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Und so tief diese Hybris im Selbstverständnis der Besitzenden verinnerlicht ist, so auffällig wirkt ihre offensichtliche Akzeptanz bei den benachteiligten Massen. Wie sonst wäre beispielsweise zu erklären, dass selbst eine sozialistische Partei wie die griechische Syriza als Sprachrohr der Verarmenden nicht zumindest mit Enteignungsszenarien bei superreichen Steuerhinterziehern im eigenen Lande droht, wenn gleichzeitig eine Phalanx aus Weltbankern, Währungsfondsverwaltern und EU-Finanzministern dem eigenen Volk die Luft abschnürt? Die so oft zitierte Schere zwischen Arm und Reich wird – egal ob in Europa oder auf anderen Kontinenten – nicht wirklich hinterfragt, nicht konsequent bekämpft von denen, die sich den Kampf für soziale Gerechtigkeit auf ihre Fahne geschrieben haben. Zu mächtig sind die manipulativen Wirkungspotenziale von Nationalismus oder Fremdenhass, zu stark die Ängste vor dem eigenen sozialen Abstieg, als dass die herrschenden Vermögensverhältnisse und vor allem deren Zustandekommen ernsthaft in Frage gestellt werden würden. Seit Jahrtausenden gehört es zu den Ritualen der jeweiligen Oberschichten, vor den darbenden Massen ein Szenario noch größeren Elends zu beschwören, sollte die schiere Macht der Lohnabhängigkeit nicht als schicksalsgegeben hingenommen werden. Von den sklavenhaltenden Senatoren im antiken Rom über die mittelalterliche Kurie, von den Rassenlehren der Kolonialagitatoren hin zu den neoliberalen Globalisierungsthesen gegenwärtiger Finanzmarktanalysten: Immer gab und gibt es die instrumentalisierten Teilhaber am Wohlstand ihrer vermögenden Auftraggeber. Und immer gab und gibt es die Korrumpierten, deren Aufgabe einzig in der Weitergabe besitzstandssichernder Mythen nach unten hin besteht, damit die himmelschreienden Vermögensdisparitäten gar nicht erst in Zweifel gezogen werden. Daher auch der reflexhafte Verweis auf den Verlust von Arbeitsplätzen, wann immer in unserer politischen Gegenwart laut über Möglichkeiten nachgedacht wird, unanständig gewachsenes Vermögen zu sozialisieren. Es ist nicht so, als hätten unsere Vorfahren dies alles nicht schon gewusst. Als sich gegen Ende der Antike (um 400 u. Z.) der bedeutende Theologe und Bischof von Hippo Regius, Augustinus, die Frage nach dem Guten und dem Bösen auf dieser Erde stellte, kam er zu dem Schluss, dass es das Böse an sich nicht geben könne, weil der Mensch an sich doch ein gutartiges Wesen sei. Was sich gesellschaftlich als Böses manifestiere, hätte gar keine Wesenheit, sondern wäre der Mangel an Gutem oder gar dessen Abwesenheit. Armut entstünde demnach durch die Abwesenheit mildtätiger Güte der Besitzenden. Aus der Sichtweise des 21. Jahrhunderts scheint das Augustinische Gedankenspiel etwas obsolet, spielen doch Gedanken über Gut und Böse, Arm oder Reich in unserem kulturellen Alltagsdiskurs kaum mehr eine Rolle. Armut – so lautet die für Deutschland zutreffende Definition – ist, wenn einer Person weniger als 60 Prozent des mittleren Nettoeinkommens zur monatlichen Verfügung stehen. Global gesehen unterscheiden Armutsforscher auch zwischen absoluter und relativer Armut, zwischen Armut und Elend, zwischen Armutsquoten und Armutsschwellen. All diese normativen Erfassungen ergeben ein stets aktualisiertes Bild der sich weltweit verschärfenden Armut, informieren uns über das »Phänomen« der Armut und die sie verursachenden Risikofaktoren. Doch darf man in unserem Zeitalter der alles erfassenden Messbarkeit, Evaluierbarkeit und Prognostizierbarkeit durchaus einmal hinterfragen, wozu die von der Armutsforschung gesammelte Datenfülle dienen soll. Wozu nützen uns all die statistischen Grundaussagen? Markus Grabka, Verteilungsforscher des Deutschen Institutes für Wirtschaftsforschung (DIW), oder Christoph Schröder, Armutsforscher vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW), verweisen auf deren Verlässlichkeit, wenn es darum geht, herauszufinden, in welcher gesellschaftlichen Gruppe die Armut wächst und wie sich die Disparitäten zwischen Arm und Reich entwickeln. Doch die seit