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Das »wahre Datum« der EinheitWohl jeder ehemalige DDR-Bürger hat seine persönlichen Erinnerungen an die aufregende Wendezeit – wie die erste Fahrt in den Westen, die Teilnahme an Demos und Diskussionen, das erste »richtige Auto« oder leider auch die Arbeitslosigkeit –, Geschichten, die im Familienkreis immer wieder zum Besten gegeben werden. So manches Erinnerungsstück erzählt von den spannungsgeladenen Wochen und Monaten. Da ich damals dem Hobby Philatelie nachging, besitze ich zahlreiche postalische Belege aus dieser Zeit. Mein spezielles Sammelgebiet waren Ganzsachen (also echt gelaufene Postsendungen, meist Briefumschläge), die die politischen Veränderungen viel besser dokumentieren als Einzelbriefmarken. Zwei dieser Belege gehören zu meinen Lieblingsstücken, bei denen ich mir auch nach 25 Jahren ein Schmunzeln nicht verkneifen kann. Der erste Beleg ist ein Luftpostumschlag von Ende Oktober 1989, frankiert mit amerikanischen Briefmarken. Ja, ich hatte damals einen Tauschpartner in Alaska, der dort die Hundeschlitten-Post versah und auch mehrmals erfolgreich am legendären Yukon Quest teilgenommen hat. War der Umschlag zu DDR-Zeiten schon etwas Außergewöhnliches, so war sein Inhalt erst recht brisant. Neben ein paar freundlichen Zeilen hatte mein Partner auf einem Stück Pappe mit Tesafilm einen vollständigen Satz amerikanischer Münzen aufgeklebt. Man kann sich vorstellen, wie schwer die Sendung war und wie leicht sich der Inhalt durch den dünnen Luftpostumschlag erfühlen ließ. Da die Sendung mich unbeschadet erreichte, war mein erster Gedanke: Au Backe, Mielke & Co sind überfordert. Und tatsächlich: Zwei Wochen später waren mit der Maueröffnung alle Dämme gebrochen. Die folgenden Monate waren für Ganzsachen-Sammler ein philatelistisches Schlaraffenland. So behielten die alten DDR-Briefmarken noch eine Zeit lang ihre Gültigkeit, aber bereits einen Tag nach der Währungsunion am 1. Juli 1990 kamen neue Marken in den Umlauf, bei denen der Aufdruck »DDR« durch »Deutsche Post« ersetzt war und die auch im »Verkehrsgebiet West« gültig waren. So ließen sich interessante Mischfrankaturen (unter anderem in Kombination mit Marken der »Deutschen Bundespost« oder »Westberlin«) herstellen – eine Gelegenheit, die wohl nur einmal (wenn überhaupt) in einem Sammlerleben vorkommt. Am 2. Oktober, einen Tag vor der Deutschen Einheit, weilte ich zu Besuch in einem kleinen Harzstädtchen. Vorsorglich hatte ich einige frankierte Umschläge vorbereitet, die ich dort abstempeln lassen wollte, um einen Beleg vom letzten Tag der DDR zu besitzen. In dem kleinen Postamt entdeckte ich, dass der Schalterbeamte (war er damals schon verbeamtet?) bereits die beiden Sondermarken »Deutsche Einheit«, die erst am nächsten Tag zum Verkauf standen und gültig waren, vorrätig hatte. Meiner höflichen Frage, ob ich schon einige Marken bekommen könnte, wurde nach einigem Zögern entsprochen. Allein über meine Freude wunderte sich der verdutzte Postler. Da ich zufällig noch einen Blanko-Umschlag dabeihatte, konnte ich mit den Briefmarken und einem freundlichen Stempel einwandfrei dokumentieren, dass die Deutsche Einheit bereits am 2. Oktober 1990 stattgefunden hat. Leider hat das bisher aber noch keinen Eingang in die Geschichtsbücher gefunden. Manfred Orlick 25 JahreAuch in diesem Herbst wanderten die Schriftstellerinnen und Schriftsteller des Thüringer Verbandes durchs Land (zehn Kilometer auf dem »Grünen Junipfad« von Sarah Kirsch in Limlingerode), lasen am Abend zuvor öffentlich in der großen neugebauten gläsernen Bibliothek von Nordhausen und diskutierten nach dem Fußmarsch nichtöffentlich ihre gegenwärtig entstehenden Manuskripte. So weit, so