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Ich erinnere an jene seinerzeit erschreckende Anverwandlung der Kämpfe verfeindeter Adelshäuser Capulet und Montague zu einer Schlacht verfeindeter Straßengangs – da war mit Wucht ein schäbiger heutiger Alltag eingezogen – wir hatten die Gegenwart über Shakespare. Gewinn? Auch, eben die Aktualität historisch-menschlicher Feindschaften aus sozialen Gründen. Die Verluste freilich waren größer: die menschlich-sozialen Dimensionen, deren epochenübergreifende Allgewalt unter veränderten Umständen und die kantige Konflikthaltigkeit sowie die sprachlich-gestische Tiefe, die Größe des Stoffes, schließlich sogar die Schönheit des Stückes – im Ganzen hatte das elementare Theaterspiel gelitten. Die erwähnten Vorzüge hat die eher kleinformatige jetzige DT-Inszenierung nicht, eher ihre Mängel. Das ist Hausmacherart, weder starker Atem noch gar Wind einer Epoche konnte verständlich gemacht werden; gar, warum das ein Stück ist, was Zeiten überstand und uns noch etwas angeht. Weiter geht es zu Molière: »Der Geizige«, der es uns leicht macht. Auch in dieser Inszenierung am DT von Martin Laberenz mit dem Bühnengestalter Volker Hintermeier und acht Schauspielern. Dass es gegen Geld, seine Macht und seinen Missbrauch geht, liegt auf der Hand, nur ist diese Hand recht klein. Was sieht man: Eine gelangweilte Frau in Weiß raucht Zigarette, neben ihr auf oder fast in einem Ledersofa ein bebrillter Kerl in schwarzgelb gestreiftem Zivil und einen andern daneben stehenden in weißlegerem Sommeranzug; dazwischen ein möwenähnlicher Vogel. Banaler geht es nicht, Molière hat anderes gemeint und auch gestaltet. Davon so gut wie nichts. Schade: Seit Besson und Düren haben deutsche Spielleiter und Schauspieler kaum das gefährliche Spiel Molières spielen können, es kam meist harmlos komisch. Gleichfalls der Epoche des Absolutismus entsprang ein großes und hochpolitisches Stück in Klassiknähe: »Don Carlos« von Schiller in einer Inszenierung von Stephan Kimmig. Hier in der Gegensatzfeindlichkeit der Zeit, was man auch Klassenkampf nennen kann; in diesem Fall der Kampf in der Herrscherschicht selbst, die diesen dann noch härter gegen unten und nach außen führt, also Unterdrückung der religiös reformierten, also zunächst freieren, auch durch frühe philosophische Aufklärung gestärkten Niederlande. Im Drama läuft das über Personen, in erster Instanz über Don Carlos und Marquis von Posa, die andere Seite vertreten durch König Philipp von Spanien und den Großinquisitor, dazwischen die Königin – die unselig verstrickende Liebe gehört zum großen Drama. Ebenso die große Männerfreundschaft. Hier haben wir einen großen Konflikt – so nur im Absolutismus möglich. Das hatte auch Verdi gewusst, der eine seiner großen Opern danach komponierte – unvergesslich und fast als Weltmelodie durchgesetzt: das Männerduett »Gott, der entflammte der Liebe heiße Glut«. Nun, so Gewaltiges musste man nicht in Szene setzen, solches Pathos ist nicht mehr vorrangig, aber einiges sah man schon, historisch Neues wurde gewahrt, und die Kostüme sahen echt und gut aus – die Aufführung am DT hat etwas von Geschichtskenntnis und Wahrheit. Mit Dramen von Ibsen, Strindberg, vor allem Gerhart Hauptmann war einst – und zwar vorrangig unter Otto Brahm – das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater zum Deutschen Theater geworden, Max Reinhardt hatte das fortgesetzt, freilich mit einem breiteren, im Grunde weltdramatischen Spielplan. »Die Frau vom Meer« gehört zu den weniger gespielten Stücken Ibsens; auch ein Ehe- und Frauenstück, hinter dessen Fabel sich