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In diesen nun vergangenen 25 Jahren haben sich die Bewohner des verschwundenen Landes sozial, politisch, kulturell und individuell, ein jeder für sich, auf gesellschaftliche Umbrüche, Veränderungen und Gegebenheiten einstellen müssen, wie dies in der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts bis dahin nur nach den Weltkriegen der Fall gewesen war. Die sich in jedem Einzelschicksal vollziehende Integration von 17 Millionen ehemaliger DDR-Bürger in eine völlig anders geartete Lebenswelt, die der marktwirtschaftlichen und bürgerlichen Realitäten der Altbundesrepublik nämlich, stellte eine gesellschaftliche Gruppenleistung dar, die als die eigentliche Revolution jener Jahre bezeichnet werden kann. Wie viele persönliche Tragödien, familiäre Verwerfungen, wie viele Erfolgsgeschichten und individuelle Glücksmomente daraus resultierten, hing von etlichen Faktoren ab: Wie staatstragend war die berufliche Tätigkeit in der DDR gewesen? Wie alt oder jung war man zum Zeitpunkt der Wende? War man Mann oder Frau? Welche Charaktereigenschaften halfen, welche nicht? Wie anpassungsfähig, wie flexibel oder schnell war man in den entscheidenden Situationen, wenn es darum ging, die nun nicht mehr abgesicherte Existenz zu retten? Wer kannte wen, wo musste man sich bewerben, welche biographischen Details hielten vor den oft erschütternd ignoranten Evaluationen bundesdeutscher Autoritäten stand und welche nicht? Welche Sprache musste man erlernen, was bedeuteten die Begriffe »Schnäppchen« oder »Pauschbetrag«? Welcher Westdeutsche war wichtig oder tat nur so? Und nicht zuletzt: Welche Rolle spielten Zufälle, schieres Glück oder gewollte Selbstverleugnung bei der erfolgreichen Etablierung im neuen System? Was führte in die Arbeitslosigkeit, in die Ehescheidung, in den Suff, die Hoffnungslosigkeit? 25 Jahre nach dem »Beitritt« der »Neuen Länder« werden diese Fragen in kaum einem sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekt oder breiteren soziologischen Studien einer überfälligen Betrachtung unterzogen. Die zentralen Fragestellungen zur DDR-Geschichte sind seit 25 Jahren ideologisch determiniert, um der vergangenen DDR eine zumindest vorübergehende Wertung zuzuweisen: Die DDR – ein Unrechtsstaat. Dabei kann der Eindruck nicht vermieden werden, dass es sich bei dieser bemühten Festschreibung um eine verspätete Kompensationsleistung bundesdeutscher Meinungseliten handelte, die sich zuvor jahrzehntelang mit der vorbehaltlosen Bezeichnung des NS-Regimes als Unrechtsstaat schwergetan hatten: Was im Hakenkreuzstaat Recht gewesen war, konnte schließlich in der Nachfolge der Altbundesrepublik nicht Unrecht gewesen sein. Aber die DDR war tatsächlich ein Unrechtsstaat. Nicht jedoch, weil heutige Verfechter einer neoliberalen Geschichtsschreibung sie mit ihren nivellierenden Totalitarismustheorien gerne so sehen würden: Sie war es, weil sie Andersdenkende verfolgte, Christen willkürlich diskriminierte, Kritiker ausgrenzte, Kommunisten wie Schirdewahn, Janka, Bahro oder Havemann diffamierte oder an ihren Staatsgrenzen auf Flüchtende schießen ließ. Sie war primär ein Unrechtsstaat, weil sie sich willentlich nicht einmal an ihre eigene Verfassung, an ihre eigenen Gesetze hielt. Sie war ein Unrechtstaat, weil ein Minister für Staatssicherheit, ein Generalsekretär, eine Justizministerin oder sonst ein Mächtiger bereits gefällte Urteile handschriftlich nach eigenem Ermessen abänderte – bis hin zu Todesurteilen. Aber auch die juristische Auseinandersetzung mit der Geschichte von Recht und Unrecht in der DDR lohnt den Aufwand nicht, wenn man in geschichtswissenschaftlichen Hinterzimmern auch heute noch mit dem braunen Erbe hadert und das Nazireich relativistisch zu interpretieren sucht. Wie erinnert man sich also an dieses Land, dessen bloße Erwähnung von den meisten ehemaligen DDR-Bürgern in ihrer Biographie heute eher als peinlich, irgendwie unangenehm