alljährlich nach 1990. Und wie bei den meisten dieser Manuskriptwanderungen regnete es auch 2015. Aber die Tradition hat sich mit den Jahren seit der Vereinigung von deutschem »Sozialismus« Ost und deutschem Kapitalismus (West) verändert. Liefen wir bei der ersten Wanderung noch gemeinsam mit bayrischen und hessischen Kollegen von der Thüringer Feste Heldburg über die ehemalige Grenze ins Bayrische, so bleiben wir nun schon seit Jahren unter uns im Heimischen. Und noch etwas: 1990 träumte ich (und wollte es glauben!) noch davon, im Aufbruch eines vereinten Deutschlands als Schriftsteller mit meinem Rat und meiner Schreibe von und in der Gesellschaft gebraucht zu werden. (Was in der DDR auch widerborstigen Künstlern von Kulturoberen abverlangt – aber natürlich nicht immer beherzigt wurde.) Ich träume den Traum vom Gebrauchtwerden für gesellschaftliche Entwicklungen nicht mehr. Denn die Politiker (gleich welcher Parteien) sind fast immer fremdbestimmt von Lobbyisten, Weltwirtschaftszwängen und ideologischer Parteidisziplin. Sie möchten nicht gestört werden von unsereinem. Weder mit Widerspruch noch mit Ratschlägen für gesellschaftliche Veränderungen. Ich habe im 25. Jahr der Einheit keinen Traum und keine machbaren Visionen mehr. Aber auch im nächsten Herbst werden wir in Thüringen wieder wandern, lesen und unsere Texte diskutieren. Landolf Scherzer Unsere ZuständeDeutsche Revolutionen sind alle gut gemeint und enden pünktlich vor dem Mittagessen. * Wenn einer im freien Fall nach oben stürzt, kann es sich nur um einen Politiker handeln. * Gebt Obacht! Die aus einem Elefanten eine Mücke machen, verursachen, dass wir mit dem Kescher auf Elefanten losgehen. Wolfgang Eckert Walter Kaufmanns LektüreDa beschreibt ein Autor eine 1928 sehr modern gebaute Villa in Chemnitz, dem späteren Karl-Marx-Stadt, und prangert zugleich die Zeit der braunen Schergen an, in der sich zahllose Deutsche gewissenlos zu bereichern verstanden – was scheren uns die Juden, her mit ihrem Besitz! Und zudem versteht er es, die Nachkriegszeit im geteilten Deutschland plastisch vorzuführen: Die Schicksale derer, die sich in der prächtigen Bauhausvilla des jüdischen, 1933 in die Flucht und später in den Tod getriebenen Fabrikanten Walther Sachs eingerichtet haben, geben Aufschluss über Deutschlands Umwälzungen. Man erlebt Menschen beim Aufbau und Menschen, die dem neuen sozialistischen Staat abweisend gegenüberstanden; und ein Mann ohne Schuld wird dem Leser nahegebracht, den die Stasi zwei Jahre lang hinter Gitter gehalten hatte, während sich die meisten der neuen Hausbewohner im Staat einzurichten verstanden, ihr Heil in Nischen suchten und Kinder großzogen, die sich zu fügen wussten, bis im neunundachtziger Jahr ein Geschwisterpaar im Zuge des großen Exodus in den Westen verschwand. Es ist aufschlussreich, dass nicht wenige der in der Parkstraße 9 Verbliebenen (manch einer von ihnen äußerst DDR-kritisch) nach der Vereinigung zutiefst enttäuscht waren und sich empört über die neuen Verhältnissen zeigten. Volker Dittrich hat all diese Bewohner über ein Vierteljahrhundert begleitet, er ist mit seinem Text im Umfeld der Bauhausvilla geblieben, hat den Kreis nie zu erweitern versucht – und doch viel vom Leben in Gesamtdeutschland gezeigt: Aus kleinstem Fenster gelang ihm eine weite Sicht auf die diktatorischen dreißiger und vierziger Jahre, auf das Chaos und die Wirrnisse der Nachkriegszeit, den Neubeginn im Osten und die dortigen Errungenschaften und Rückschläge – besonders aber auch auf die Zeit nach dem Mauerfall. Die von ihm geschilderten Einzelschicksale offenbaren das Leben vieler. Die Hilfsbereitschaft, von der zu erfahren ist, gibt Hinweis auf weit verbreitete Hilfsbereitschaft, Tüchtigkeit auf viele Tüchtige – und Verrat auf ein Klima von Verrat. Alles in allem entfaltet sich Volker Dittrichs »Wem gehört das Haus in Chemnitz?