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Der bekannte Maler und Graphiker Willi Neubert erlebte anlässlich seines 90. Geburtstages seine Ernennung zum Ehrenbürger der Stadt Thale. Befinden wir uns wirklich auf dem Weg zu einem souveräneren Umgang mit unserer Vergangenheit, zu der auch die Kunstgeschichte des vielgescholtenen »Unrechtsstaates« gehört? Im Einigungsvertrag vom 31. August 1990 heißt es im Artikel 35 zur Kultur: »In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher Entwicklung in beiden Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation. Sie leisten im Prozess der staatlichen Einheit der Deutschen auf dem Weg zur europäischen Einigung einen unverzichtbaren Beitrag. Stellung und Ansehen eines vereinigten Deutschland in der Welt hängen … ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab … Die kulturelle Substanz in dem in Artikel 3 genannten Gebiet [in den neuen Bundesländern und im Ostteil Berlins, M. M.] darf keinen Schaden nehmen …« Das Urheberrechtsgesetz der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965, zuletzt geändert durch Gesetz vom 7. März 1990, schließt die im Osten Deutschlands entstandene Kunst ausdrücklich ein. Deshalb ist in der Anlage 1, Kapitel III, Abschnitt II, § 1 (1) des Einigungsvertrages formuliert: »Die Vorschriften des Urheberrechtsgesetzes sind auf die vor dem Wirksamwerden des Beitritts geschaffenen Werke anzuwenden. Die gilt auch, wenn zu diesem Zeitpunkt die Fristen nach dem Gesetz über das Urheberrecht der DDR schon abgelaufen waren.« Was ist von diesen gut formulierten Gesetzestexten eines »demokratischen Rechtsstaates« geblieben? Eine Spur der Schande zieht sich seit 1990 durch die östlichen Bundesländer, eindrucksvoll dokumentiert in Peter Michels Buch »Kulturnation Deutschland? – Streitschrift wider die modernen Vandalen« (Verlag Wiljo Heinen, 2013; s. Ossietzky 4/13). Dazu gehört die diffamierende Ausstellung »Aufstieg und Fall der Moderne« in Weimar, die »Ostkunst« wie Abfall präsentierte; zornig reagierten betroffene Künstler und Leihgeber mit gerichtlichen Klagen oder hängten – wie Ralf Kerbach und Reinhard Stangl – eigenhändig ihre Bilder ab. Nicht besser war die Ausstellung »Rahmenwechsel« in Beeskow. Wie auf einer Müllhalde wurde gute und weniger gute Kunst dargeboten. Das Gästebuch zeigte entrüstete Einträge der Besucher. Für viele Menschen der neuen Bundesländer begann dieser Weg der Schande mit der Schließung und dem Abriss des Palastes der Republik. Kulturwerte wurden übersehen, beseitigt, entfernt, um damit Erinnerungen zu vernichten. Die kulturelle Substanz der neuen Bundesländer hat – im Widerspruch zum Einigungsvertrag – einen unendlichen Schaden genommen. Auch die Familie des international bekannten Metallgestalters Fritz Kühn ist von dieser schändlichen Entwicklung betroffen (s. Ossietzky 12/12, 4/15). Viele seiner einzigartigen Werke verschwanden, unter anderem die Fassadengestaltung des Centrum-Warenhauses in Suhl. Achim Kühn führt das Werk seines Vaters fort. Zahlreiche seiner Arbeiten fielen dem Vandalismus zum Opfer. 56 Werke und Werkgruppen der Kühns wurden vernichtet. Der gesamte Nachlass Fritz Kühns stand seit 1983 als nationales Kulturerbe unter Schutz. Das spielt heute keine Rolle mehr. 1990 wurde ein Grundstück der Kühns – dort waren ein Skulpturenpark und ein Fritz-Kühn-Museum geplant – »rückübertragen«. Viele Proteste gegen diesen Landraub, gerichtet an die Kulturverwaltung Berlins und den Kulturausschuss des Bundestages, verhallten im Wind. Das Leibniz-Institut für Regionalentwicklung und Strukturplanung in Erkner übernahm lobenswerterweise den Nachlass Fritz Kühns. Die »Kulturnation« Deutschland wird bloßgestellt, wenn man bei Ausstellungen von Modellen oder Fotos solcher Werke immer wieder den Hinweis lesen muss: »Nach 1990 zerstört, ... entfernt, … abgerissen …«. Auch die Ausstellung »60 Jahre – 60 Werke« im Berliner Gropiusbau anlässlich des 60. Jahrestages des Bestehens des Grundgesetzes war ein Glanzstück des Unverstandes. Dort war kein Werk zu sehen, das in der DDR entstanden war. Die Kuratoren der Ausstellung stellten fest, Kunst könne nur in Freiheit entstehen. Da es in der DDR keine Freiheit gegeben habe, sei da auch keine Kunst möglich gewesen. Ein nennenswerter Beitrag zur deutschen Einheit! So einfach ist das also. Schirmherrin dieser Ausstellung war Angela Merkel. Die Ludwiggalerie Oberhausen zeigte jedoch schon 2006 eine Ausstellung mit dem Titel »Deutsche Bilder«, in der die gemeinsamen Wurzeln west- und ostdeutscher Kunst nachgewiesen wurden. Auch das Albertinum in Dresden ging 2013 mit der Ausstellung »geteilt/ungeteilt« einen guten Schritt in die richtige Richtung, weil sie Bilder präsentierte, die im Depot verschwunden waren. Diesen besseren Weg beschritt auch die Gesellschaft zum Schutz von Bürgerrecht und Menschenwürde, indem sie sich für die Wiederaufstellung der Zwischengröße der Plastik »Befreiung« von Jürgen Raue im Jugend-Kultur-Zentrum Potsdam engagierte. Die Willi-Sitte-Galerie für moderne Kunst in Merseburg pflegt nicht nur das Erbe dieses Malers, sondern zeigt auch Ausstellungen anderer realistischer Künstler. Kunstfreunde aus dem Westen hatten geholfen, als die Hetze gegen Sitte im Ostteil unerträglich wurde. Willi-Sitte-Ausstellungen fanden nach 1990 zum Beispiel in Wittlich, Lampertheim, Neu-Ulm, Seeheim-Jugenheim, Freudenstadt und weiteren Orten mit einem aufgeschlossenen, wissbegierigen Publikum statt. Umso blamabler war im Jahr 2000 der würdelose Akt des Verbots einer Sitte-Ausstellung im Nürnberger Germanischen Nationalmuseum. Vieles wirkt noch heute in den Alltag hinein: die Denkmalgestaltungen für die KZ-Gedenkstätten, die Wandbilder Walter Womackas in Berlin und Eisenhüttenstadt, das Wandbild »Lob des Kommunismus« von Ronald Paris im Berliner DDR-Museum, die Brunnengestaltung auf dem Universitätsplatz in Rostock und vieles andere. Die DDR genoss internationales Ansehen, unter anderem bei der »documenta« und der Biennale in Venedig. Weltweit geachtete Aktivitäten der DDR – wie die INTERGRAFIK oder die Ostseebiennale – gibt es nicht mehr. Von den zahlreichen Symposien hat sich aber ein wichtiges erhalten: das internationale Keramiksymposium in Römhild, das 2015 zum zehnten Mal stattfand. Die Kunst aus der DDR als einen wesentlichen Teil der deutschen Nationalkultur zu achten, bleibt eine Forderung.
Erschienen in Ossietzky 19/2015 |
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