatorischen Potenzialen im Bestehenden aus, an die die Alternative theoretisch und praktisch anknüpfen könne.
Das Bestehende, von dem also alles Suchen nach der Alternative auszugehen habe, ist für Hudis alias Marx in erster Linie die Produktion von Wert. Diesen versteht er als Ausdruck eines sozialen Verhältnisses, das sich durch den Prozess des Kapitals und in dessen Kern der Umwandlung von konkreter in abstrakte, am Maßstab gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit gemessene Arbeit materialisiert und reproduziert. Marx' zentrale Frage bei der Analyse des Kapitalismus gelte nicht der Quelle von Wert, sondern weshalb soziale Beziehungen die Form des Werts annehmen. Für die Beantwortung dieser Frage ist für Hudis bei Marx der Schlüsselbegriff Herrschaft von zentraler Relevanz, und damit sind letztlich auch schon erste Konturen der Alternative präsent: Es geht um die Abschaffung der Herrschaft von Dingen über Menschen, zentral der abstrakten über die konkrete Arbeit. Das heißt wiederum, es geht im Zentrum um die Schaffung einer direkt und frei, also nicht über den Wert assoziierten Arbeit. Wichtig ist Hudis dabei insbesondere: Der abstrakte und intransparente Standard für kapitalistische Arbeit, Wert bzw. gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit, müsse in einer alternativen Gesellschaft durch die transparenten Bedürfnisse der Individuen ersetzt werden. Es gehe damit auch um die radikale Veränderung von Arbeit dergestalt, dass sie individueller Selbstverwirklichung dient.
Hier kommen die erwähnten normativen Überlegungen zum Tragen: Hudis spricht von Marx' libertären Idealen, einem anti-herrschaftlichen Streben nach individueller Selbstverwirklichung in freier Assoziation, nach dem "Reich der Freiheit", in dem gilt: "Jeder nach seinen Fähigkeiten und jedem nach seinen Bedürfnissen!". In diesem Punkt sieht er auch eine große Kontinuität von Marx' Früh- bis Spätwerk. Raya Dunayevskayas Interpretation von Hegels "absoluter Negativität" liefert ihm die Bedingung der Möglichkeit für die entsprechende gesellschaftliche Befreiungstat: Sie setzt trotz kapitalistischer Totalität auf emphatische proletarische Subjektivität, aber nicht als etwas dem Kapital Äußerliches, sondern aus der widersprüchlichen kapitalistischen Totalität und ihrer Dialektik von Herrschaft und Widerstand, Objekt und Subjekt, Kapital und Arbeitenden heraus, kombiniert mit der Idee der revolutionären Entfaltung von immanenten emanzipatorischen Potenzialen. Dabei ist die Unterscheidung zwischen Arbeitskraft – Fleisch vom Fleische des Kapitals – und Arbeitenden – subjektiver Rest – wesentlich. Der spezifische Normativismus und die Idee seiner Kontinuität im Marxschen Werk sowie die Befreiungsdialektik sind zugleich zentrale Elemente des so genannten marxistischen Humanismus. Ihm hat sich Hudis nicht nur in seinem Buch, sondern auch in seinem jahrzehntelangen Engagement bei marxistisch-humanistischen Gruppen verschrieben, unter anderem bis zu ihrem Tod zusammen mit Dunayevskaya. Anders als in Europa ist der marxistische Humanismus, zu dessen Vertretern zum Beispiel auch Herbert Marcuse gezählt wird, in der linken Politszene in den USA ein Begriff.
Angesichts des Vorstehenden ist offensichtlich, dass der real existierende Sozialismus für Hudis keine Alternative zum Kapitalismus ist. Das gilt umso mehr, weil für Hudis die Realisierung des Werts auf dem Markt und in Konkurrenz kein wesentliches Element des Kapitalismusbegriffs ist, er also zu den Anhängern der Staatskapitalismus-These gehört. Er lässt dabei auch nicht Marx' vorweggenommene Kritik am real existierenden Sozialismus unerwähnt, die sich allerdings ironischerweise auf einen Anarchisten namens Proudhon bezog: In den "Grundrissen" prophezeite Marx Bürokratismus und Despotismus für den Fall, dass nicht mehr der Markt, sondern, wie von Proudhon vorgeschlagen, eine Bank durchschnittlich notwendige Arbeitszeiten und damit Preise regele. Darüber hinaus zieht Hudis Marx' "Bürgerkrieg in Frankreich" für die "Revolution gegen den Staat" und damit eine mit real existierendem Sozialismus unvereinbare Staatskritik heran.
Hudis verwendet zwar die Begriffe Sozialismus und Kommunismus entsprechend seiner Marx-Lesart synonym, will aber trotzdem von zwei Phasen der emanzipatorischen Überwindung des Kapitalismus ausgehen. Der ersten Phase widmet sich Hudis in Auseinandersetzung mit Marx' Vorgaben in der "Kritik des Gothaer Programms" konkreter als der zweiten Phase. Vor allem gilt das für die These, es bedürfe in dieser Phase im Gegensatz zur zweiten Phase weiterhin des Äquivalententausches. Im Unterschied zu vielen (Real-)Sozialismuskonzepten sieht Hudis hier aber nicht eine Fortsetzung von Wert-Produktion. Denn er interpretiert Marx so, dass nicht gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit der Maßstab des sozialistischen Tausches sei, sondern die Arbeitenden ihre individuell aufgewendete Arbeitszeit äquivalent vergütet bekommen sollen, möglicherweise unter Einbeziehung der aufgewendeten Energie. Deshalb handele es sich gerade nicht um den abstrakten, intransparenten Maßstab wie bei der Wertproduktion. Die mit dem Festhalten am Äquivalenzprinzip einhergehende Notwendigkeit von Recht und Verwaltung ist für ihn gewährleistet durch Marx' "revolutionäre Diktatur", allerdings in einem sehr speziellen Sinn: Das Proletariat soll Produktion und Verteilung selbst in die Hand nehmen, nicht aber durch eine andere Art von Staatlichkeit, sondern mit Basisdemokratie und Produktion in selbstverwalteten Kooperativen.