« zu einem spannenden, sehr zu empfehlenden Gesellschaftsroman. Walter Kaufmann Volker Dittrich: »Wem gehört das Haus in Chemnitz?«, Jonas Verlag, 224 Seiten, 15 € Lauter kluge LeuteDie meisten von ihnen hatten damals eine reformierte DDR gewollt. Inzwischen aber haben sie schon lange den Irrtum eingesehen, dass das machbar gewesen wäre. Einzig Peter Michael Diestel behauptet, die Wende habe für ihn genau das gebracht, wofür er in die Politik gegangen sei, und ehrlich bekennt Gerhard Wolf: »Ich weiß gar nicht genau, was wir wollten.« Burga Kalinowski hat 27 Zeitgenossen (Künstler, Politiker, Wissenschaftler, aber auch einen Busfahrer und einen Kumpel aus Bischofferode) nach ihren Erfahrungen mit der Wende befragt und erhielt ein Kompendium interessanter Meinungen und Erfahrungen. »Erträgliche Unzufriedenheit« – ein Begriff, den einmal Jurek Becker prägte – ist der fast durchgehende Eindruck von den Gefühlslagen dieser Querdenker, die die selbsterlebte DDR anders sehen als die offiziellen Medien. Die meisten kritisieren die politische Entwicklung in der Welt und haben dazu interessante Ansichten. In einer derartigen Fülle kluger Argumente könnte einem fast der Gedanke kommen, es sei gar keine Minderheit, die da räsoniert und nachgedacht hat. Christel Berger Burga Kalinowski: »War das die Wende, die wir wollten? Gespräche mit Zeitgenossen«, Verlag Neues Leben, 319 Seiten, 19,99 € Ein Preis von KlemkeHarald Kretschmar (Ossietzky 12/15) und Matthias Biskupek (Ossietzky 18/15) haben mir aus der Seele gesprochen mit ihren Beiträgen zu dem niederländischen Dokumentarfilm »Treffpunkt Erasmus«. In dem Film wird über Werner Klemkes Zeit als Wehrmachtssoldat in Amsterdam berichtet, weil er dort unter Einsatz des Lebens Pässe und Lebensmittelkarten gefälscht und damit vielen Juden das Leben und Überleben gerettet – und Zeit seines Lebens darüber geschwiegen hat. Mich ermuntert das, über eine weitere Tätigkeit meines Freundes Werner Klemke zu berichten, die er ebenfalls in aller Stille vollzogen hat. Er war auch ein Preisstifter, der hieß: Werner-Klemke-Preis für echtes Berlinern und vorbildliches Berliner Benehmen, dotiert mit symbolischen 50 Mark. Diesen Privat-Preis hat er dreimal überreicht. Und zwar an ausgewiesene politische und mit der DDR verbundene Menschen. Als Erster erhielt ihn der Charakterdarsteller und Regisseur Ernst Kahler (1914–1993) vom Berliner Ensemble. Der Zweite war der Journalist und Schriftsteller Lothar Kusche, der seit geraumer Zeit leider verhindert ist, seine wunderbaren Texte für Ossietzky zu schreiben. Der dritte Preisträger ist der Autor dieser Zeilen. Klaus Haupt Werner-Klemke-Ausstellung im Kulturwagen der Brotfabrik: vom 15. bis 23.9. Caligariplatz und vom 24.9. bis 1.11. Pankow, Breite Straße/Ossietzkystraße, jeweils täglich 13 bis 18 Uhr Arno Rink – WerkschauIn dem hervorragenden Katalog zur Rostocker Arno-Rink-Ausstellung schreibt Rinks ehemaliger Schüler Neo Rauch: »Über die Sinnlichkeit der Rink‘schen Motive ließe sich viel sagen; die sinnliche Qualität des malerischen Vortrags jedoch hat sich über dem überschaubaren Zirkel der Sujets zu herrschaftlicher Souveränität entfaltet.« Knapp einhundert Arbeiten, Malerei und Zeichnungen, werden in Rostock gezeigt. Arno Rinks zeichnerische Begabung wurde bereits in der Schule erkannt, später durch den Besuch der Arbeiter- und Bauern-Fakultät in Dresden gefördert. Erst im zweiten Anlauf wird Rink an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) in Leipzig zum Studium angenommen, studiert in der Fachklasse von Bernhard Heisig Malerei. Zu seinen frühen Vorbildern Max Beckmann, Otto Dix und Pablo Picasso kommt später Walter Womacka hinzu. Von 1967 bis 1969 arbeitet Rink freischaffend in Leipzig, dann folgt seine Mitarbeit an der HGB. Hier übernimmt er von 1978 bis 2005 als Leiter die Fachklasse für Malerei und Grafik – prägende Jahre für seine Studenten. 