den 1980-er Jahren massiv divergierende Vermögenskluft zwischen den Wenigen und den Vielen wird zwar ökonomisch analysiert, nicht jedoch im ethischen Sinne thematisiert. In Deutschland besitzen die derzeit superreichen zehn Prozent der Bevölkerung 65 Prozent des gesamten Privatvermögens. Doch das war auch schon 1966 in Großbritannien der Fall, als die damaligen sieben Prozent der Superreichen 84 Prozent des Privatvermögens im Königreich ihr Eigen nannten. Ihr Eigen? Kann oder darf zinsdynamischer, renditeakzelerierender Besitz, der zu maßlosem Reichtum führt, kann oder darf Nichtbesitz an grundsichernden Einkommensmöglichkeiten, der zur unausweichlichen Armut führt, überhaupt in finanzökonomische Formeln oder juristische Festschreibungen gegossen werden? Ist die augustinische Dialektik nicht doch zeitgemäßer, als wir glauben? Demnach wäre Armut nicht etwa das heutzutage so unverfroren von den Besitzenden konstatierte Versagen oder Scheitern der Betroffenen, der selbstverschuldete Abstieg zur »Unterschicht«, zu den »Transferleistungsbeziehern«, den »Bildungsfernen«, den »Sozialhilfeabhängigen« oder gar dem »Bodensatz«. Will man Alleinerziehenden, Migranten, den Zuverdienern, den chronisch Kranken, von Entlassung Betroffenen, den Zeitarbeitern, den angeblich zu Alten oder den durch Schicksalsschläge aus der Bahn geworfenen Erwerbstätigen ernsthaft diesen unglaublichen Vorwurf machen? Nein. Armut ist das genaue Gegenteil: Armut ist das ethische Grundversagen der vom Volk gewählten Entscheidungsträger, mit Hilfe der ihnen zur Verfügung stehenden legislativen Mittel für einen gesellschaftlichen Vermögensausgleich zu sorgen. Armut ist der Mangel an finanziellen, materiellen und institutionalisierten Vermögenswerten, die den durch unethische Kapitalakkumulation zu Reichtum Gelangten nicht entzogen wurde. Armut ist zudem die von den Vermögenden willentlich unterlassene bis systematisch bekämpfte Hilfeleistung an denjenigen, denen keinerlei über die Grundsicherung hinausgehende, geschweige denn vermögensbildende Mittel zur Verfügung stehen. Armut ist die Absicherung sittenwidrig erworbener Vermögen mit Hilfe ebenso unethischer finanz- oder steuerrechtlicher Paragrafen (zum Beispiel Schenkungs- und Erbschaftssteuergesetze) des die Vermögenden beschützenden Gesetzgebers. Armut ist eine gesellschaftliche Schande. An ihrem Zustandekommen sind nicht die Verarmten schuld, sondern das durch keinerlei gesetzgeberische Beschränkungen gezügelte Akkumulationsbegehren der Vermögensinhaber und ihrer willfährigen Sekundanten, den wirtschafts- und finanzhörigen Vertretern der Koalitionsparteien, den »freien« statt sozialmarktwirtschaftlichen Finanzökonomen, den initiativlosen Einsparungsapologeten bis hinauf zur Ministerebene. Und: Armut ist keineswegs schicksalhaft. Das von westlichen Finanzökonomen gebetsmühlenartig beschworene Wachstum der Volkswirtschaften ist in mehrfacher Hinsicht eine große Lüge: Weltweit überproportional wächst das Privatvermögen im Vergleich zu den stagnierenden mittleren Einkommen, weltweit wächst somit das Armutsproblem. Dem vermeintlichen Wohlstand erstarkender Mittel- und Oberschichten in den Schwellenländern etwa steht die unsichtbare Zahl der völlig Verarmten und Verelendeten entgegen, die für westliche Analysten unsichtbar bleiben, weil sie weder als Touristen noch als Armutsflüchtlinge den europäischen Kontinent aufsuchen. Egal, ob bundesdeutsche oder globale Armut – beide haben die gleiche Ursache. Darum auch ist der Kampf gegen sie nicht allein auf nationaler, sondern auf globaler Ebene zu führen. Aber ein Anfang muss gemacht werden. Auf welche Art, dies liegt auch im Ermessen der Einzelnen, der Staatsbürger, der Wähler, der Menschen des Alltags. Und im Denken und Handeln der Individuen, die sich den Zusammenhang zwischen Arm und Reich, zwischen der individuellen Macht als Wähler beispielsweise und der Macht der Besitzenden vergegenwärtigen. Nur so erlangt der Begriff des Solidarischen wieder seine ursprüngliche Bedeutung.
Erschienen in Ossietzky 16/2015 |
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