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Der Tod der Familie Kurdi ist nicht nur eine sichtbare Anklage gegen die europäische Abschottungspolitik, die durch das Fehlen sicherer und legaler Einreiseweise immer mehr Menschen auf lebensgefährliche Fluchtwege treibt. Gerade im Falle der Kurdis wird deutlich, wie einfach mit der Bekämpfung von Fluchtursachen eine Lebensperspektive vor Ort möglich gewesen wäre. Im Januar hatten die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten YPG/YPJ die Terrormilizen des IS nach monatelangen erbitterten Kämpfen aus Kobanê vertrieben. In den folgenden Monaten befreiten sie im Bündnis mit arabischen Milizen die Dörfer des Selbstverwaltungskantons und stellten schließlich sogar die direkte Verbindung zum anderen Selbstverwaltungskanton Cizîrê her. Auch wenn die Bedrohung durch Attentäter des IS und anderer Dschihadistengruppen noch nicht restlos beseitigt werden konnte, herrscht in den drei Kantonen Cizîrê, Kobanê und Efrîn des Selbstverwaltungsgebietes Rojava im Norden Syriens im Vergleich zu weiten Teilen des übrigen Landes Sicherheit. Im Windschatten des syrischen Bürgerkrieges wurde seit 2012 unter Führung der Partei der Demokratischen Union (PYD) in dieser Region ein einzigartiges auf direkter und gleichberechtigter Beteiligung aller in der Region lebenden ethnischen und religiösen Gruppierungen beruhendes demokratisches Autonomiemodell geschaffen. Ein Gesellschaftsvertrag garantiert Menschen-, Frauen- und Arbeiterrechte. Rojava ist eine demokratische Alternative zu den jeweils nur eine ethnische oder Glaubensgemeinschaft favorisierenden autoritären oder diktatorischen Regimes der Region. Eine Orientierung am Modell der demokratischen Autonomie könnte eine freie Zukunft für alle Völker Syriens ermöglichen. Dieser Anspruch spiegelte sich im Motto des PYD-Parteitages im September in Rumalan wieder: »Von Rojava zu einem demokratischen Syrien.« Trotz relativer Sicherheit und demokratischer Errungenschaften suchen auch immer mehr Menschen aus Rojava – teilweise nach mehrjährigem Aufenthalt in türkischen Flüchtlingslagern – ihr Heil in der lebensgefährlichen Flucht nach Europa. Ein zentraler Grund dafür sei die wirtschaftliche Situation, führte Sinam Mohamad, Europa-Vertreterin der Selbstverwaltung von Rojava und Leitungsmitglied der dortigen Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft TEV-DEM, bei einem Berlin-Besuch Ende September aus. Da die Region unter dem alten Regime unterentwickelt gehalten wurde, gebe es dort keine Fabriken und nicht genug Arbeitsplätze. Zudem fehlte es an weitergehenden Bildungsmöglichkeiten wie Universitäten. Dazu komme ein striktes Embargo der Türkei gegen Rojava. Am schlimmsten sei die Situation für den Kanton Efrîn, der völlig von der Außenwelt abgeschnitten ist. Niemand komme legal raus oder rein. Viele Zivilisten wurden bereits beim Versuch des Grenzübertritts von der türkischen Armee erschossen. »Wir appellieren an die europäischen Staaten, Projekte in Rojava zu fördern, damit die Menschen in ihrer Heimat bleiben und dort ihren Lebensunterhalt verdienen können«, so Mohamad. Zehntausende Menschen sind seit der Befreiung von Kobanê aus den Flüchtlingscamps in der Türkei zurückgekehrt, jede Woche kommen weitere. Doch viele von ihnen müssen in Zeltlagern oder nur notdürftig mit Planen abgedeckten Ruinen leben. Die Stadt Kobanê ist zu 80 Prozent zerstört. Der Wiederaufbau geht nur schleppend voran, da es an allem fehlt. Hauptgrund hierfür ist das