1979 wird Rink zum Professor ernannt, von 1987 bis 1994 bekleidet er das Amt des Rektors, bis 1997 ist er Prorektor der HGB. Nach seiner Emeritierung leitet er die Meisterklasse bis 2007 weiter. Der Maler Arno Rink ist das Bindeglied zwischen der alten und der neuen Leipziger Schule. Mit seiner Arbeit hat er wie keiner vor ihm die neue und junge Künstlergeneration der HGB beeinflusst, mit seiner ihm eigenen modernen Bildersprache. In seinen monumentalen Gemälden treten dem Betrachter fast lebensgroße Figurengruppen in surrealistisch-visionären Szenen entgegen – die an bekannte Bild- und Archetypen erinnern, in einer rätselhaften Schönheit. Häufig hat der Maler die Figuren einer antiken Mythologie oder christlichen Ikonografie entliehen. In der Werkschau in Rostock sind auch Arbeiten mit einem politischen Standpunkt dabei. Zu nennen sind »Spanien 1938« (1974), »Canto Libre« (1977) zu Chile, »Spanische Stillleben« (1983) oder »Wir sitzen alle im selben Boot« (1989), »Lied vom Oktober I« (1966/67) und »Der Tod des Kommunarden« (1971). Am 28. September wird Arno Rink 75 Jahre – die Rostocker Ausstellung endet am 18. Oktober. Karl-H. Walloch Katalog: »Arno Rink – Malerei und Zeichnungen«, Hirmer Verlag, 232 Seiten, 39,90 € Walter Benjaminwar mit seinen Werken zur Ästhetik und Soziologie einer der großen Kulturphilosophen und -kritiker in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (1892–1940). Zu seinem 75. Todestag hat der Leipziger Lehmstedt Verlag den Band »Begegnungen mit Walter Benjamin« herausgebracht, der Erinnerungen, Berichte, Briefe und Tagebuchaufzeichnungen von Freunden, Kollegen und Bekannten versammelt. Der Literaturwissenschaftler Erdmut Wizisla hat knapp 40 Texte von 33 Autoren zusammengetragen, die ein vielschichtiges Bild von Walter Benjamin zeichnen. Da sie chronologisch angelegt sind, gestatten sie außerdem einen Gang durch dessen Biografie. Gershom Scholem, jüdischer Religionshistoriker und enger Freund Benjamins, gewährt beispielsweise mit seinen drei Beiträgen tiefe Einsichten in Benjamins Persönlichkeit und dessen unkonventionelle Denk- und Schreibweise. Der Schriftsteller Hans Sahl berichtet von Benjamins Aufenthalt im französischen Internierungslager, während Hannah Arendt, die Herausgeberin einer englischen Benjamin-Auswahl war, in einem Brief an Scholem aus dem Jahre 1941 eine beklemmende Schilderung von Benjamins letzten Wochen gibt. Bertolt Brecht hat seine Begegnungen mit Benjamin in seinem Arbeitsjournal festgehalten, und Theodor W. Adorno stand mit ihm im freundschaftlichen Briefverkehr. Auch von Benjamins Ehefrau Dora wurden einige Briefe (an Gershom Scholem gerichtet) in die Anthologie aufgenommen. In der Einleitung und den Kurzbiografien der 33 Autoren gibt der Herausgeber einen kurzen Überblick über Benjamins Freundes- und Bekanntenkreis und zu den überlieferten Dokumenten. Insgesamt ein bemerkenswertes Porträt einer faszinierenden Persönlichkeit. Manfred Orlick Erdmut Wizisla (Hg.): »Begegnungen mit Walter Benjamin«, Lehmstedt Verlag, 400 Seiten, 24,90 € Machtblock gegen linkes EuropaSpätestens nach dem zweiten Kreditprogramm war das Scheitern der neoliberalen Sparpolitik in Griechenland offensichtlich: Einbruch der Wirtschaftsleistung, Anstieg der Schulden und breite Verarmung bis weit in die Mittelschicht hinein waren die Folgen. Selbst der Internationale Währungsfonds (IWF) musste das Scheitern der