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Genau hier beginnt die Kontroverse: Für die transatlantischen Konzerne zählen soziale Absicherung, ökologische Standards, die Daseinsfürsorge und die Selbstverwaltung der Kommunen ebenso zu Handelshemmnissen wie demokratische Grundsätze – also wichtige Errungenschaften der Bevölkerung, die hart genug erkämpft werden mussten. Für die Gegner der geplanten Freihandelsverträge entsteht eine ambivalente Situation: Sie sollen »Errungenschaften« verteidigen, deren mangelhafte Ausgestaltung sie sonst heftig kritisieren. Denn was gibt es Verteidigenswertes an der real existierenden »marktkonformen« Demokratie? Wie steht es um ArbeitnehmerInnen-Rechte, ökologische Standards, wie um Gleichberechtigung oder um die Umsetzung der Menschenrechte in Deutschland und in der EU? Kann es noch schlimmer werden mit hegemonialen Ansprüchen von Großkonzernen und der neoliberalen Maxime, Menschen nach Nützlichkeit zu be- und verwerten, jenseits aller Menschenrechte? Ja, es kann. Pascal Kerneis, der als »Managing Director« vom European Services Forum 80 Prozent der in der EU angesiedelten Dienstleistungsexporteure und -investoren vertritt, bringt es bezüglich TTIP auf den Nenner: »Die Industrie wird sich jedem Abkommen widersetzen, in dem der Investorenschutz gegenüber öffentlichen Interessen, einschließlich der Arbeits- und Menschenrechte, das Nachsehen hat.« Anfang Juli hat sich eine große Koalition im Europaparlament mit einer 61-Prozent-Mehrheit für TTIP ausgesprochen – zur großen Freude der Großkonzerne und ihrer Lobby. Gleichzeitig positionieren sich immer mehr Kommunen und Landkreise gegen die Verträge; allein in Deutschland weit über 200. Die regierenden Politiker beidseits des Atlantiks werben aber weiterhin heftig und mit allen Tricks für die Verträge und für Vertrauen, nachdem die Geheimhaltungspolitik nicht mehr durchzuhalten war. Aber welchen Grund könnten BürgerInnen haben, darauf zu vertrauen, dass die Konzerne den Profit nicht über die Rechte der Menschen auf Gesundheit, gutes Auskommen, gerechte Verteilung und menschenwürdige Arbeitsbedingungen stellen? Dass die Politik zum Schutz der Bevölkerung und ihrer elementaren Bedürfnisse den grenzenlosen Machtmissbrauch von Goldman Sachs, Monsanto, Coca-Cola et cetera in die Schranken weist? Und dass Banken, Konzerne und Politik dem globalen Süden wenigstens faire Handelsbeziehungen anbieten, statt den Kolonialismus auf eine ganz neue, destruktive Basis zu stellen? Fast täglich finden sich Beispiele für die Berechtigung dieser Bedenken in Zeitungen und Nachrichten: Der Staat El Salvador widerruft die Lizenz für eine riesige Goldmine. Das Trinkwasser für 60 Prozent der Bevölkerung ist in Gefahr, wenn das Projekt verwirklicht wird. Der Rohstoffkonzern Pacific Rim klagt nun vor einem Schiedsgericht in Washington gegen El Salvador, denn er sieht seine Gewinne gefährdet. Dem Staat droht jetzt eine Strafe von über 300 Millionen US-Dollar (zu zahlen von der Bevölkerung) – und den Menschen und der Umwelt die Vergiftung. Die wahren Machtverhältnisse werden auch im Fall der kriminellen LuxLeaks-Affäre deutlich: Ein Sonderausschuss des Europaparlaments versucht Licht in die kriminellen Machenschaften zu bringen, die den größten Konzernen weitgehende Steuerfreiheit verschafft haben. Aber die Konzernvertreter weigern sich einfach – mit Unterstützung der Finanzminister –, vor den Parlamentariern zu erscheinen. Offensichtlich haben es Google, Amazon, Fiat-Chrysler, McDonald‘s oder Coca-Cola nicht nötig, auf die Beschuldigungen auch nur zu reagieren. Sieben Hilfswerke haben unter dem Titel »Grenzenlose Konzernmacht« Daten zur Welternährung