oder gar als persönlicher Makel empfunden wird? Im Gegensatz zu den vormaligen »sozialistischen Bruderländern« erlebte die ehemalige DDR eine singuläre Tilgung ihrer materiellen und institutionellen Insignien: Automarken, Konsumprodukte, Ämter, Symbole, Alltagssprache – alles verschwand innerhalb weniger Jahre und ist heute, ein Vierteljahrhundert später, nur noch als Freakshow (»Trabisafari«), als Ostalgie-Party oder als Ostpro-Messe von Bedeutung. Die brachialen 1990er Jahre mit ihren Massenentlassungen, mit ihren Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, mit den teilweise völlig unsensiblen Entwertungen von Lebensleistungen, der Diffamierung jeglicher Teilhabe an der beruflichen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung dieses untergegangenen Stückchens Deutschland führte zu dauerhaften Beschädigungen in den Befindlichkeiten der heutigen Ostdeutschen über fünfzig, aber auch zu dem daraus resultierenden Unverständnis ihrer westdeutschen Gegenüber. Den heutigen Nachgeborenen in West und Ost gerät das getilgte Land jedoch zu einer Art Mysterium: Die DDR in ihrer einundvierzigjährigen historischen Heterogenität zu begreifen, sie einer objektiven Geschichtlichkeit, einem modernen Epochenbegriff zuzuordnen oder sie vorbehaltlos lebensweltlich zu untersuchen, dies alles ist bis zum heutigen Tage nicht möglich. Wollen heutige Studenten ihnen Unzugängliches über die DDR erfahren, befragen sie – wenn überhaupt – deren ehemalige Bewohner, Eltern also, Bekannte, Nachbarn oder Zugezogene, von denen bekannt ist, dass sie aus »dem Osten« stammen. DDR-Geschichte gerät auf diese Weise zur »oral history«. Und ist kein Ostdeutscher zur Hand, so müssen halt mediale Abbilder wie »Weissensee«, »Das Leben der Anderen« oder »Die Frau vom Checkpoint Charlie« herhalten. Doch fragt man hundert ehemalige DDR-Bürger nach ihren individuellen Erfahrungen, nach ihrem ganz persönlichen Leben in jener Zeit, bekommt man hundert verschiedene Antworten und ein überraschend vielfältiges Bild von einem Land, dessen Existenz im öffentlichen wie im privaten Kontext am besten keinerlei Erwähnung mehr finden soll. Bundeskanzlerin und Bundespräsident, eine Bundesministerin und viele Prominente entstammen diesem ehemaligen Staat zwischen Kap Arkona und Fichtelberg. Sie alle scheinen seltsam abgekoppelt von der eigenen Vita, die am 3. Oktober 1990 eine folgenreiche staatsvertragliche Weichenstellung erfuhr. Die DDR und ihr getilgtes Erbe wirken in den ehemaligen DDR-Bürgern wie eine Art biographischer Palimpsest, wie ein überschriebenes Manuskript, dessen ursprünglicher Text verblasst und zwischen den Zeilen ihrer angepassten, sprachlich zurechtgestutzten Biographien dahinvegetiert. Es wäre reichlich naiv, anzunehmen, dass die Lebensleistungen und Erfahrungen der Millionen ehemaliger DDR-Bürger irgendwelche Relevanz in zukünftigen gesellschaftlichen Szenarien haben sollten. Das Zeitalter der Globalisierung, die vielen Flüchtlinge aus außereuropäischen Kriegs- und Krisengebieten, dies alles verändert unsere Gesellschaft so rasant, wie es die veränderte gesellschaftliche Realität vor einem Vierteljahrhundert mit den DDR-Bürgern tat. Ohne die Erforschung und Dokumentation von lebensweltlichen Abläufen in der DDR jenseits von tagespolitisch verordneter Verdammung, wenn es etwa um die Erfassung und Bewertung damaliger Erwerbsbiographien oder persönlicher Lebensplanungen geht, kann jedoch eine tragfähige sozialwissenschaftliche DDR- Erforschung 25 Jahre danach nicht funktionieren. In diesem Sinne ist es jedem Ostdeutschen gegeben, aus der gemeinsamen Vergangenheit in diesem heute getilgten Land, aus dieser damaligen DDR, den bisherigen mit dem zukünftigen Lebensweg zu verbinden, je nach Erfahrung, je nach Erlebtem, je nach Gefühltem. Nur wer seine Herkunft kennt und akzeptiert, kann auf Dauer unbeschadet Zukunft überstehen.
Erschienen in Ossietzky 19/2015 |
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