Austeritätspolitik eingestehen. Doch an der Griechenlandpolitik der Euro-Länder änderte das nichts, im Gegenteil: Das dritte Kreditprogramm dient abermals vorwiegend dem Schuldendienst und der Rekapitalisierung der Banken. Wieder werden alte Schulden durch neue Kredite getilgt. Für Wachstumsimpulse, die allein die griechische Wirtschaft nachhaltig konsolidieren könnten, steht erneut kaum Geld zur Verfügung. Und wie in den vorhergehenden Programmen auch sind die Kredite an Bedingungen geknüpft, die sich in der ohnehin schon zugespitzten Lage umso fataler auswirken werden: Einschnitte bei den Pensionen, von denen aufgrund fehlender Sozialhilfe bisweilen ganze Familien leben müssen, zudem Preissteigerungen durch die Reform der Mehrwertsteuer. Die neuen Kredite werden mit politischer Entmachtung und ökonomischer Enteignung des griechischen Staates bezahlt: Bevor sich das griechische Parlament mit Gesetzesentwürfen in relevanten Bereichen befassen darf, müssen diese Entwürfe mit den außergriechischen »Institutionen« abgestimmt werden. Zudem wurde ein massiver Ausverkauf des griechischen Staatsvermögens und der Infrastruktur beschlossen. Durch einen Treuhandfonds wird die Privatisierung von Hotels, Inseln, Flug- und Seehäfen, Wasserwerken, Bahnunternehmen, Telekommunikation und Strom organisiert. Weil der griechische Staat gezwungen wird, große Teile seines Eigentums zu verkaufen, ist er von vornherein in einer schlechten Verhandlungsposition. Es steht daher zu befürchten, dass das Staatseigentum weit unter dem tatsächlichen Wert verkauft wird. Zudem dürfte das Beispiel des deutschen Flugbetreibers Fraport Schule machen: Fraport plant, 14 gewinnbringende griechische Flughäfen zu übernehmen, während die übrigen 30 unrentablen Flughäfen beim griechischen Staat verbleiben sollen. Diese Maßnahmen wurden mit heftiger medialer Stimmungsmache flankiert. Martin Schulz und Sigmar Gabriel scheuten sogar die politische Lüge nicht. Der Propaganda gegen die griechische Linksregierung folgte politische Demütigung und eine Verschärfung der katastrophal gescheiterten Sparpolitik. Den Mächtigen Europas scheinen alle Mittel recht zu sein, den Präzedenzfall einer erfolgreichen Linksregierung im neoliberalen Austeritätseuropa zu verhindern. Hätte eine solche Regierung in Griechenland Erfolg, wäre das ein deutliches Signal an alle europäischen Linksparteien und -bewegungen, vor allem an Podemos in Spanien und vielleicht auch an die Coalizione Sociale in Italien. Gegen ein Europa, in dem die neoliberalen Verarmungsprogramme durch die postdemokratische Herrschaft von Technokratentum und Exekutive abgesichert werden, könnte sich eine wirkliche politische Alternative konturieren. Zu den stärksten Widersachern einer solchen Alternative gehört mittlerweile auch die SPD, besonders in der Gestalt von Gabriel. Wenn es mit deren Zutun gelingt, linke Alternativen von oben her abzudrängen, steigt die Gefahr, dass noch mehr Frust nach rechts geht. Dafür steht beispielhaft die Lega Nord in Renzis neoliberalem Italien. Bei den diesjährigen Kommunalwahlen erhielt sie bis zu 20 Prozent der Stimmen. Der Erfolg der rechten Parteien in Frankreich, Großbritannien, Dänemark, Deutschland und weiteren Ländern muss Demokraten zu äußerster Wachsamkeit mahnen. Doch die europäischen Machthaber nehmen es hin, dass als Folge ihrer Politik die politische Apathie zunimmt und Stimmen nach rechts wandern. Ein großer Erfolg ist ihnen schon damit gelungen, dass sie es geschafft haben, ein Nein zur Austeritätspolitik in ein Nein zu Europa umzudeuten. Umso mehr kommt es auf europaweite Demonstrationen der Solidarität mit Griechenland an. Nur ein solidarisches und soziales Europa kann die oft beschworene humanistische Substanz