die anbahnende Krise der späten bürgerlichen Gesellschaft zeigt. Stephan Kimmig hat das inszeniert. Doch zeigte er weder besondere Einfälle noch Personenführung, aber diesen maßlos gewordenen Zwangsirrtum zu einer angeblichen Aktualität oder Zeitnähe. Was soll denn das bedeuten, wenn die Hauptpersonen, das Paar (von Susanne Wolff und Steven Scharf dargestellt) trinken und Zigaretten rauchen. Dass Paare so etwas heutzutage tun, bestreitet niemand, obwohl es in der Gesellschaft heftige Bemühungen gibt, Rauchen einzuschränken. Nun muss ein Theater nicht unbedingt Gesundheitspropaganda machen, doch auch nicht das Gegenteil, zumal, wenn keinerlei Notwendigkeit dafür besteht. Ibsen hat keine Menschen des Jahres 2015 beschrieben, sondern des Jahres 1888, Menschen unter freilich ähnlichen Umständen. Die beklemmende Krisenhaftigkeit, deren Existenz ist der unsrigen zweifellos ähnlich, doch nicht identisch. Um wie viel anschaulicher und klüger wäre so ein Spiel halbwegs historisch eingebundener Personen, aus deren Fehlern zu lernen wäre. Diese arrogante Regie-Manie hält das Publikum im Theatron einfach für dumm und unzurechnungsfähig und muss daher belehrt werden – wenn es sein muss, mit Zigaretten. Man könnte mal ein Raucherstück schreiben, wenn man es kann. Ibsen hatte jedenfalls keines in die Welt geschickt. Gleichfalls eine Kimming-Inszenierung am DT: »Wassa Schelesnowa« (wörtlich: »Die Eiserne«) von Gorki. Im Grunde kann ich hier fast dasselbe sagen. Das gut einhundert Jahre alte Stück ist kräftig wie einst – es erzählt von abnehmender Stärke eines Krisensystems, das jedoch selbst eine starke Person wie diese Wassa (Corinna Harfouch) zu Fall bringt. Mir bleiben keine Bilder, kein Eindruck. Nun hatte ich das Glück, die unvergleichliche Therese Giehse in dieser Rolle sowie auch eine Moskauer Aufführung zu sehen, und Giehse ist noch in meiner Erinnerung. Keiner hat es besser beschrieben als Brecht: »Die Darstellung der Shelesnowa durch die Giehse ist dialektisch und aufschlußreich. [Schreibweise Brechts] Der realistische Schauspieler verschafft dem Zuschauer durch seine Kunst einen tiefen Einblick in die menschliche Natur.« Ach, was muss man sich nur alles anschauen, nur, weil es als Kunst bezeichnet und angeboten wird, etwa ein Stück, sagen wir, einen dialogisierten Text von Wolfram Lotz: »Die lächerliche Finsternis«. Die deutsche Bühne gibt eine sehr »aufhellende« Information – oder ist es nur ein »Einblick«–, was so alles hineingepackt ist: »Dritte-Welt-Elend, Aufruhr, Afghanistan, Somalia, Religionsfanatismus, Terrorismus, Seepiraterie, Ausbeutung, Kolonialismus, unsere Kriege gegen die-da-dort, also die anderen Kreaturen – mit gekonnter Naivität ins erhellend Groteske, ins Alptraumhafte.« Kann Naivität gekonnt sein – ist doch eher ein angeborener beziehungsweise ausgeprägter Wesenszug!? Abgesehen davon: Alptraumhaft war da manches, grotesk hätte es sein müssen, vielleicht sogar können. Lotz macht alle typischen Anfangsfehler eines jungen Autors und die Regisseurin Daniela Löffler ebenfalls. So viele Themen gleichzeitig und in einem Text sind fast noch nie einem Stück oder einem Theaterspiel bekommen – die hätten weder Aischylos in seinen »Atriden« noch Shakespeare im »Sturm« bedenken, behandeln können. Selbst Goethe, der im »Faust« fast alle seinerzeitigen Weltthemen unterbrachte, hatte zwar eine Weltdichtung, doch kein gutes Theaterstück hervorgebracht. Mir kam es wie schlechter sozialistischer Realismus vor – da erstickte man auch oft im Themengewirr.
Erschienen in Ossietzky 19/2015 |
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