türkische Embargo. Baufahrzeuge und Baumaterialien für den Wiederaufbau von Kobanê würden von den türkischen Behörden grundsätzlich als humanitäre Güter eingestuft und ihr Transport daher auch grundsätzlich genehmigt, behauptete die Bundesregierung im August auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion. Zudem würden türkische Behörden Personen, die sich am Wiederaufbau von Kobanê beteiligen wollen, grundsätzlich den Grenzübertritt für humanitäre Einsätze erlauben, so die Bundesregierung. Allerdings warnt das Auswärtige Amt an anderer Stelle vor Hilfseinsätzen in Kobanê, weil das »Risiko« zu groß sei. Dass die Grenzsituation keineswegs so rosig ist, wie sie von der Bundesregierung dargestellt wird, verdeutlichen dagegen die Berichte von Vertretern der Selbstverwaltung und Aktivisten humanitärer Projekte wie derzeit beim Bau einer Krankenstation. So ist die Grenze überhaupt nur an zwei Tagen in der Woche geöffnet. Wer und was die Grenze passieren darf, hängt dann von der Laune des örtlichen Gouverneurs ab. Es gibt zahlreiche Berichte über willkürlich tage- oder wochenlang an der Grenze blockierte LKW mit Hilfsgütern, manche durften überhaupt nicht passieren. Zudem bestehen die türkischen Behörden darauf, dass die von der Stadtverwaltung von Suruç auf der türkischen Seite der Grenze gesammelten Hilfsgüter für Kobanê zum Weitertransport an die staatliche türkische Katastrophenhilfe AFAD übergeben werden. Doch die Kurden vertrauen AFAD nicht, da hier schon oft Hilfsgüter verschwanden oder nur an staatliche Flüchtlingscamps und ausgewählte Flüchtlingsgruppen geliefert wurden. Anfang Oktober wurden sechs aus Deutschland stammende Männer und Frauen, die sich an humanitären Hilfsprojekten in Kobanê beteiligen wollten, beim Versuch des Grenzübertritts von türkischen Behörden festgenommen, zuvor hatte es schon mehrere derartige Fälle gegeben. »Da es keine offizielle Unterstützung gibt, stößt die Logistik für die Hilfssendungen nach Kobanê auf unüberwindlichen Schwierigkeiten und die Menschen in Kobanê leiden weiter, viele sind auf der Flucht zu einem Ort, der mehr Sicherheit bietet. Deshalb ist es noch viel dringender, jetzt einen humanitären Korridor aus der Türkei nach Kobanê einzurichten, um den Zufluss von Hilfe in die Stadt zu erleichtern«, heißt es in einem von hunderten Persönlichkeiten und Organisationen aus der ganzen Welt, darunter zahlreichen Parlamentariern, Professor Noam Chomsky Nora Cortiñas von den Madres de Plaza de Mayo und den Friedensnobelpreisträgern Erzbischof Desmond Tutu, Adolfo Pérez Esquivel und José Ramos-Horta unterzeichneten Aufruf. »Es muss daher Druck auf die Regierung der AKP in Ankara ausgeübt werden, unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um lebenswichtige medizinische Versorgung, Nahrung und Kleidung nach Kobanê durchzulassen.« Allein in Deutschland haben inzwischen über 25.000 Menschen eine Petition »Öffnet die Grenze – Kobanê muss leben!« unterzeichnet. Als die Unterschriften am 15. September, dem Jahrestag des Beginns der IS-Angriffe auf Kobanê, der türkischen Botschaft in Berlin übergeben werden sollten, wurde dort die Annahme der Petition verweigert und sogar der Briefkasten verschlossen. Wenn es die Bundesregierung ernst meint mit der Bekämpfung von Fluchtursachen, dann sollte sie hier ansetzen und den hoffnungsvollen Ansatz der Rojava-Selbstverwaltung materiell und politisch unterstützen.
Erschienen in Ossietzky 22/2015 |
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