Dementsprechend will Hudis mit Marx im "Kapital" in der kapitalistischen Form dieser Kooperativen die erwähnten emanzipatorischen Potenziale erkennen – bei allen Widersprüchen, die auch Marx schon benannte. Darüber hinaus geht es um diese Potenziale allein im Hinblick auf das Festhalten an emphatischer, widerständiger proletarischer Subjektivität.
Hudis' exegetisches Abarbeiten an einem "großen Denker" könnte einer Konzentration auf die (politische) Sache selbst und ihrer verständlichen Vermittlung entgegenstehen. Doch das Buch ist keinesfalls eine langatmige Abhandlung aus dem marxologischen Elfenbeinturm. Hudis vermag es trotz Exegese, inhaltlich zuzuspitzen und viel politische Positionierung einzubringen. Das gilt auch wegen stetiger Auseinandersetzung mit postmarxschem Marxismus. Außerdem hat er einen – typisch angelsächsischen – unakademischen, unaufdringlich erklärenden und gut lesbaren Stil. Vor allem aber besticht die Arbeit durch nachvollziehbare, stringente und in sich stimmige Argumentation. So handelt es sich insgesamt um eine hervorragende Sammlung, Systematisierung und Kritik von Marx' Aussagen zur Alternative.
Einige Anregungen zur Vertiefung scheinen mir trotzdem angebracht:
Wenn man Hudis' bzw. Marx' Begriff der Alternative zusammenfassend betrachtet, dann bewegt er sich zumindest für die so genannte zweite Phase näher an einem "Bilderverbot" als an einer detaillierten Programmatik. Allerdings fordert Hudis am Ende zur theoretischen Weiterentwicklung von Alternativen auf. Spätestens dafür wäre eine weitergehende Auseinandersetzung mit dem Begriff von kapitalistischer Totalität, mit Denkform- und Ideologiekritik sowie entsprechender Kritik am marxistischen Humanismus wünschenswert. Vorhanden ist insoweit zwar eine Selbstvergewisserung über die Bedingungen der Möglichkeit von Revolution und Alternative – die erwähnte marxistisch-humanistische Befreiungsdialektik. Hier befindet sich aber zugleich das Einfallstor für die Kritik am marxistischen Humanismus, die sich vor allem gegen Anthropologismus und Moralismus richtet. Darauf finden sich im Text nur implizite Antworten. Daneben scheint mir hier eine Auseinandersetzung mit Adornos Begriff des Nichtidentischen naheliegend, also mit der Annahme nicht subsumierter Momente, die aber im Prozess kapitalistischer Totalität nicht fixierbar sind.
Ein weiterer vertiefenswerter Aspekt beginnt bei Hudis' Normativismus: Es dürfte zwar tatsächlich die von Hudis angenommene Selbstverständlichkeit sein, dass jegliche Kritik, die nicht immanent bleiben will, weitergehender Ziele bedarf, die gerade Marx nicht nur in seinem Frühwerk vielfach vorgegeben hat. Auch die Idee eines Marxschen wissenschaftlichen Sozialismus, soweit er angeblich nur verstehen und nicht werten will, dürfte heute nach diverser Positivismuskritik kaum noch überzeugen können. Allerdings bleibt bei Hudis das Verhältnis von Normativität und entsprechenden Zukunftsvisionen zum revolutionären (Klassen-)Bewusstsein angesichts seiner Ablehnung von Avantgardekonzepten etwas unklar. Für ihn ist hier wohl der Schlüsselbegriff Inspiration, der aber mehr aufscheint als erläutert wird. Weiterführend dürfte hier auch eine Auseinandersetzung mit den Revolutionstheorien von Rätekommunisten und Situationisten sein.
Erhellend räumt Hudis einige Missverständnisse der Marx-Interpretation aus, was die so genannte erste Phase von Sozialismus/Kommunismus betrifft. Vor allem ist es plausibel, wie er bei Marx von einem Äquivalententausch, gemessen an individueller Arbeitszeit im Unterschied zum Maßstab gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit, ausgeht. Allerdings fragt man sich letztlich doch, ob nicht Marx' frühere, oben angesprochene Proudhon-Kritik zumindest abgeschwächt auch für diese Art von Festhalten am Äquivalenzprinzip gilt. Das verweist auf die linkskommunistische Kritik an der Idee des "sozialistischen Warentauschs" überhaupt, die Zwangsläufigkeit und Verstetigung von Staatlichkeit fürchtet.
Ein großes, Hudis' gesamte Arbeit betreffendes Vertiefungsdesiderat bleibt der Blick auf die Geschichte, das heißt auf vergangene Kämpfe und Alternativenversuche, aber auch ihr Scheitern. Es ist aber offensichtlich, dass eine Ausweitung der von Hudis' bereits unternommenen geschichtlichen Ausführungen den Rahmen der Arbeit gesprengt hätte. Letztlich müssen sich seine theoretischen Thesen in der historischen Empirie bewähren.
Simon Birnbaum lebt und arbeitet als Menschenrechtsanwender in Berlin.
https://sopos.org/aufsaetze/56669fb71092d/1.phtml
sopos 12/2015