der europäischen Idee einlösen. In der Griechenland- wie auch in der Flüchtlingskrise zeigt sich, dass die EU humanistisch entkernt und moralisch bankrott ist. Das gegenwärtige Europa ist zu einem Technokraten-Apparat geschrumpft, der Politik aufs Administrieren reduziert und so angeblich alternativlose Entscheidungen an der politischen Debatte vorbei lenkt. Es ist genau dieses verkürzte Europa, das zum Erstarken des anti-europäischen Ressentiments von rechts beiträgt. Der Geist des griechischen Oxi und Tsipras‘ Wahlsieg könnten sich demgegenüber als ein erster Schritt zu einer demokratischen Wiederaneignung Europas von unten erweisen. Georg Spoo VerkehrungenWenn in einer Gesellschaft die Dinge ruhig und vernünftig laufen, erreichen die in ihr lebenden Menschen in der Regel ihre Ziele. Sie erlernen eine für alle nützliche Tätigkeit, üben sie aus und können damit ihren Lebensunterhalt bestreiten. Wenn sie mehrheitlich eine Forderung aufstellen, die sie alle betrifft, wird sie wirksam. Gesellschaftliche Umbruchzeiten zeichnen sich dadurch aus, dass diese Zusammenhänge zwischen Angestrebtem und Erreichtem zerreißen. In seinem auch sonst sehr lesenswerten Roman »Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer« beschreibt Alex Capus die Zuspitzung dieser Verkehrung aller menschlichen Absichten in ihr Gegenteil anhand des »hilflosen Entsetzens«, das eine der Hauptfiguren seines Buches während der Kriegsjahre 1914 bis 1918 empfindet, als »die Kriegsmaschine den Kontinent umpflügte … Sie verschluckte Mönche und spuckte sie als Feldprediger wieder aus, sie machte Hirtenhunde zu Grabenkötern und Flugzeugpioniere zu Kampfpiloten, Wildhüter zu Scharfschützen und Pianisten zu Feldmusikern und Kinderärzte zu Lazarettschlächtern ...« Als vor einiger Zeit in Deutschland die eine spätere Regierungspartei versprach, die Mehrwertsteuer auf keinen Fall zu erhöhen und die andere spätere Regierungspartei eine Erhöhung dieser Steuer um zwei Prozente ankündigte, wunderten sich viele Menschen, dass diejenigen, denen sie mit ihrem Stimmzettel zu Ministerposten verholfen hatten, sich im Jahre 2006 auf eine Erhöhung um drei Prozent einigten. Das war ein weiterer Sargnagel für den Glauben vieler Menschen hierzulande, dass Wahlprogramme irgendeinen Aussagewert hätten. Das Zerreißen des Zusammenhangs zwischen Angestrebtem und Erreichtem ist inzwischen weit fortgeschritten. Das gilt für die Zerstörung beruflicher Träume von immer mehr Jugendlichen, und das gilt für das Zerreißen von Wahlversprechen durch die Versprecher, sobald sie für eine Regierung sprechen. Diese Erscheinung ist zurzeit am deutlichsten in Griechenland sichtbar, prägt sich aber – vor allem hinsichtlich der Erwartungen an das so hoffnungsvoll gestartete »Projekt Europa« – auch in Deutschland zunehmend aus. Noch sind wir von der extremen Zuspitzung solcher Verkehrungen wie im Ersten – und noch krasser im Zweiten – Weltkrieg entfernt. Aber wir sind, ist zu befürchten, auf dem Wege. Manfred Sohn Zuschrift an die LokalpresseDie Berliner Stiftung Naturschutz und die Deutsche Umwelthilfe schlagen Alarm wegen der wachsenden Nachfrage nach »Coffee to go«, also Kaffee zum Wegkippen. Um dem Müllproblem durch fallengelassene Pappbecher entgegenzuwirken, starten die Umweltschützer die Kampagne »Becherheld – Mehrweg to go« und schlagen vor, dass VerbraucherInnen eigene, mitgebrachte Becher befüllen lassen und zudem eine Abgabe von 20 Cent auf Pappbecher erhoben wird. Die einmalige Chance für Otto Normalverbraucher, mit geringem Aufwand zum Helden zu avancieren! – Regina Held (42), Marathonläuferin, 06577 Heldrungen Wolfgang Helfritsch
Erschienen in Ossietzky 19/2015 |
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