zusammengestellt. Die TOP-10-Konzerne (darunter Monsanto, Dupont, Bayer, BASF) beherrschen danach zu 75 Prozent den Saatgutmarkt weltweit; bei den Pestiziden sind sie mit 95 Prozent dabei. Von der Entwicklung auf dem globalen Markt profitieren nur die Big Player. Auch hier bestimmen Konzerne und Regierungen der G7 die Spielregeln des globalen Ernährungssystems. Laut Ex-Bundesverfassungsrichter Siegfried Broß sind die besonders umstrittenen Investor-Staat-Schiedsgerichte ISDS, die in TTIP und CETA verankert werden sollen, verfassungswidrig. Sie sind privat, stehen außerhalb der verfassungsmäßigen Gewaltenteilung. Da verhandeln drei Juristen über Klagen von Konzernen, die ihre Profite gefährdet sehen. Die Juristen sind oft mit den Konzernen verbandelt; sie verhandeln geheim und gegen ihr Urteil gibt es keine Revisionsmöglichkeit. Sie werden immer wieder von Konzernen angerufen, aktuell klagt beispielsweise der Konzern Vattenfall gegen Deutschland wegen des Atomausstiegs, Philipp Morris gegen den Staat Uruguay wegen eines Gesetzes zum Gesundheitsschutz, der Energiekonzern Suez gegen Argentinien wegen Preiskontrollen oder der Konzern Veolia, der primär mit Wasser Geschäfte macht, gegen Ägypten wegen Erhöhung der Mindestlöhne. An der Möglichkeit der Klagen von Konzernen gegen Staaten wird auch eine Modifikation nichts ändern. Die Beispiele verdeutlichen, warum die Konzerne gegen Staaten klagen: Die Investitionen der Großkonzerne sollen »demokratiesicher« gemacht werden. Die Staaten sollen nicht mehr die Möglichkeit haben, die sozialen, ökologischen oder arbeitsrechtlichen Interessen der Menschen durch Gesetze zu schützen. Profit hat Vorrang vor Menschenrechten, Demokratie und staatlicher Souveränität. Geleakte Informationen zeigen, dass die Freihandelsverträge gar nicht vorgeben, mehr Demokratie, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit zu verwirklichen. Darum geht es bei TTIP & Co einfach nicht. Diese »Werte der westlichen Gemeinschaft« haben nichts mit der angestrebten Konzernmacht gemein, im Gegenteil. Über TTIP, CETA oder das Abkommen zum Handel mit Dienstleistungen (TiSA) wurde unter strikter Geheimhaltung verhandelt. Die Bevölkerung und ihre parlamentarischen VertreterInnen sollten gar keine oder nur geschönte Informationen bekommen. In den USA bemüht sich Präsident Obama, das Freihandelsabkommen am Kongress vorbei durchzudrücken. Die Europäische Bürgerinitiative »Stop TTIP« – EBIs sind Kernstück demokratischer Basisbeteiligung in den Lissabon-Verträgen – wurde aus formalen Gründen nicht zugelassen; dennoch haben bisher mehr als zwei Millionen EU-BürgerInnen die Initiative unterschrieben. Während aber die Bevölkerung und die Parlamente außen vor blieben, hatten Hunderte von Konzern-Lobbyisten Zugang und Einfluss auf die Ziele und Inhalte der Verhandlungen. Wirtschaft und Politik führten die Bevölkerung durch konzertierte Vertuschung und Falschinformationen in die Irre. All die schönen Versprechungen – Arbeitsplätze! Wachstum! Wohlstand für alle! – konnten von Attac und foodwatch (vgl. etwa Thilo Bode, »Die Freihandelslüge: Warum TTIP nur den Konzernen nützt – und uns allen schadet«) minutiös widerlegt werden. Bereits existierende Freihandelsabkommen verdeutlichen, was »hinten rauskommt«. NAFTA, der Vertrag zwischen den USA, Kanada und Mexiko, führte zur Vernichtung von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen und der Existenzgrundlage von Kleinbauern, zu zerstörten Städten und Sozialstrukturen (vgl. etwa arte: »Die Sklaven des Freihandels«). Mit ihrer Wirtschaftsmacht erpresst die EU afrikanische Länder, Verträge abzuschließen, die einseitig den Konzerninteressen in reichen Ländern