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Nach einem vergeblichen Fluchtversuch in einem Lastwagen will er nun auf diese Weise das ersehnte Ufer erreichen. Er nimmt Unterricht bei Calmat, der bald ahnt, weshalb er dem jungen Mann unbedingt das Kraulen beibringen soll. Mit der Zeit wird der Schwimmlehrer zu einem väterlichen Freund und bekommt Ärger mit der Polizei. Das Gesetz 622 bestraft jeden Franzosen, der Flüchtlingen hilft, indem er sie beherbergt oder auch nur deren Mobiltelefon auflädt, mit bis zu 30.000 Euro Geldstrafe oder fünf Jahren Gefängnis. Ein faschistoider Nachbar gibt der Polizei Hinweise, Calmat wird auf der Polizeiwache verhört. Bilals erster Versuch scheitert, er wird durch ein Fischerboot gerettet und wieder nach Calais gebracht. Aber er gibt nicht auf. Beim zweiten Versuch schafft er es bis kurz vor die englische Kanalküste und ertrinkt bei dem Versuch, einem Boot der britischen Küstenwache zu entkommen. Seine Leiche wird auf den Kontinent zurückgebracht. Nach Calais. Dieser vor sechs Jahren gedrehte Film, ausgezeichnet mit vielen Preisen, hat an Aktualität nichts verloren. Immer noch kampieren Tausende von Flüchtlingen unter prekären Bedingungen in Calais, immer noch sterben Menschen bei dem Versuch, mit Lastwagen per Fähre oder heimlich auf Zügen durch den Kanaltunnel ans andere Ufer zu kommen, immer noch gilt das Gesetz 622, das jegliche Hilfe für Flüchtlinge unter Strafe stellt. Der sozialistische Abgeordnete Daniel Goldberg sowie die kommunistische Fraktion im Senat haben vergeblich versucht, das Gesetz abzuschaffen oder zumindest zu verändern, ein neues Gesetz sollte nach dem Film »Welcome-Gesetz« heißen. Ohne Erfolg. Bezeichnenderweise wird im Gesetzestext von einem »délit de solidarité«, also einem Solidaritätsvergehen gesprochen, ein ebenso zynischer Ausdruck wie der Titel des Films. Calais war bis Juni 1944 ein waffenstarrender Teil von Hitlers »Festung Europa«, wahrscheinlichster Ort der alliierten Invasion. Die heutige Festung, benannt nach harmlosen Städten wie Schengen oder Dublin, richtet sich gegen jene, denen vor allem auf Grund einer kurzsichtigen Afrika- und Nahostpolitik von USA und EU die Lebensgrundlage entzogen wurde. Dass auch innerhalb der Festung Europa die Lebensbedingungen alles andere als gleich sind, wurde spätestens bei der Griechenlandkrise klar. Und so ist es kein Wunder, dass das bevorzugte Ziel der aus Nahost und Afrika Vertriebenen jenes Land ist, welches am meisten von der EU profitiert. »Germany, Germany« riefen die am Budapester Ostbahnhof gestrandeten Flüchtlinge, und wer könnte es ihnen verdenken? Die armen Schlucker in der EU machen dagegen ihre Grenzen dicht, andere sehen ihren Wohlstand gefährdet oder fürchten ihre salonfähig gewordenen Rechtsparteien. Die Antwort ist messerscharfer NATO-Draht an der ungarisch-serbischen Grenze oder in der spanischen Enklave Melilla, und auch in Calais spendeten die englischen Behörden großzügig der französischen Polizei den perfiden Zaun nebst abgerichteten Hunden. Die versprochene »grenzenlose Freiheit« galt ohnehin nur für Warenströme und für jene, die es sich finanziell leisten können. Eine von der Marktwirtschaft besessene Gesellschaft wettert heuchlerisch gegen jene, die die einzig übrig gebliebene Möglichkeit verkaufen, nach Europa zu kommen. Die Insel Malta ist berüchtigt für den gnadenlosen Umgang mit gestrandeten Flüchtlingen, aber ebenso bekannt für die lukrative Praxis, wohlhabenden Nichteuropäern einen maltesischen EU-Pass zu verkaufen. Warum stellt die EU nicht selbst seetüchtige Boote für die Flüchtlinge und unterbietet die Preise der Schleuser? Es wäre zumindest ein im Sinne der totalen Marktwirtschaft einträgliches Geschäft, welches den Flüchtenden sogar zugutekäme. Schon wird das Gespenst der syrischen Lohndrücker beschworen, dankbar aufgegriffen von der französischen Rechtsfront. Das neoliberale Europa war selten solidarisch, weder nach innen noch nach außen. Die seinerzeit von Mitterrand zaghaft geforderte Sozialunion war nie das Ziel, die EU verstand sich immer zuerst als ein Zusammenschluss von Staaten, die den grenzenlosen Waren- und Kapitalverkehr zum Ziel hatten. Wenn sich also ein Jean-Claude Junker darüber beklagt, dass fast alle Staaten der EU einem hemmungslosen Egoismus frönen, dann sind dies die Krokodilstränen eines Politikers, der sein EU-Land zu einem begehrten Steuerparadies gemacht hat. Währenddessen herrscht in Frankreich innenpolitischer Stillstand. Der sich sozialistisch nennende Präsident François Hollande schaut verstört mal auf das große Vorbild Deutschland, mal auf den weiter wachsenden Einfluss des Front National, welcher inzwischen Deutschland zum Hauptübel der EU erklärt hat. Der Staatschef sieht sein Heil in einer perfiden außenpolitischen Profilierung, liefert jene Waffen an die Golfstaaten, die die USA nicht mehr zu liefern bereit sind, will das Flüchtlingsproblem durch den Einsatz der französischen Luftwaffe lösen. Währenddessen entstehen an den Grenzen der EU wie auch innerhalb ständig neue Brennpunkte. Calais ist überall.
Erschienen in Ossietzky 19/2015 |
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