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In einem geschlossenen Bus wird der Sohn nun abgeholt, die Personen im Wagen reden nicht mit ihm, als er ihnen Kuchen anbieten will, sie reagieren überhaupt nicht. Im Radio: Musik von den Beatles. Im Heim begrüßt ihn freundlich ein Gärtner. Oben vergitterte Fenster. (Die Gärtner-Maskerade ist ein Trick des Heimleiters für die Mitarbeiter vom Jugendamt, die die Kinder in den Wagen bringen, später wird Wolfgang in diesem Garten einmal beim verbotenen Ernten von Tomaten fast totgeprügelt.) Im weiteren Verlauf wird all das erzählt, was man zigfach gehört und gelesen hat, aus Glücksstadt, vom Eichenhof, von anderen Heimen, 800.000 Kinder betraf es, nur durch Zufall bin ich dort nicht hineingeraten. Gedroht haben mir meine Eltern mehrfach damit. Alle Eltern taten es, überall in meinem Freundeskreis. Wir wussten was da läuft, es waren Kindergefängnisse. Schlimmer noch, denn im Gefängnis hatte man einen Anwalt, Besuchszeiten, staatliche Kontrollen, hier aber hatte man Wildwuchs mit staatlicher Duldung, aber keinen Anwalt, nicht einmal Gesetze, gegen die man verstoßen hatte. Es reichte der Anruf eines eifersüchtiger Stiefvaters, der einen aus dem Haus haben wollte. Ungehorsam, Renitenz, Aufsässigkeit, Lügenhaftigkeit, Bummelei, Widersetzlichkeit, das waren die Wunderworte, die ausreichten. Bei Mädchen kam noch Unsittlichkeit hinzu. Da brauchte es keine Beweise, da reichten Behauptungen. Wehrte sich der Jugendliche, so bestätigte das die behaupteten Vorwürfe nur. Alles, was in dem Film vorkommt, hat es gegeben: Schuhwichse in den Mund schmieren, von Erziehern geduldete Demütigungen innerhalb der Jungenhierarchie, Gruppenstrafen mit anschließendem Spießrutenprügeln des Verursachers durch die Kameraden, Gefügigmachen eines Opfers durch sexuelle Abhängigkeit, Fertigmachen durch Schwerstarbeit, Quälen durch Essen (die Erzieher nehmen sich normales Essen, die Kinder bekommen Abfälle), Schikanen, wie die ersten vier Wochen schwere Holzschuhe tragen zu müssen, strafendes Haarescheren bis auf die Haut, Prügeln mit einem Gummiknüppel mit Stahlkern, tagelanges Einsperren im Karzer bei Wasser und Brot, »Hängen«, Aufhängen mit Seilen an den Schultergelenken – und als Folge all dessen: Suizid, nicht einen, ganze Wellen von Suiziden wie in Glücksstadt, dessen Heim man 1975 schließen musste. Üblich waren auch Aufstände (Bambule genannt) mit anschließendem Strafprügeln und am Ende: im Wald sein eigenes Grab ausheben, gefesselt, hineingeworfen und von einem anderen Schüler eingegraben werden, der dann weggeht. Lebendig begraben bis kurz vorm Tod. Dann erscheint der Gärtner-Direktor, der alles angeordnet hat, tritt als Befreier auf. Das ist der Moment, wo er den Zögling gebrochen hat. Alles das bestätigen zahllose Augenzeugenberichte seit den 70-er Jahren. Nichts in dem Film ist übertrieben. Die Darsteller spielen durchweg echt, leisten Großes. Der Regisseur Marc Brummund hat sorgfältig gearbeitet. Sowohl beim Casting, als auch bei der Inszenierung der einzelnen Szenen, sie sind bis ins Kleinste durchkomponiert. Die Hauptperson macht eine fatale Entwicklung durch, zuerst wehrt sich Wolfgang noch, selbst bei starker Übermacht des Gegners, auch setzt er sich für andere ein, lange dauert es, bis man ihn bricht, und ganz scheint es nie zu gelingen. Die Bestrafungen, die in Freistatt üblich sind, erscheinen allesamt aus KZs transferiert, selbst das »Antreten«, die Lieder (Moorsoldaten), die Arbeit (Torfstechen), die Unterbringung (Pritschen). Die Strafen sind oft nah am Tod: Wassertauchen, Gesicht ins Moor drücken, auf die Hand treten, Hungern, Hängen lassen, das eigene Grab schaufeln. Die Todesnähe schafft die starke Angst. Die Erzieher sind Sadisten in unterschiedlichen Ausprägungen, auch das sehr fein justiert, nicht grobschlächtig, unter Hitler erzogene Jugend, alt geworden, sie leben das, was man ihnen beigebracht hat. Wolfgang verliert das Vertrauen in die Menschheit. Als er entlassen und zuhause vor die Tür gesetzt wird, flieht er, als er sein zweijähriges Geschwisterchen sieht, das ihm fremd ist, Mutter und Schwester kann er nicht einmal Guten Tag sagen. Stattdessen schnorrt er seine alten Freunde nach Geld an, schlägt einen aus nichtigem Anlass nieder, haut ab in irgendeinem Zug, in irgendeine Richtung. Weg, nur weg. Freiheit! Fürs Leben geschädigt. Abspann: 3000 solche Folterheime hat es in Westdeutschland und Westberlin gegeben, 800.000 Kinder und Jugendliche sind betroffen gewesen. Sie hätten ab 2010 Entschädigungen zugesprochen bekommen. Falsch: Sie müssen sie beantragen. Nur nach Ausfüllen eines seitenlangen Konvoluts, wo alles offengelegt werden muss. Viele scheuen sich, sich vor demselben Staat, der ihnen das alles angetan hat, noch einmal ausziehen zu müssen. Beschreiben, wie lange man süchtig war, welche Ausbildungen man nicht geschafft hat, wie oft man wegen Körperverletzung einsaß? Dann erklären müssen, dass alles dadurch kam, wo sie doch seit der frühesten Kindheit ihnen immer von »Anlage« sprachen? Bis man es schon selber glaubte? Viele ehemalige Heimkinder schaffen es nicht, die Entschädigungen zu beantragen, viel zu desolat sind oftmals ihre Lebensverhältnisse. Und dann: Was sollen diese Zahlungen nach so vielen Jahren noch wiedergutmachen können? Wichtig die Zahl: 800.000 Kinder! Und das sind nur und ausschließlich die Fürsorgezöglinge. Betreuer: ausgemusterte Soldaten, Gescheiterte, ehemalige Krankenpfleger, Totengräber und im Schnellverfahren ausgebildete »Erzieher«, die unter der Pädagogik Hitlers groß wurden, die da lautete: Sie werden nicht mehr frei werden, ihr ganzes Leben lang nicht. Fazit: Eine historische Ära zieht sich, auch nach deren Ende, immer noch 30 weitere Jahre lang hin; die unter dieser Ägide Aufgewachsenen haben die Gewalt, die Angst, die Vorbilder und Werte der sie einst Quälenden in ihr Unterbewusstsein übernommen und … geben sie weiter.
Erschienen in Ossietzky 15/2015 |
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