dienen. Übrigens ist dies einer der wichtigsten Fluchtgründe der Menschen aus Afrika. Daseinsvorsorge? Kulturelle Vielfalt? Kommunale Selbstverwaltung? Gezielte Förderung sozialer und ökologischer Projekte bei der Vergabe öffentlicher Aufträge? Sie stehen bislang nicht auf der politischen Prioritätenliste. Im Gegenteil, wie wir von den Privatisierungen in den Bereichen Gesundheit, Bildung, Wasserversorgung gut wissen. Aber sollten die Verträge abgeschlossen werden, werden diese menschen- und systemrelevanten Strukturgrundsätze ganz der Vergangenheit angehören. Ein wichtiges, effizientes Mittel haben die wirtschaftlich-politischen Eliten in Gestalt der »Regulierungsräte« gefunden. Im Kern geht es bei der regulatorischen Kooperation darum, die Wirtschaftslobby bei allen handelsrelevanten gesetzgeberischen Maßnahmen im Vorfeld zu beteiligen – vor aller parlamentarischen Beratung. Waren bislang schon die Großkonzerne, Banken und Versicherungen quasi informelle Gesetzgeber, deren Vorlagen manchmal Wort für Wort in Gesetzesform gegossen wurden, soll diese Einflussnahme jetzt verbindlich gemacht und damit die parlamentarische Demokratie weiter ausgehöhlt werden. So wichtig die Ablehnung der Schiedsgerichte in ihrer verfassungswidrigen Bedeutung ist, sie reicht nicht, um dem demokratiewidrigen Charakter von TTIP, CETA und TiSA zu begegnen. Umso weniger, als Bundeswirtschaftsminister Gabriel und die EU-Kommissarin Malmström jetzt schon dabei sind, über formale Korrekturen den Kern von ISDS zu retten: Die Herrschaft der Konzerne über die Interessen der Bevölkerung. »We are a country which is rich and hysteric – please do not bring it to the newspapers!« (Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=BO__c_oxS58.) Dieser Satz von Vizekanzler Gabriel in der kleinen elitären Runde des Weltwirtschaftsforums zeigt die Verachtung, die Arroganz und die Doppelzüngigkeit von Politikern gegenüber der Bevölkerung. Vor allem aber sind die Vertragsentwürfe in ihrer Gesamtheit darauf ausgerichtet, alle demokratischen Prozesse und Entscheidungen, die die Profite gefährden könnten, für alle Zeit im Ansatz zu verhindern. Ja, für alle Zeit: Denn die Verträge sollen »living agreements« im Sinne einer permanenten regulatorischen Kooperation sein, das heißt, einmal getroffene Vereinbarungen sollen auch für zukünftige gelten. Mit tatkräftiger Hilfe der Politik sind die mächtigsten Konzerne und Banken dabei, ihren Einfluss auf alle politischen und gesellschaftlichen Bereiche auszudehnen. Ihr Anspruch und ihre Praxis sind totalitär, denn sie zielen auf Entdemokratisierung, auf Hegemonie in Wirtschaft und Gesellschaft und auf Durchsetzung neuer – neoliberaler – Werte. Nach Wikipedia bezeichnet Totalitarismus eine Form von diktatorischer Herrschaft, die »in alle sozialen Verhältnisse hinein zu wirken strebt, oft verbunden mit dem Anspruch, einen ›neuen Menschen‹ gemäß einer bestimmten Ideologie zu formen«. Das gilt heute besonders für die neoliberale Politik und den Herrschaftsanspruch der Konzerne. Demokratie und Menschenrechte sind für sie lästige Hemmnisse. Europaweit kämpfen Organisationen, Initiativen und Bündnisse gegen TTIP, CETA und TiSA. Unterstützung zahlreicher Aktionen ist möglich, zum Beispiel der Selbstorganisierten Europäischen Bürgerinitiative EBI, der Initiative Kommunen gegen TTIP & Co oder der Protestschreiben an VertreterInnen im europäischen oder nationalen Parlament. Und: Am 10. Oktober findet eine bundesweite Großdemonstration in Berlin statt. Ein breites Bündnis ruft auf: »TTIP & CETA stoppen! Für einen gerechten Welthandel!«
Erschienen in Ossietzky 15/2015 |
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